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Vorwort zur 7. Auflage

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2011 war auch die 6. Auflage vom „Vogelzug“ vergriffen – eigentlich Grund genug für eine weitere gründlich überarbeitete Neuauflage. Die war zunächst auch geplant, aber inzwischen stehen ihr eine Reihe von Schwierigkeiten unserer modernen Zeit entgegen, die, obwohl sie eigentlich eine grundlegende Neufassung eines Buches wie dem „Vogelzug“ erforderlich macht, es andererseits fraglich erscheinen lässt, ob eine solche Mammutarbeit derzeit überhaupt sinnvoll ist. Aus mehreren Gründen erscheint gegenwärtig vielmehr ein Nachdruck am zweckmäßigsten – dazu nähere Begründungen im Folgenden.

Seit Erscheinen des „Vogelzug“ im Jahre 1990 ist kein zweites Buch veröffentlicht worden, das direkt mit ihm konkurriert. Von einer ganzen Reihe anderer über den Vogelzug erschienener Werke widmen sich mehrere Atlanten auf der Grundlage von Ringfundauswertungen hauptsächlich Wanderungen, andere sind in erster Linie Bildbände mit knappen Texten (z.B. Couzens 2005) oder stellen Bezüge zur Schöpfung her (wie Streffer 2005). Zwei Bücher (Newton 2010 und Hughes 2009) bieten ebenfalls allgemeine Übersichten, unterscheiden sich aber derartig vom „Vogelzug“ und beruhen auf grundsätzlich anderen Konzepten (ersteres ist mit rund 600 Seiten sehr umfangreich, während letzeres auf jegliche Quellenangaben verzichtet), dass der „Vogelzug“ im Vergleich mit anderen Werken zum Thema seinen eigenen Platz als kompakte, umfassende und dennoch überschaubare Übersicht behält. Doch warum dann keine gründlich überarbeitete Neuauflage? Dafür gibt es mehrere Gründe.

Die Basis für Gesamtdarstellungen eines Phänomens wie dem Vogelzug bilden klassische Übersichtsarbeiten (Reviews), die häufig in Symposiums- und Kongressbänden veröffentlicht werden oder besser: wurden. Diese von führenden Fachleuten verfassten Zwischenbilanzen größerer Forschungsbereiche geben meist verlässlich den aktuellen Wissensstand unter Einbeziehung von großen Mengen von Originalarbeiten wieder, die in Buchkompilationen im Einzelnen nicht berücksichtig werden können. Doch derartige Reviews werden seit einiger Zeit kaum mehr publiziert und wenn, dann zunehmend zu sehr speziellen Themen oder auch als Pseudo-Reviews, die nur Teilbereiche eines Fachgebietes betrachten.

Der letzte breit angelegte Review-Band, der die meisten Vogelzugsbereiche berücksichtigt, erschien 2003: „Avian Migration“ (Berthold et al. 2003). Er fasst die Übersichten eines Festkolloquiums aus Anlass des 100-jährigen Bestehens der Vogelwarte Rossitten/Radolfzell zusammen. Der Band war nur Dank großzügiger Unterstützung durch die Max-Planck-Gesellschaft zu drucken, da der Markt für derartige Symposiumsbände weitgehend verloren gegangen ist. So sind auch die Reviews der überaus rührigen Orientierungsforscher, die früher alle paar Jahre erschienen, weitgehend Geschichte (gewissen Ersatz bilden die „Orientation & Navigation-Conferences“ des Royal Inst. of Navigation, die in größeren Abständen durchgeführt werden). Und selbst die klassischen Reviews der Internationalen Ornithologen-Kongresse erscheinen nicht mehr in Kongressbänden, was zu Qualitätsverlusten führt. Beispiele für weiterhin umfassende Reviews im herkömmlichen Format sind „Bird migration in the southern hemisphere: a review comparing continents“ (Dingle 2008) und „Recent advances in understanding migration systems of New World land birds” (Faaborg et al. 2010). Relativ spezielle Reviews enthalten z.B. die Bände über „Optimal Migration“ (Alerstam u. Hedenström 1998), „Birds of Two Worlds – The Ecology and Evolution of Migration” (Greenberg u. Marra 2005) oder „Migration in the life-history of birds” (Bairlein u. Coppack, 2006). Ein typischer Pseudo-Review ist die Arbeit „Hormones in Migration and Reproductive Cycles of Birds“ (Ramenofsky 2011), in der trotz des anspruchsvollen Titels lediglich Daten von zwei amerikanischen Singvogelrassen verglichen werden.

