Читать книгу Der Liebesentzug - Pernille Rygg - Страница 8
ОглавлениеMit solchen Spaziergängen habe ich nicht aufgehört, jetzt mache ich sie mit dem Hund. Und mit Ragne. An jedem einzelnen Tag komme ich Dr. Neshagens Rat nach, auch wenn er wohl nicht mehr als mein Arzt gelten kann, auch wenn ich überhaupt keinen Arzt mehr brauche, vielleicht wegen der Waldspaziergänge.
Ich habe meine dünnen Hefte weggelegt und bin fertig mit meinen Vorbereitungen für morgen. Der Hund spitzt die Ohren, steht auf und stellt sich vor die Tür. Sein Schwanz peitscht durch die Luft. Sein Körper zuckt ein wenig. Er wartet. Sehr wohlerzogen wartet er bei der Tür. Jetzt kann ich auch den Automotor hören, der freundlich zwischen den Bäumen der Pflanzung brummt. Ragne kommt von der Arbeit. Der Hund wartet auf sie.
Ihre Gewicht ist ganz und gar immateriell, rein körperlich ist sie geschmeidig, ziemlich schnell und sicher fünf Kilo leichter als ich. Aber jetzt, wie eigentlich immer, wenn sie nach Hause kommt, ist ihr Gewicht spürbar. In der Unterlippe, in ihren leicht hängenden Schultern, in ihren Händen, die ziemlich groß sind und bisweilen wie tot an ihrem Körper nach unten hängen. Es sind weiche Hände. Im Laufe ihres Dienstes im Pflegeheim hat sie sie mehrmals sorgfältig eingecremt, doch trotzdem hängen sie schwer wie zwei Bleigewichte an ihr herunter.
Sie zieht ihren Mantel aus, fährt dem Hund durch das Fell, lächelt mich an. Ihr Gewicht ist jetzt weniger spürbar, wenn sie lächelt, obwohl es noch immer vorhanden ist. Selbst ihr Lachen weist nicht selten einen Rest davon auf, es sei denn, sie lacht ihr glückliches Lachen.
Sie hat einen seltsamen Sinn für Humor, manchmal ist sie ziemlich boshaft, schadenfroh. Sie stellt mir kleine Fallen, sagt eine lange ersehnte Verabredung ab und sieht, wie ich in mich zusammensinke, verwirrt und enttäuscht, entschlossen, meine Enttäuschung zu verbergen, um sie nicht zu verletzen. Wenn sie mich von meiner Enttäuschung befreit und ich peinlich berührt vor ihr stehe, weil ich schon wieder in die Falle getappt bin, lacht sie herzhaft.
»Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen«, sagt sie dann. »Du solltest es jetzt sehen!«
Was sie sieht, nehme ich an, ist, dass ich preisgegeben bin. Dass ich auf sie zähle. In meiner Verwirrung und meiner Enttäuschung glaube ich, sie zu brauchen. Das gefällt ihr. Sie zaust mir die Haare, wie sie dem Hund das Fell zaust, und sagt, ich sei niedlich, wenn ich verwirrt bin. Vermutlich hat sie Recht.
Es kommt auch vor, dass ich wütend werde. Aber dazu gibt es nie einen Grund. Mein kurzes Aufflackern von Zorn steigert nur meine Verwirrung und stürzt mich in Verlegenheit. Auf diese Weise kann sie meine Angst vor dem Verlust meiner Würde bloßstellen. Was ja richtig ist. Solche Ängste müssen in regelmäßigen Abständen bloßgestellt werden.
Ab und zu scheint ihr Gewicht sie zu verlassen, wenn ich in die Falle getappt, wenn ich wütend, verwirrt und zur Stotternden geworden bin. Ab und zu kann sie darüber schallend lachen, tief aus dem Bauch heraus, befreit und schwerelos sein, und ich wünsche mir das doch so sehr, ich sehe sie so gern befreit, und trotzdem habe ich manchmal Schwierigkeiten damit, sie in solchen Momenten anzusehen. Nicht wegen meiner verlorenen Würde, das muss ja so sein – wer liebt mit Würde, wer erwacht mit Würde aus einem Albtraum und muss in den Arm genommen werden? –, das ist etwas anderes. Das ich nicht richtig erfassen kann. Dass sie gerade in dieser ersehnten Schwerelosigkeit plötzlich etwas Abstoßendes haben kann. Darüber staune ich.
Doch jetzt lacht sie ausgelassen über den Hund, lässt sich von ihm das Gesicht lecken, hysterisch vor Hundefreude, und es ist überhaupt kein Problem, weiter meinen Blick auf sie zu richten. Ich lasse mich im Sessel zurücksinken und betrachte ihr Gesicht, während die Schwere von ihr abgleitet, von ihren dunklen Haaren, dem offenen Mund, dem Kinn und dem Hals, der lang und nach vorn gestreckt ist, entblößt. Sie ist befreit. Für einige Augenblicke aus allem herausgehoben, nicht durch mich, eigentlich auch nicht durch den Hund oder durch den Nieselregen, der ihre Haare im Rücken gekräuselt hat, und auch nicht durch die Wärme des Ofens, sondern eher durch all das, von dem sie befreit ist. Wozu natürlich auch sie selber gehört.
