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Ambivalenz und Spiritualität

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Je mehr man im spirituellen Leben wächst, desto wohler fühlt man sich mit paradoxen Gefühlen, desto mehr schätzt man die Ambivalenz des Lebens, seine vielen Ebenen und die ihr innewohnenden Konflikte. Man entwickelt einen Sinn für die Ironie, Metapher und den Humor des Lebens und die Fähigkeit, das Ganze mit seiner Schönheit und Ungeheuerlichkeit in der Gnade des Herzens anzunehmen.

— Jack Kornfield

Während viele religiöse Traditionen davon ausgehen, dass Gott allgegenwärtig ist, reagieren wir auf unsere innere Gefühlswelt oft, als wäre sie ein trostloser, gottloser Ort. Der mystisch-poetische Dichter Rilke schrieb beredt darüber, wie unnötig dies ist:

Ach, nicht getrennt sein,

Nicht durch so wenig Wandung

Ausgeschlossen vom Sternen-Maß.

Innres, was ists?

Wenn nicht gesteigerter Himmel,

durchworfen mit Vögeln und tief

von Winden der Heimkehr.

Wenn wir die »negative« Hälfte unserer emotionalen Erfahrung überhand-nehmen lassen, schließen wir daraus, dass Gott dort nicht zu finden ist. Es ist, als würden wir sagen, dass unsere »negativen« Emotionen gottlos und kein nützlicher Teil der Schöpfung seien. Wenn wir dies tun, lassen wir Satan real werden und schaffen eine Teufelshölle in uns. Gefühle, die als unheilig verbannt werden, manifestieren sich unbewusst auf teuflische Weise.

Einige meiner tiefsten Öffnungen für die Liebe Gottes und die direkte Erfassung der Allgegenwart Gottes geschahen dadurch, dass ich mich endlich den zuvor verleugneten Gefühlen hingegeben habe. Diese Öffnungen offenbarten sich meist als reine und tiefe Ambivalenz.

Erfahrungen reiner Ambivalenz öffnen manchmal unser Bewusstsein für das transzendentale »Einssein«, das alle Polaritäten vereint. Taoisten glauben, dass eine unsichtbare, zugrunde liegende Einheit alle Unterschiede verbindet und harmonisiert. Dies wird durch die Glyphe des Tao symbolisiert, die beide Hälften eines Kreises vereint und zeigt, dass jede Hälfte den Samen ihres Gegenteils enthält.

Ich hatte schon mehrmals das Glück, in einer Umgebung von großer natürlicher Schönheit die Ahnung von einer tieferen, alles durchdringenden Einheit zu erhaschen. Als ich einmal auf einer Wanderung in den Bergen unterwegs war und die Tiefen meiner Einsamkeit von Grund auf empfand, stieß ich auf ein Panorama von solcher Pracht, dass ich sofort in Ehrfurcht erstarrte. Die außerordentliche Schönheit vor mir erfüllte mein Herz mit Freude. Tränen liefen mir über das Gesicht und ich lachte laut, als ich spürte, wie ich geistig und emotional mit einer wohlwollenden Kraft verschmolz, die die Quelle und das einigende Wesen von allem zu sein schien. Der moderne Mystiker R.M. Bucke beschreibt eine ähnliche Erfahrung:

Nun kam eine Phase der Verzückung, die so intensiv war, dass das Universum stillstand, als ob es über die unsagbare Majestät des Schauspiels staunen würde. Nur Einer im ganzen unendlichen Universum! Der Alles-Liebende, der Vollkommene … In diesem wunderbaren Moment dessen, was man als himmlische Glückseligkeit bezeichnen könnte, kam die Erleuchtung … Welche Freude, als ich sah, dass es keinen Bruch in der Kette gab – nicht ein Glied ausgelassen – alles an seinem Platz und zu seiner Zeit. Welten, Systeme, alles verschmolzen zu einem harmonischen Ganzen.

Das Tao der Gefühle

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