Читать книгу Der Liebesentzug - Pernille Rygg - Страница 5
ОглавлениеJetzt, an diesem letzten Sonntag im April, stehe ich hier auf der Treppe, vor dem Haus, in dem ich wohne, in dem wir wohnen, stehe hier mit meinem Schlüsselbund und soll die Tür aufschließen, die ebenfalls abgeschliffen werden muss, wie die Wände und die Fenster. Ich kann hinter der Tür den Hund auf dem Boden scharren hören, und ich höre auch sein leises Fiepen. Ich murmele beruhigend, während ich aufschließe, und dann begrüßen wir einander; der Hund überschwänglich, ich beherrscht. Ich stehe auf dem Hof und sehe ihn begeistert auf dem Grundstück herumtollen, die Abstecher, die er zwischen den Bäumen unternimmt, sind begrenzt, weil ich die ganze Zeit auf ihn einrede.
Wir wohnen jetzt seit sieben Monaten hier. Das ist nicht schlecht. Die meisten von uns scheuen anfangs vor Veränderungen wohl ein wenig zurück, aber nach und nach sehen wir das dann anders. Ragne kommt aus einem kleinen Ort, der noch einsamer ist, glaube ich, als dieser hier, und auch wenn sie natürlich nicht dorthin zurück will, ist es doch oft so, dass Leute, die ländlich und in der Natur aufgewachsen sind, auch als Erwachsene so wohnen möchten. Mehr als die, die ihr Leben in der Stadt verbracht haben. Das ist ja auch nicht weiter verwunderlich.
Es gibt nicht viel, was mir hier fehlt. Vielleicht die Cafés, und die Kinos. Meine Freundin Margrete ruft aus der Stadt an und fragt, ob mir das alles fehlt, und ich sage, ja, manchmal. Aber Margrete geht selber fast nie ins Kino, sagt sie, wenn sie sich das genauer überlegt. Hier im Ort gibt es auch Cafés und ein Kino, aber ich gehe nicht sehr oft hin, es ist wohl eher die Gewohnheit, sie in der Nähe zu haben, überlege ich mir. Ab und zu, wenn wir Samstagvormittag ins Café gehen, fühle ich mich ziemlich rastlos. Als ob ich keinen Sinn mehr darin finden könnte. Kaffee haben wir doch auch zu Hause. Trotzdem machen wir diesen Ausflug ziemlich regelmäßig, so wie wir auch alle paar Wochen im Hotel essen.
Ich bestelle in der Regel Kabeljau, Ragne nimmt ein Steak. Wir essen hier viel mehr Fisch als früher, aber wenn wir ausgehen, zieht Ragne doch Fleisch vor.
Wir halten Ausschau nach einem Boot, denn im Sommer wäre es schön eins zu haben.
Natürlich ist es hier auch einsam. Das liegt auf der Hand, wo das Haus doch so abgelegen ist und außerdem im Wald steht. Aber ich glaube, Ragne gefällt es so. Es ist ruhig, und es riecht so gut nach Bäumen und Moos. Obwohl wir noch nicht so lange hier wohnen, kann ich meinem Körper ansehen, dass er gesünder ist, ich merke es auch, wenn ich mit dem Hund spazieren gehe, ich bin kräftiger und kann länger laufen.
Wir reden hier weniger, glaube ich. Das ist mir recht. Mir gefällt es so. Wir gehen mehr und reden weniger.
Der regelmäßige Regen hat wieder eingesetzt, als ich mit Frigg in den Wald gehe. Er keucht, und sein heißer Atem wird zu dünnen Dampfstreifen, die sich vor seiner Schnauze auflösen. Er schaut mich mit seinem braunen Hundeblick an, erwartungsvoll und aufgeregt.
Eigentlich verachte ich diesen Hund, ihren Hund. Ich mache mit ihm Spaziergänge, ich füttere ihn, es kommt sogar nicht selten vor, dass ich meine Finger durch sein Fell gleiten lasse, um den Eindruck zu erwecken, dass ich ihn streichele. Die ganze Zeit aber verachte ich ihn.
Ich habe dazu natürlich überhaupt kein Recht, er ist offenbar ein außergewöhnlich schönes Exemplar seiner Rasse. Er hat auf Ausstellungen, bei denen wie bei Misswahlen nicht nur Aussehen, sondern auch Intelligenz und Bildung prämiert werden, mehrere Preise gewonnen.