Damit wird deutlich, dass Reviews für eine Übersicht in Buchform oder deren grundlegende Überarbeitung längst nicht mehr die Ausgangsbasis darstellen, wie dies noch vor 20 Jahren der Fall war. Insbesondere fehlen Zwischenübersichten zu den zentralen Themen der Zugforschung. Damit scheidet der noch vor einigen Jahren gehegte Plan zur Überarbeitung des „Vogelzug“ aus: An den Enden der einzelnen Kapitel farbig unterlegte Textabschnitte anzufügen, die den neuen, aktuellen Wissensstand kurz zusammengefasst in Kernsätzen von Reviews wiedergeben.

Nun könnte man sagen: Wenn schon die Reviews als Überarbeitungsbasis nicht mehr so tauglich sind wie früher, dann sollte eben stärker auf Originalarbeiten zurückgegriffen werden, die ohnehin grundsätzlich eingesehen werden müssen. Das ist im Prinzip richtig, bedingt aber letztlich eine andere Buch-Konzeption, wie gleich ersichtlich wird.

Seit der 4. (vollständig überarbeiteten) Auflage des „Vogelzug“ sind über 5000 neue einschlägige Originalarbeiten zum Thema erschienen. Davon abzuziehen ist sicher eine beträchtliche Anzahl von Arbeiten, die einen eng begrenzten oder trivialen Aspekt unnötig aufbauschen, ohne dabei relevante Literatur angemessen oder überhaupt zu berücksichtigen und darauf einzugehen, dass das Thema bereits anderswo – und vielleicht sogar besser – behandelt wurde. Dazu kommen Arbeiten, die – oft in Verbindung mit Modellen – viel Spekulation und wenig Substanz und Biologie vermitteln und die scientia amabilis mehr mit Ballast befrachten, als sie zu bereichern. Und da beginnt das Dilemma ohne die oben genannten Reviews. Angenommen zum Thema Fettstoffwechsel von Zugvögeln lägen inzwischen rund 250 neue Arbeiten vor, aber kein neuer Review, der sie kompiliert – dann ergibt sich ein nahezu unlösbares Problem: Alle oder nur viele dieser Arbeiten einzubeziehen und dann natürlich auch zu zitieren, würde das Literaturverzeichnis sprengen. Im Hinblick auf die Referenzliste jedoch nur einige Arbeiten herauszupicken, hätte mehr mit Lotteriespiel als einer Auswahl nach wissenschaftlichen Kriterien zu tun und scheidet somit aus. Das heißt aber: Der vorliegende „Vogelzug“ kann nicht einfach durch Einbau von Daten einer Reihe von Originalarbeiten überarbeitet werden, während ein Großteil der Arbeiten unberücksichtigt bleibt. Die „Aussortierten“ würden – zu Recht – ein Klagegeheul anstimmen. Auswege aus diesem Dilemma könnten gefunden werden durch eine Neufassung des „Vogelzug“ (wie ähnlicher anderer Bücher) mit einer ganz neuen Struktur, die folgendermaßen aussehen könnte: Darstellung der Grundsachverhalte auf der Basis von Reviews bis zum vorliegenden Zeitpunkt. Danach anschließend Behandlung neuer und neuester Erkenntnisse exemplarisch anhand der am besten untersuchten Arten und schließlich vergleichende Darstellungen abweichender Verhältnisse bei anderen Arten, mit der Erklärung der Ursachen dafür. Was die immer länger werdenden Literaturverzeichnisse anbelangt, wäre zu überlegen, ob man auf deren Abdruck in Büchern künftig verzichtet und sie stattdessen auf elektronischen Datenträgern mitliefert oder für Interessenten bereithält.

