Читать книгу Der Liebesentzug - Pernille Rygg - Страница 6

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Es riecht ein wenig nach feuchtem Hund, als ich ein spätes Abendessen koche, ich habe ein Feuer im Ofen gemacht, und bald werde ich nur noch den Geruch von Holz, Rauch und Asche wahrnehmen, der Hund wird im Halbkreis aus Wärme auf dem Boden schlafen, während sein Fell trocknet. Ich schneide Zwiebeln und Kürbis in Scheiben, Paprika in lange Streifen. Ich arbeite ziemlich langsam, ich habe Zeit genug, denn Ragne hat Spätschicht.

Aus der Stadt wird angerufen, sie sind besorgt. Sie sind besorgt und machen vorsichtig darauf aufmerksam. Mutters Stimme klingt heiser und hektisch, sie wirft die Wörter durcheinander und beendet ihre Sätze nicht. Irgendwo hinter ihr im Wohnzimmer steht Vater, ich kann ihn ab und zu etwas murmeln hören, was sagt sie, fragt er, wie geht es?

Mutter versucht diskret zu sein, aber sie hat ganz offenbar mit meiner Schwester Ylva über mich diskutiert, und ich ahne schon, dass sie im Laufe dieser Diskussion zu einer gemeinsamen Überzeugung gelangt sind, aber sie haben nicht vor, die mit mir zu teilen.

»Das musst du selbst entscheiden«, sagt Mutter, und das ist so ungefähr der einzige vollständige Satz, den sie hier abliefern kann.

Margrete ist nicht ganz so diskret, wenn sie anruft. Sie verweist dann auf eine Art ungeschriebenes Gesetz für Freundschaften, wo einer der mutmaßlichen Paragrafen sich auf die Pflicht bezieht, ein feedback zu geben.

»Dafür sind wir doch da«, sagt sie. »Als Korrektiv.«

Ich höre mir ihre Korrektive höflich an und finde mich in Margretes Sorge ziemlich korrekt nacherzählt und frage mich, ob sie, aus Gründen, aus denen ich hier bin zum Beispiel, geheimnisvolle Muster hervortreten sieht, sieht, wie mein Versagen und meine Niederlagen meinen neuen Alltag prägen und ihm eine düstere Bedeutung geben. Auch ich mache mir Sorgen, wenn ich auf diese Weise mit Margretes Sozialberaterinnenstimme nacherzählt werde.

Ich segele, denke ich, ich lasse mich von Wind und Wetter treiben und andere für mich handeln, ich ergreife weder den Tag noch die Stunde noch eine helfende Hand. Solche Ausdrucksweisen entlehne ich bei Margrete, als eine Art Sozialarbeiterinnenpoesie. Dieser Gedanke hat fast etwas Anheimelndes, auch wenn es nicht meine Ausdrucksweise ist. Es ist nichts Neues, keine heftige Entdeckung.

Und es stimmt ja auch wohl nicht ganz. Dass ich hier bin, ist zumindest meine eigene Entscheidung. Mit Margretes sanfter Stimme oder Mutters unvollständigen Sätzen konfrontiert, werde ich von ihnen angesteckt, und wenn ich allein bin, hängt noch ein Rest ihrer Unruhe in mir, hat sich in meinem Körper niedergelassen und wird in eine Art kindischen Trotz verwandelt. Das weiß ich, ich weiß, dass der Trotz mit ihrer Besorgnis zusammenhängt, und dass auch er nach einiger Zeit verfliegen wird, nach einigen Minuten schnellen Laufens oder einer Tasse Kaffee, wie das auch mit der Unruhe der Fall ist.

Ich hätte ihnen vorhalten können, dass in ihrer Unruhe etwas Ungerechtes liegt, dass ich durchaus versuchen kann, ihren Ratschlägen zu folgen, Silje abzuhaken, weiterzugehen, dass ich hier bin, weil ich den Vorschriften für das erwachsene Leben folge. Das könnte ich tun. Ich könnte widersprechen. Aber ich tue es nicht. Der bloße Gedanke daran macht mich schon müde. Und ich versuche allem auszuweichen, was mich müde macht. Er könnte sich fast als Projekt bezeichnen lassen, dieser Versuch, nicht müde zu werden.