An dem Hund ist nichts auszusetzen, den Prämien zufolge besitzt er einen hohen Hunde-IQ und vermutlich einen vergleichbar hohen Hunde-EQ, denn mir gegenüber verhält er sich immer beispielhaft. Ragne ist ziemlich stolz darauf, glaube ich. Er hat sich ungewöhnlich gut angepasst, sagt sie. Ich habe begriffen, dass das zu den Dingen gehört, die mehr über die Besitzerin aussagen als über den Hund.
Darauf weist sie mich jetzt nicht mehr so häufig hin, und wenn sie ein seltenes Mal Komplimente für den selten hohen Grad der Anpassung des Hundes an mich kassiert, dann geschieht das ziemlich scherzhaft. Trotzdem weiß ich, dass dieses Thema für sie von großer Bedeutung ist, denn in anderen Zusammenhängen, wenn sie zum Beispiel fremde Hunde ansieht, wiederholt sie das mit der Verantwortung der Besitzerin mit fast schockierender Heftigkeit. Manchmal kann ich sie in solchen Momenten nicht ansehen. In der Wut, die sie über Menschen mit unerzogenen Hunden äußert, liegt eine Leidenschaft, die mich erschüttert. Ihre Gewaltsamkeit erschüttert mich. Diese fast unkontrollierte Gewaltsamkeit.
Sie liebt den Hund. Ein Tier. Sie liebt ihn aufrichtig und intensiv, und ich habe gelernt, mit dieser unbestreitbaren Tatsache umzugehen. Es wäre vermutlich nicht gerade schwer, dafür eine Erklärung zu finden, aber dieses Vergehen wäre mir doch unangenehm. Es erinnert mich an Nikolas’ Untersuchung von Bücherregalen; Nacktheit, entlarvt durch ein Buch, einen Hund. Ich kann mir natürlich eine Erklärung aus den Fingern saugen, habe es auch schon getan, und vielleicht hört sie sich glaubwürdig und sogar umfassend an, aber dadurch wird die Sache nicht weniger geschmacklos.
Es hat etwas mit Mängeln zu tun. Mit ihrer Kindheit.
Es ist vorgekommen, dass sie mich gerührt haben. Wenn ich sie in ihrem Lieblingssessel gesehen habe – ihrem und des Hundes –, ihr Nacken sich über die erhobene Schnauze des Hundes beugte und es vielleicht Abend war und ihre Wangen gerötet waren, weil wir Wein getrunken und im Kamin ein Feuer gemacht hatten, wenn ich dann den Atem des Hundes und ihre kleinen Geräusche hörte, ihre Worte, ihr Zungenschnalzen, dann war ich manchmal bezaubert von ihnen. Zumindest von ihr. Ich habe daran gedacht, dass sie so leben sollte, mit dieser Ruhe, diesen Atemzügen und dieser gleichmäßigen, fast leidenschaftslosen Wärme.
Sie sagt, dass sie das tut. Dass ich es ihr ermögliche.
Das gehört zu den Dingen, die mich empören. Nicht, dass sie es sagt, sondern, dass sie es so empfindet. Ich finde es nicht richtig. Es wäre mir lieber, sie hätte gelogen, als sie das gesagt hat, aber das glaube ich nicht. Ich glaube, sie meint es so, und das ist entsetzlich. Zwei lebende Wesen liebt sie, mich und den Hund, und ich wünschte, dieses Wissen bliebe mir erspart.
Seit wir hergezogen sind, habe ich die meisten Ehefrauenaufgaben übernommen, vor allem, weil ich keine so festen Arbeitszeiten habe wie sie. Ihr gefällt das. Zum gedeckten Tisch nach Hause zu kommen, zum frisch geputzten Boden. Ich bin ungewöhnlich häuslich geworden, fast schon pedantisch. Ich koche richtige Mahlzeiten, kaufe für das Wochenende Wein, zünde Kerzen an. Solche Dinge übernehme ich. Paardinge.
Viele meiner Habseligkeiten liegen noch in meiner Wohnung in der Stadt, es lohnt sich offenbar, möbliert zu vermieten, deshalb gehört fast alles hier im Haus ihr, und ich behandele es mit Respekt, auch wenn nichts von Wert ist, für sie hat es nicht einmal sentimentalen Wert. Wenn ich frage, wo sie irgendeinen Gegenstand gekauft hat, hat sie das in der Regel vergessen.