Nach meinen Erfahrungen würde eine Neufassung des „Vogelzug“ in der soeben skizzierten Form mindestens drei Jahre intensiver Arbeit in Anspruch nehmen. Das jedoch möchte ich mir bei meinem fortgeschrittenen Alter nicht mehr aufbürden, zumal derzeit weitere wichtige Fragen offen bleiben – allen voran: Würde sich eine solche Mammutarbeit bis in ein paar Jahren überhaupt noch lohnen; gäbe es bis dahin überhaupt noch die Adressaten, für die ein solches Werk auf den Weg gebracht würde? Beim Versuch, Antworten zu finden, ist Skepsis durchaus angebracht, wie folgendes zeigt. Am führenden vogelkundlichen Institut Deutschlands, dem Max-Planck-Institut für Ornithologie – Vogelwarte Radolfzell, wird z.Z. die berühmte Präsenz-Bibliothek abgebaut und in Magazin-Räume des Institutsteils in Seewiesen verlagert. Damit verschwindet eine der besten Fachbibliotheken im Land in der Versenkung und mit ihr Schätze, die sie noch aus der Ära der Vogelwarte Rossitten als dem ältesten ornithologischen Institut der Welt besitzt. Nicht einmal ein Handstück des „Journal für Ornithologie“ bleibt erhalten – das seit dem 19. Jahrhundert ganz wesentlich die vogelkundliche Forschung in Deutschland vorangebracht hat. Wer künftig im Institut darin „blättern“ will, muss sich an den Computer setzen und online gehen. Bei dieser „Rodungsaktion“ verschwinden auch mehrere Meter Vogelzugbücher aus den Regalen des Instituts in Schloss Möggingen – eine weitgehend vollständige Kollektion zurück bis ins vorletzte Jahrhundert, darunter natürlich auch der „Vogelzug“ in all seinen Auflagen. Der Grund dafür ist: Die Bibliothek ist bei den heutigen Mitarbeitern mit ihren modernen Forschungsmethoden kaum noch gefragt. Was die neue Forschergeneration an Literatur benötigt, beschafft sie sich aus dem Internet, direkt oder per Fernbestellung. Rückgriff auf ältere, so nicht erreichbare Arbeiten erfolgt zunehmend weniger und Bücher – als sogenannte Sekundärliteratur – verlieren besonders stark an Interesse. Und das gilt nicht nur für Wissenschaftler, sondern inzwischen auch für viele Medienvertreter und interessierte Laien. Wenn ich bei den Hunderten von Anfragen für Interviews, Auskünfte usw., die mich jedes Jahr erreichen, nachfrage, woher die Gesprächspartner ihre Vorabinformationen haben, sagen zunehmend mehr „aus dem Internet“ und immer weniger „aus ihrem ‚Vogelzug‘“.

Das – lieber Leser – ist nicht ermutigend, um mit riesigem Aufwand ein gänzlich neues Vogelzugbuch zu kompilieren. Lieber möchte ich die mir verbleibende Zeit nutzen, Naturschutzprojekte voranzubringen, die auch den immer mehr gefährdeten Zugvögeln helfen können (siehe unten). Und da – wie im Folgenden gezeigt – die Zugforschung seit der letzten Auflage des „Vogelzug“ nur wenige spektakuläre Durchbrüche erzielt hat, kann ein Nachdruck der 6. Auflage noch einige Zeit eine einführende Übersicht bieten.

Auch wenn in letzter Zeit in der Zugforschung nicht viele neue Meilensteine gesetzt worden sind, so wurden doch viele Bau- und Schmucksteine geschaffen, die das Wissenschaftsgebäude sowohl weiter festigen als auch zieren. Einige dieser interessanten Highlights sind im Folgenden zusammengestellt – ohne Anspruch auf Vollständigkeit und den Grad ihrer Bedeutung –, dazu die wichtigsten Fragen und neuesten Entwicklungen der Vogelzugforschung.

Sollte ein Vogel in der freien Natur 100 Jahre alt werden, wäre es schwer, das heute schon abzusehen, da die Vogelberingung erst kürzlich ihr 100-jähriges Bestehen erreicht hat (S. 38). Aber immerhin hat ein Methusalem unter den britischen Ringvögeln inzwischen ein Alter von 55 Jahren erreicht – ein Schwarzschnabel-Sturmtaucher. Er hat in seinem Leben auf Wanderungen und ausgedehnten Nahrungssuchflügen geschätzte acht Millionen Kilometer Flugstrecke zurückgelegt (Clark et al. 2004). Was reine Zugstrecken anbelangt, ist die Küstenseeschwalbe Weltrekordhalter, mit bisher angenommenen Jahreswanderstrecken von rund 40.000 km (S. 92). Diese Strecke ist nun zu verdoppeln. Mit nur 1,4 g leichten Sensoren (Geolokatoren, S. 36, die die Zeit von Sonnenaufgang und -untergang erfassen und so weltweit Positionsbestimmungen ermöglichen) wurde kürzlich unter Einbeziehung aller Zickzack- und sonstiger Flüge eine Jahresstrecke von 80.000 km ermittelt (Egevang et al. 2010). Da für Küstenseeschwalben inzwischen durch Beringung ein Lebensalter von 34 Jahren nachgewiesen ist (Royal Inst. Navig. Newsl. 2001), ergibt sich für die Art eine Lebensflugstrecke von rund 2,7 Millionen Kilometern. Auch für zwei weitere Arten liegen spektakuläre neue Streckenmessungen vor. Albatrosse sind in der Regel 80–90 Prozent ihrer Lebenszeit über dem Meer unterwegs. Mit Geolokatoren ausgestattete Graukopfalbatrosse vollführen im Extrem eine „Weltumsegelung“ (nicht um den Äquator, aber zwischen ihm und dem Südpol rund um die Antarktis) von über 25.000 km in nur 46 Tagen mit Tagesstrecken von fast 1000 km (Croxall et al. 2005). Auch diese Vögel kommen mit einem Lebensalter von rund 60 Jahren auf Lebenswanderstrecken von bis zu vier Millionen Kilometern (Safina 2004, Walker 2003). Obwohl für Langstreckenzieher wie Limikolen (Watvögel) aufgrund ihrer Fettdeposition und energetischer Berechnungen schon länger Nonstopflugleistungen von bis zu 14.000 km angenommen werden (S. 122), lagen tatsächliche Streckenmessungen bisher weit darunter (S. 91). Inzwischen ist es gelungen, eine Pfuhlschnepfe mit Hilfe der Satelliten-Telemetrie von Alaska bis Neuseeland zu orten, die nonstopp 11.700 km in gut acht Tagen zurücklegte (Gill et al. 2009). Auch der bislang mysteriöse Zugweg des Eleonorenfalken (S. 83) ließ sich kürzlich aufklären: Die Vögel wandern durch Afrika nach Madagaskar und nicht „außen herum“ (Gschweng et al. 2008).