Deshalb überhöre ich die Besorgnis, wenn sie als kleiner Wink abgeliefert wird. Wird sie ausgesprochen, beruhige ich. Auf diese Weise kann ich es verhindern, müde zu werden, indem ich die Worte nicht umdrehe und der Unruhe nicht antworte, die sich vor allem in der Stimme manifestiert, im Klang. Ich versuche, nicht zu deuten. Das geht ziemlich gut.

Es ist mir lieber so. Deshalb kann ich auch die Vertretungsstunden übernehmen. Weil sie in den ersten Schuljahren stattfinden und keinerlei Deutung verlangen. An irgendeiner Stelle liegt natürlich auch der Stoff, den ich diesen kleinen Schulkindern beibringen soll, das Ergebnis einer menschlichen und veränderlichen Entscheidung, wie die Welt zu deuten ist, aber das brauche ich ihnen nicht zu erzählen. Es bedeutet einen Ozean an Unterschied. Das hatte ich nicht erwartet, aber so ist es.

Ich kann sie verlassen und von nichts anderem müde sein als dem Lärmpegel und ihrer ganz natürlichen Konzentrationsunfähigkeit. Es ist kaum schlimmer, als mich nach einem Spaziergang mit dem Hund müde zu fühlen. Das macht mir nicht viel aus.

Sie sind kleine kompakte Geschichtspakete, diese Kinder, aber sie deuten sich nicht, jedenfalls nicht bewusst, und darauf kommt es an. Was mich müde macht, sind die Deutungen. Auch Ragne ist natürlich so ein kompaktes Paket. Aber auch sie deutet nicht. Ragne braucht das nicht, denn sie weiß: Die Kinder können es nicht, weil sie nichts darüber wissen. Egal, was die Ursache sein mag, für mich ist es eine Befreiung.

Ich bin dreißig und müsste eigentlich am Gymnasium Geschichte unterrichten. Aber die Fahrt in die Innenstadt ist zu weit, um sie jeden Tag zurückzulegen. Das ist jedenfalls die offizielle Begründung dafür, dass ich hier im Ort an der Grundschule Vertretungen übernehme, es ist der Grund, den ich Mutter und Margrete gegenüber anführe. Und Ragne gegenüber übrigens auch.

In Wirklichkeit genieße ich diese Arbeit. Ich ertrage es nicht nur, ich genieße es, nach einem Schultag so müde zu sein, wie sich das gehört, auch wenn es nicht dieselbe behagliche Erschöpfung ist, die die Waldspaziergänge mir bringen, sondern mich im Gegenteil ab und zu nervös und ein wenig jähzornig macht.

Manchmal komme ich damit zu Ragne nach Hause, mit dieser Müdigkeit, die vielleicht Ähnlichkeit mit einem vagen Kopfschmerz hat, und ich bin kurz und schroff, wenn ich mit ihr spreche oder wenn sie mich anspricht.

»Was ist los?«, fragt sie dann endlich.

»Gar nichts«, sage ich.

Und das stimmt ja auch. Es stimmt jedenfalls mehr als viele andere mögliche Antworten. Wenn ich ein seltenes Mal diese Vagheit mit mir nach Hause nehme, kann ich sie am Herd auflösen – mit meinen kleinen Plastikschüsseln und der pflegeleichten Teflonpfanne – oder zwischen den Bäumen, mit Frigg an der Leine. Sie ist nicht von Dauer und lässt sich durchlöchern, in der Regel schon im Lehrerzimmer, vor Ende des Schultages. Allen anderen geht es ähnlich, sie haben Wolle im Kopf und vielleicht einen Hauch von Mundgeruch, sie haben feuchtkalte, kreidefleckige Hände wie ich und sind resigniert, wie ich es bin, weil die Kinder ihre Hausaufgaben nicht machen und uns immer wieder Einblick in ihr seltsames Familienleben gewähren.