Einen Kerzenleuchter hat sie auf einem Flohmarkt erstanden, das weiß sie noch, und sie lacht laut darüber.
Über ihren Hund sagt sie, er sei glücklich, wenn er seinen Platz in der Hierarchie kennt, auch wenn dieser Platz ganz unten ist. Ragne ist oben, dann komme ich, dann er. Wenn er versucht aus diesem System auszubrechen, muss dieser Versuch niedergeschlagen werden, freundlich und bestimmt, und im Notfall nicht einmal freundlich, im Notfall brutal.
Es ist möglich, dass ich ihn deshalb verachte, auch wenn ich das nicht glaube. Ich glaube, ich verachte ihn, weil er meine Heuchelei akzeptiert, weil er mir Achtung erweist, obwohl ich ihn verachte.
Ich verhalte mich ihm gegenüber kindisch. »Ach, wie hässlich du bist«, sage ich mit liebevoller Stimme, und er wedelt begeistert mit dem Schwanz. Ragne lacht.
Sie ist sehr energisch, wenn sie ihn zurechtweist, ich sehe ihr dann voller Interesse zu, wenn sie ihm gegenüber die Stimme hebt oder ihn mit großer Kraft auf den Boden drückt. Der Hund wimmert und hat Angst vor ihr. Schon bald darauf kann sie ihn umarmen, ihn hochheben, sich von ihm das Gesicht lecken lassen. So soll es sein. Er ist glücklich. Er kann nicht anders als ab und zu die Grenzen des Systems herauszufordern, und immer muss auf diese Herausforderung sofort reagiert werden. Es kommt nicht oft vor, aber Ragne staucht ihn jedes Mal zusammen, verbal oder physisch. Sie ist schnell und hart, reagiert sozusagen automatisch, glaube ich. Sie weiß mit hundertprozentiger Sicherheit, was nötig ist, um den Hund glücklich zu machen.
Das ist er. Das ist offenbar seinem Fell anzusehen, denn es ist dick und glänzt. Er kennt keine Verwirrung. Er schläft zu ihren Füßen, wenn sie in der Wärme des Ofens vor dem Fernseher sitzt. Sie kann den Hund atmen hören, sie hört meine Geräusche aus der Küche.
Ich glaube, sie fühlt sich hier geborgen. Sie schläft nachts gut, das tun wir beide. Ich kann mich nicht mehr an meine Träume erinnern. Ragne weiß ihre meistens noch, und es kommt vor, dass sie mir die Handlung erzählt, auf trockene, sachliche Weise, auch wenn die Träume bisweilen äußerst brutal wirken. Ich versuche nicht, durch ihre Träume mehr über sie herauszufinden, und sie deutet auch nicht an, dass das möglich oder interessant sein könnte. Ich durchsuche ihr Bücherregal nicht nach versteckten Spuren, und ihre Träume auch nicht. Wir setzen nicht voraus, dass die Nächte die Zerrbilder der Tage sind, Kammern für Entdeckungen von umwälzender Wirkung. Die Brutalität von Ragnes Träumen wird in der Ruhe aufgelöst, die sich morgens findet, in ihrer trockenen Nacherzählung. Dazu ist keinerlei Engagement vonnöten.
Ich weiß eigentlich nicht, was sie von mir will. Vielleicht soll ich einfach hier sein. Ziemlich sicher würde sie mich vermissen, wenn ich eines Tages nicht mehr hier wäre, aber sie würde nicht sterben oder auf irgendeine dramatische Weise verfallen, wenn ich verschwände. So ist das nicht.
Wenn ich nicht hier wäre, hätte sie den Hund und ihre Arbeit, und nach einiger Zeit würde sie eine andere finden, eine dunkelhaarige oder blonde Frau mit eigener Wohnung, mit einer Hütte, die sie am Wochenende mit dem Hund besuchen könnten, oder vielleicht einem Segelboot. Sie hätten eine gute Beziehung, würden nebeneinander durch den Wald gehen, wenn der Weg breit genug wäre, oder hintereinander, der Hund vorneweg, dann Ragne mit der Leine und zum Schluss die Dunkelhaarige oder Blonde mit der Thermoskanne im Rucksack.