Wir decken den Tisch. Wir essen. Ihr Gewicht streift uns, nicht überwältigend, sondern ziemlich behutsam. Es wohnt hier, es wohnt auch in ihr und ist dazu berechtigt.
Wir schauen uns einen Film im Fernsehen an. Der Hund liegt auf seinem Platz, hat den Kopf auf die Vorderpfoten gestützt, und wenn ich mich konzentriere, kann ich seinen Atem hören, langsam, fast wie ein Seufzen.
Dann kann ich sehen, wie das Gewicht sie verlässt. Ich sehe es voll Bewunderung, sehe sie so, wie ich sie sehen sollte, liebevoll eben, ich sitze bewegungslos auf meinem Stuhl und sehe mich daran satt. Und bin zugleich unersättlich. Ich will so gern noch mehr. Ich will, dass diese Befreiung von Dauer ist. Denn ich, die hier nur eine Zeugin ist, eine dankbare und fast atemlose Zeugin zwar, aber dennoch eine Zeugin, dennoch eine Außenstehende, ich weiß doch von diesem anderen, das erst vor wenigen Minuten hier war.
Das hier war, als Ragne gleichgültig in der Zeitung geblättert hat, als sie den Kopf schüttelte, nachdem ich einen anderen Film empfohlen und gesagt hatte, der habe sehr gute Kritiken bekommen. War hier, als Ragne zu mir hochschaute, war in ihrem seltsam harten Tonfall, als sie antwortete. In ihrem Gewicht. Irgendwo gab es ein gewaltiges Gewicht, angesichts dieser belanglosen Entscheidung.
»Das ist doch nur deren Meinung«, sagte sie. »Der braucht nicht gut zu sein, nur weil ein paar Kritiker das behauptet haben.«
Nein. Natürlich nicht. Aber dieses Gewicht hier, als definiere sie eine Grenze, zwischen mir und den Kritikern, markiere ihre Unabhängigkeit in einem dermaßen seltsamen Punkt, in einem Zusammenhang, der mir als vollkommen unwesentlich erschien, war fast vom Gewicht ihres Charakters geprägt, dieser unabhängige Standpunkt. Auf diese Weise bereitete sie sich scheinbar darauf vor, sich Widerspruch zu stellen, vielleicht einer Herausforderung.
Aber ich breitete die Arme aus, gleichgültig oder resigniert. Und sie lächelte, sie streichelte meinen Nacken.
»Verzeihung«, sagte sie.
»Das macht nichts.«
Das Gewicht war die ganze Zeit da. Es verflog, während amerikanische Jugendliche im College pubertäre Witze über Pickel rissen. Ich fand den Film geradezu provozierend idiotisch und weiß, dass ich in meinem Sessel hin und her rutschte, dass ich vielleicht seufzte, ehe ich mich dieser seltsamen Distanz zwischen uns stellte und mich endlich zu ihr umdrehte und sah, dass sie weit fort war, erhoben, ich sah ihr hingerissenes Profil und erkannte ihre Schwerelosigkeit, ihre Befreiung.
Es ist nicht so, dass ich es seltsam fände, sie vor einem Bildschirm zu sehen, der mit anmaßenden Amerikanern gefüllt ist, es ist nicht der Mangel an Eleganz dieses Bildes, der mich mit Verwunderung erfüllt, das Verwunderliche ist einzig und allein, dass ich es überhaupt sehe. Dass es auftaucht und so lange dauert, dass ich es stumm betrachte und sehe, wie das Gewicht sich auflöst, als habe es niemals existiert. Dass ich sehen kann, dass Ragne es vergessen hat, dass ich ganz genau weiß, dass sie es vergessen hat, dass sie die Veränderung nicht einmal registriert, weil jede Erinnerung daran, dass es jemals anders gewesen ist, für sie verflogen ist. Das kann ich sehen.
Sie spürt meinen Blick und dreht sich um, für einen winzigen Moment verwirrt, und fragt sich, ob sie bei irgendetwas ertappt worden ist, ob ich sie gewissermaßen entblößt gesehen habe, aber sie braucht nur ein Nicken, die Andeutung eines Nickens, dann fühlt sie sich wieder sicher. Ich darf noch weiter bewundern, bis Ragne meinen Oberschenkel antippt, als Zeichen dafür, dass sie meine Hand will, vielleicht läuft gerade eine langweilige Szene ab und sie will meine Hand, oder möglicherweise einen Kuss. Auch jetzt ist sie noch nicht wieder schwer, das nicht, aber sie ist nicht schwerelos.
Egal, wie schnell die Befreiung verfliegt und welche Ursache sie hat, ich bin dankbar dafür. Ich nehme keine Bewertungen ihrer Ursache mehr vor. Die spielt keine Rolle. Dass sie vorkommt, ist ein Segen. Der Hund, ein überaus törichter Film, was immer für einen Moment Befreiung bringt, ist ganz und gar gleichgültig.