»Ich fass es nicht«, kann zum Beispiel Berit kurz vor Feierabend sagen. »Ich habe sie mindestens fünfmal darum gebeten, darauf zu achten, dass er seine Aufgaben macht, aber sie vergessen es einfach. Und die wollen seine Eltern sein!«

Kreideflecken an den Händen. Nachmittägliche Blässe auf den Wangen. Allgemeine Zustimmung für Berits Resignation. Ich atme insgeheim tief durch, genieße die schlechte Luft und den Hauch von Mundgeruch. Sie befriedigen mich, die Resignation und die garantiert kurzlebige Erschöpfung. Sie geben mir die Möglichkeit zu empfinden wie die anderen. Diese Resignation, diese Erschöpfung sind befriedigend, denn sie gehören uns allen, sind gewissermaßen von der Vollversammlung beschlossen worden; sie sind unkompliziert, weil ihre Ursachen bekannt sind und kein Erstaunen und keine Überlegungen verursachen. Deshalb habe ich sie fast immer schon abgeschüttelt, wenn ich nach Hause komme. Sie gehören ganz selbstverständlich dazu. Sie erklären sich selbst und beweisen meine Zugehörigkeit zum Kollektiv des Lehrkörpers.

Mit meinen Studienfächern bin ich überqualifiziert, und das kommt selten vor, deshalb ist es für mich kein Problem, genug Stunden zu bekommen, um Miete und Studiendarlehen zu bezahlen. Es ist eine Befreiung, mein Fach nicht anwenden zu müssen. Ich sehe es als Befreiung an, trotz der heruntergekommenen Schulzimmer, der Disziplinprobleme – und obwohl ich mich den Kindern gegenüber seltsam fremd fühle.

Wenn ich will, kann ich es empörend finden, dass der Umgang mit kleinen Kindern mir eine solche Ruhe bringt. Es kann durchaus etwas Jämmerliches darin liegen. Aber ich habe eine solche Toleranz für Jämmerlichkeit entwickelt, dass sie nicht zu den Dingen gehört, die mich sonderlich aufregen.

Behutsam stelle ich meine beiden Töpfe auf den Herd; der eine enthält Reis, der andere Gemüse in Tomatensoße. Es duftet wunderbar, das Haus ist warm und sauber, und der Hund schläft im Wohnzimmer. Ehe Ragne kommt, kann ich mich auf die Stunden morgen vorbereiten; ich lege einige dünne Hefte vor mir auf den Tisch, Mathematik für die dritte Klasse, Norwegisch für die vierte.

Ich genieße mein Dasein in dieser länglichen, gelb angestrichenen und überaus durchschnittlichen Grundschule, ich gleite zufrieden in die vorgeschriebene Pädagogik hinein, die hier praktiziert wird, ich akzeptiere sie bedingungslos und fast vollständig, obwohl ich sie nicht kenne, sondern Zugang zu ihr finde, in Form von guten Ratschlägen meiner Kollegen und vor allem durch die überaus konkreten und erheiternden Bausteine des Pensums. Alles hier ist klar und bunt wie Bauklötzchen, es gibt Kühe und Fische und den Wert der Freundschaft zwischen Lesebuchkindern mit kurzen, bündigen Namen wie Siv und Ali; das alles sind Buntstifte, Buntstifte und Bauklötzchen.

Natürlich ist das eine Illusion. Zwischen den Bauklötzchen spielen sich Dramen ab, sie treten an die Oberfläche; es gibt plötzlich aufflammende Streitereien, tiefe Unruhe in den Kindergesichtern und auch etwas, das Ähnlichkeit mit Bosheit hat, geplant und raffiniert. Aber alles ist so offensichtlich, es geht um einen Platz in der Herde, um die Verteidigung des Reviers, um Raum zum Atmen, um Bewegung, um Ruhe. Es geht um Arrangements.

Und deshalb lässt sich die Illusion aufrechterhalten. Sie setzt voraus, dass ich mit den Dramen umgehen, zu passenden Maßnahmen greifen kann. Es besteht die Gewissheit, dass solche Maßnahmen existieren. Zusätzliche Aufmerksamkeit. Grenzenziehen. Lob. Gespräche mit den Eltern. Schulpsychologie.