Ragne würde mich ihr gegenüber erwähnen. Es ging nicht, würde sie sagen, es hat ein Jahr gedauert, oder zwei oder fünf, und dann ging es nicht mehr. Und der Dunkelhaarigen oder Blonden käme das bekannt vor, und auch sie hätte eine gehabt, die einmal da war und dann gegangen ist, oder die sie gebeten hat, zu gehen, obwohl eigentlich, würde sie sagen, wir ja beide wussten, dass es nicht ging.
Wir würden ab und zu telefonieren, und das wäre seltsam, aber nicht so seltsam, nicht unüberwindlich seltsam. Vielleicht würde Ragne einmal weinen, wenn sie und die Dunkelhaarige oder Blonde zu viel Wein getrunken hätten und es sich dann einfach so ergäbe. Aber vermutlich nicht. Sie hat nie geweint, wenn sie mir von ihren Exis erzählt hat. So nennt sie die, Exis.
Sie hatte viel mehr Beziehungen als ich, und ehrlich gesagt gehört es zu den Dingen, die mir an ihr wirklich gefallen, dass sie darauf stolz ist. Dass sie mehr Erfahrung hat als ich, wie sie sagt. Sie ist wohl ähnlich wie dann, wenn sie sich über den Hund beugt, ihr ein wenig triumphierendes Lächeln, mit dem sie auf ihre überlegene Erfahrung pocht, hat etwas Bezauberndes.
Sie mag hübsche Mädchen. In ihrem Fotoalbum hat sie Bilder ihrer meisten Exis, neben den Bildern des Hundes, ihrer selbst mit dem Hund, ihrer selbst und dem Hund und der letzten Exi, die nicht von langer Dauer war.
Sie sind hübsch. Dunkelhaarig oder blond, mit netten, ziemlich modernen Kleidern, niemals auf irgendeine Weise exaltiert. Sie sehen sympathisch aus. Es gibt jetzt auch Bilder von mir, im Wald mit dem Hund, hinter einer Tasse Kaffee in einem Straßencafé, wo ich mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne schaue, auf einem Felsen, den Arm um sie gelegt. Es scheint ein schöner Tag zu sein, über uns ein hoher Herbsthimmel, wir tragen Pullover und Turnschuhe.
Auch ihr Vater ist in der Albensammlung vertreten, natürlich. In einem kleinen dünnen mit schwarzen Seiten, von denen mehrere leer sind, es ist das einzige Album, abgesehen von dem, mit den Bildern von mir, das sie noch nicht vollgeklebt hat. Es gehört in eine Zeit, als Kamera und Film noch vorsichtig behandelt wurden, die Anzahl der Fotos ist bescheiden, so wie auch ihre Größe, sie sind so winzig, diese Schwarzweißbilder, die Menschen darauf sind bloße Andeutungen. Ihre Kleider, das Haus, vor dem sie stehen, das Auto, an das sie sich steif und abwartend anlehnen, das alles ist viel deutlicher zu sehen als ihre Gesichter.
Auf einem Bild hält Ivar einen Rechen in der Hand, er hat sich die Hemdsärmel hochgekrempelt, Ragnes Mutter steht ein Stück hinter ihm, die Kamera hat sie eingefangen, als sie gerade die Augen zukneift. Sie scheint im Stehen zu schlafen, der Schlaf einer Halbdebilen.
Aber es gibt auch ein Studioporträt von ihm, eine gedämpfte, retuschierte Nahaufnahme eines Neunzehnjährigen mit feucht gekämmter und vielleicht doch ein wenig kühner Frisur. Er hat Ragnes stumpfe Nase, oder sie seine, und außerdem den gleichen Mund mit der etwas schweren Unterlippe, die seinem Gesicht sogar dann etwas Schmollendes gibt, wenn er lächelt. Ein steifes Studiolächeln. Aber mit Augen, die direkt in die Kamera schauen. Die sie vielleicht herausfordern. Er hat noch keine Tochter, dieser junge Mann.
Sie findet, dass ich meinen Namen in meine Bücher im Regal schreiben soll. Sie hat das mit ihren gemacht, also kann es ohnehin keine Verwechslungen geben, aber trotzdem. Das ist praktisch. Wenn kein Name in den Büchern steht, vergessen die anderen, sie zurückzugeben, wenn sie sie ausgeliehen haben, sagt sie. Sie hat damit bittere Erfahrungen gemacht. Eine Exi hat noch immer zwei Bücher von ihr. Die Titel weiß sie genau.