Maßnahmen.

Möglich, akzeptiert. Ungetestet und vermutlich funktionierend. Ich will sie auch nicht hinterfragen. Natürlich sind sie fehlerhaft und können deshalb verändert werden. Das ist auch gut so. Die Veränderbarkeit spricht für den Willen des Systems sich zu verbessern.

Zumindest verlangt niemand, dass ich das, was wir als grundlegende Ideologie des Systems bezeichnen, kenne oder den Kindern erkläre. Wenn ich das richtig verstanden habe, kommt es überdies nur selten vor, dass die Eltern sich dafür interessieren, es gilt – sollte es überhaupt so weit kommen – als Informationsproblem, das mit Hilfe von ausreichender Information im gemeinsamen Einvernehmen gelöst werden kann. Ich finde das großartig.

Ich verhalte mich loyal den Bauklötzen gegenüber, den Kollegen, den Kindern und den Eltern. In dieser Loyalität gibt es keine Widersprüche. Wenn wir ausreichend mit Informationen versehen werden, haben wir dasselbe Ziel, das vermutlich – falls es formuliert worden ist – ziemlich vage aussieht, was ich für einen Vorteil halte.

Ich unterstütze dieses Ziel, unsicher wohl, pädagogisch unvollkommen, aber dennoch ausreichend.

Und ich genieße es. Ich genieße es, einfach zu deuten, innerhalb von ganz klaren und individuellen Rahmen, ich genieße die klar definierten Voraussetzungen und das unanfechtbare gemeinsame Ziel. Hier wird von mir nichts anderes gefordert als meine Zustimmung, ich brauche nicht nach versteckten Motiven oder Triebkräften zu suchen, so, wie ich das früher getan habe, als Lehrerin und eher persönlich, zusammen mit Silje. Auch bei Therese, der Therapeutin, der Heilerin, habe ich die verborgenen Motive gesucht, die dahinter liegenden Triebkräfte, die ich zu finden glaubte. Die Erregung, die eine solche Suche mit sich bringt, vermisse ich keineswegs. Im Gegenteil. Es ist ein wahrer Segen, davon befreit zu sein.

Ich akzeptiere die Einschätzungen meiner Kollegen, ihre Ideale und ihren Frust. Ich bin, von meiner Seite aus, dabei. Es gibt kleine fachliche und persönliche Meinungsverschiedenheiten, zu denen ich meistens keine Stellung beziehe, während ich Verständnis für beide Seiten zum Ausdruck bringe. Ich bin eine aufmerksame Zuhörerin, und ich erkenne den guten Willen aller an, die an unseren kleinen Meinungsverschiedenheiten teilnehmen.

Ich glaube, dass beide Seiten im Streit um das Gewinnerlos mich leiden mögen. Und ich glaube, dass es hier, wie bei den eher fachlich geprägten Diskussionen, im Grunde vor allem um persönliche Gegensätze geht. Um Chemie. Oder vielleicht um Altersunterschiede. Ich glaube zum Beispiel ganz einfach, dass meine Kolleginnen Ellen – die das Geld aus der Lotterie für ein Fest verwenden möchte – und Beate – die davon eine kulturelle Veranstaltung in die Wege leiten will – einander nicht ganz verstehen. Aber das wird sich noch ändern. Wenn wir ihnen nur genug Zeit geben. Und Aufmerksamkeit vielleicht. Über Ellen weiß ich, dass ihr Sohn sehr oft krank war. Davon wird sie leicht auffahrend und reizbar. Das ist doch verständlich.

Meine Unterstützung für die Ideale der Grundschule ist nicht geheuchelt. Sie kommt von Herzen, so wie der Wunsch meiner Kolleginnen und Kollegen, den Schulkindern veränderliche und wachstumsfähige menschliche Werte mitzugeben, von Herzen kommt. Ich glaube, es gelingt ihnen so gut, wie man das überhaupt verlangen kann.

Irgendwann einmal, lange, ehe ich hergekommen bin, war ich zutiefst in Deutungen verliebt, in die Unendlichkeit von Lesarten, zu denen das Fach Geschichte einlädt. Und natürlich hat diese Verliebtheit mich zeitweise zu einer guten Lehrerin gemacht. Ich glaube, ich kann sagen, dass einzelne meiner Stunden gelungene Vorstellungen waren. Es ist vielleicht nur ein Klischee, diese Verwandtschaft zwischen Schauspielerin und Lehrerin, und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es ein brauchbares Klischee ist. In beiden Fällen brauchen wir Techniken und Methoden und vor allem das wichtige Element der Begeisterung. Vielleicht auch das des Glaubens. Wenn meine sehr jungen Schülerinnen und Schüler an der Grundschule mich mit dermaßen offenen Gesichtern ansehen, dann liegt das daran, dass sie spüren, wie sehr ich hinter dem Text stehe, den ich ihnen liefere, so, wie wir merken, ob eine Schauspielerin hinter ihrer Rolle steht. Dass mein Glaube, wie das Alter der Schulkinder, sehr gering ist, ist weniger wichtig. Offenbar ist er groß genug.

Meine Verliebtheit – als ich sie noch hatte – war ansteckend, wie jede Verliebtheit. Es spielt vielleicht eine geringere Rolle, auf wen oder was diese Verliebtheit sich richtet. Auf einen Arsch. Einen Trottel. Eine Dunkelhaarige oder Blonde. Es kommt auf den Puls an, auf Erröten, Atemzüge. Und vielleicht sogar auf die Zuckungen.

Aus meiner eigenen Schulzeit kann ich mich am besten an eine Vertretungslehrerin erinnern, bei der wir Napoleon durchnahmen. Ich habe keine Ahnung, was sie in ihm sah, oder ob sie irgendeine Meinung über ihn hatte, ich glaube nicht, dass ich wirklich etwas über Napoleon oder über die gewaltigen Umwälzungen in der französischen Gesellschaft und in Europa gelernt habe, die ihn nach oben brachten und die er dann beschleunigte. Aber ich erinnere mich an ihre Vorstellung, an ihre roten Wangen, daran, wie sie mit den Armen fuchtelte und sozusagen vor der Tafel hin und her marschierte, um das Pult herum, zwischen den Tischreihen.

Ich erinnere mich an ihre Erregung. Die war fast beängstigend. Die roten Flecken an ihrem Hals. Erstaunlich und unerklärlich.

Puls. Und Napoleon. Die verschneiten Steppen. Ihr Rollkragenpullover, der vielleicht zum Erröten beitrug. Ich glaube schon, dass sie ihn bewundert hat. Es ist möglich, dass sie verdichtete, beschrieb, Gegenargumente lieferte, eine Leinwand aufspannte, auf der auch er auftauchte, aus Notwendigkeit oder durch Zufall, als erklärender Faktor oder zweifelhafter Höhepunkt, ich weiß es nicht.

An die Vorstellung kann ich mich erinnern. So, wie ich mich sonst nur an Bloßstellungen erinnere, an die peinlichen und zugleich freudigen Augenblicke, wenn vor allem unbeliebte Lehrer plötzlich gleichsam nackt vor uns standen, entweder als Folge unserer Vorbereitungen oder durch einen gnädigen Zufall. Wir sehnten uns natürlich nach peinlichen Vorstellungen, wir waren glücklich darüber, die Bloßstellung miterleben zu dürfen, den Fall, den flackernden Blick, das halbherzige Lächeln, das verriet, dass dieser Lehrer, dieser Vertretungsmensch, nicht wusste, was er da lieferte. Und dass alles, was von ihm kommen könnte, unsere Verachtung bestätigen würde, sie verstärken, immer weiter, bis endlich für ihn die barmherzige Stunde schlug und ihn unserer Begeisterung entzog.

Das war der Jubel der schlechten Vorstellung. Auch der ist groß. Und außerdem von Dauer.

Napoleon dagegen war eine gute Vorstellung. Schweigend nahmen wir sie entgegen, wie gelähmt vielleicht, überwältigt von Erröten, fuchtelnden Armen und diesem scheinbaren Marsch. Ich glaube nicht, dass wir später darüber gesprochen haben. Ich habe keine Ahnung, was diese Lehrerin mir sagen wollte. Ich kann mich nur an ihre schauspielerische Leistung erinnern.

Es kann sich vielleicht um eine Art universelle Tatsache handeln, vielleicht ist es immer so, dass die Vorstellung ihren Inhalt dominiert, egal, in welchem gefühlsmäßigen oder intellektuellen Raum sie abgehalten wird. Ich kann das problemlos so sehen. Es erklärt natürlich, warum ich die Ideale der Grundschule hochhalte. Ich nehme keine Deutung vor, die über die vorliegende, pädagogisch akzeptierte, hinausgeht. Ich bin sehr vorsichtig geworden. Ich erröte nur sehr selten, ich gerate nicht in Erregung.

Aber meine Verliebtheit war ansteckend, wie die der anderen, damals, als ich Geschichte unterrichtet habe. Dass meine Verliebtheit Deutung war, lag vermutlich an dem Zeitpunkt, zu dem ich studiert hatte, und dass ich mich für Geschichte entschieden hatte, lag an meiner Familie.

Ich stamme aus einer Art Geschichtslehrersippe, es gibt inzwischen drei Generationen von uns. Ich fand das immer schrecklich, wie Anwalts- und Fischerdynastien, diese Art Familien, in denen jegliche Unternehmung, die sich außerhalb der dynastischen Sphäre abspielt, auf höfliche, aber absolut verständnislose Blicke trifft. Ylvas Mann Einar zum Beispiel ist Bioingenieur, und niemand redet mit ihm. Nicht, weil sie Einar nicht leiden könnten, denn auf eine vage Weise können das alle, jedenfalls verabscheuen sie ihn nicht, nur weiß einfach niemand, worüber sie mit ihm sprechen sollten. Bei Familienfesten läuft Einar mit einem Kind auf dem Arm herum und lächelt hilflos, er verpasst einem anderen Kind neue Windeln – Ylva und er haben viele, so kommt es mir jedenfalls vor –, oder er schaut sich den Heizkessel oder ein Fenster an, das klemmt. In meiner Familie werden Bioingenieure für praktisch gehalten.

Es ist die Art Familie, habe ich mir früher immer gesagt, mit der niemand Trivial Pursuit spielen will, sie verfügt über die schwachsinnige Fähigkeit, sich Namen und Jahreszahlen zu merken, und bei jeder sich bietenden Gelegenheit wird munter damit um sich geworfen.

»Die Schlacht bei Tours!«, jubeln sie. »Pippin der Kleine! El Alamein! Erich von Pommern!«

Es gibt eine große Begeisterung für diese Namen, für diese Zusammenhänge. Man wird rot. Wie damals diese Vertretungslehrerin. Wie ich damals, als ich in Deutung verliebt war.

Ragne kennt mich nicht so. Das ist seltsam. Ich hatte mir die Deutungen schon abgewöhnt, als ich sie kennen gelernt habe. Vielleicht erscheine ich ihr deshalb als Fremde, wenn sie mich mit meiner Familie zusammen sieht, vielleicht lasse ich mich dann doch ein wenig anstecken und erröte wie die anderen.

Im Sommer, habe ich gedacht, wenn die Wände abgeschliffen und neu gestrichen worden sind, dann kommen sie her. Einige von ihnen jedenfalls. Für ein oder zwei Tage. Wenn Ragne das über sich bringt.

Ab und zu rufe ich Ylva an und bitte um gute Ratschläge, weil sie die Einzige ist – abgesehen von mir eben –, die an der Grundschule arbeitet. Ihre Ratschläge sind wirklich nützlich. Sie vertritt die Auffassung, dass Kinder die anspruchsvollsten Schüler überhaupt sind, ungefähr wie Schauspieler behaupten, dass es kein anspruchsvolleres Publikum gibt als Kinder. Ich widerspreche ihr da nicht. Es kann sein, dass sie Recht hat. Mir kommt es nicht so vor, aber vielleicht liegt mein Gefühl der Befreiung nicht an Schülern oder Pädagogik, sondern an ganz anderen Umständen. An persönlichen Umständen.

Der Liebesentzug

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