Diese hochinteressanten aufregenden neuen Befunde machen verständlich, dass derzeit viele Vogelzugforscher noch einmal in eine neuerliche deskriptive Phase der Zugforschung zurückkehren, wie seinerzeit mit Beginn der systematischen Beobachtung und Vogelberingung (S. 30, 38), jetzt jedoch auf der Basis modernster Technik. Das sogenannte „Biologging“ (Rutz u. Hays 2009), also die Ausstattung von Tieren mit Miniatur-Sendern und Datenerfassungsgeräten zur Bestimmung ihrer Position, der kontinuierlichen Verfolgung von Bewegungen, Registrierung ihres Verhaltens und von physiologischen Parametern sowie von Daten ihrer Aufenthaltsorte, verspricht Einblicke in den Ablauf von Vogelwanderungen in bisher kaum vorstellbaren Details. Dabei lassen sich mit Loggern von unter 0,1 g – also kleiner und leichter als manche unserer Zahnplomben – schon heute auch Kleinvögel, Schmetterlinge, Hummeln u.a. auf ihren Wanderungen und sonstigen Flügen verfolgen (z.B. Stutchbury et al. 2009, Naef-Daenzer et al. 2005). Die sogenannte „Icarus-Initiative“ (z.B. Spiegel 2005) sieht vor, zusammen mit der NASA einen Satelliten als Funkempfänger in eine erdnahe Umlaufbahn zu bringen, der die Signale Tausender auf dem Rücken kleiner Zugvögel klebender Mini-Sender auffangen kann. Derartige Forschung wird ein tragendes Element der künftigen Arbeit am Max-Planck-Institut für Ornithologie, Vogelwarte Radolfzell, unter Federführung von Martin Wikelski sein. Die anfallenden Datenmengen werden z.T. zentral erfasst (z.B. in GROMS – Global Register of Migratory Species, Zentrum f. Entwicklungsforsch. in Bonn; www.movebank.org s. Wikelski u. Kays, 2010).

Die Zugforschung auf Sender-Basis wird oft als weitgehend unbeeinflusste „Naturbeobachtung“ angesehen und damit als Kontrastprogramm zur früher weit verbreiteten Experimentalforschung. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass mit zunehmendem Sender-Einsatz mehr und mehr negative Auswirkungen von Transmittern bekannt und inzwischen auch zusammengefasst wurden (Barron et al. 2010). Auf solche Beeinträchtigungen – von Vögeln wie Versuchsergebnissen – wird umso mehr zu achten sein, je kleiner die untersuchten Arten werden.

Neben dem Biologging werden in der künftigen Zugforschung, wie sich heute bereits abzeichnet, eine Reihe weiterer Methoden und Kernprobleme eine wichtige Rolle spielen. Was die Methodik anbelangt, wird die Bestimmung stabiler Isotope zur Klärung vieler Fragen (S. 48) noch lange sehr nützlich sein (z.Z. erscheinen ständig Arbeiten über ihren Einsatz), ebenso Untersuchungen in Windtunneln für verfeinerte Analysen des Vogelflugs aber auch verschiedener physiologischer Fragen. Inzwischen ist es gelungen, Sprosser – die Zwillingsart der Nachtigall – mehrfach in einem zwölfstündigen Zugflug zu untersuchen, insgesamt 176 Stunden lang, um Einzelheiten der Zugdisposition und des Zugverhaltens in situ zu studieren (Lindström 1999). Bis zu zehnstündige Flüge konnten auch beim Knutt verfolgt werden, mit der erstaunlichen Erkenntnis, dass die Flugmuskeleffizienz mit fortschreitender Fettdeposition ansteigt (Kvist et al. 2001). Ein weiterer Forschungsschwerpunkt, der Windtunneluntersuchungen wesentlich mit einbezieht, sind Schlafstudien. Zugvögel kommen v.a. während der Nachtzugzeiten mit erstaunlich wenig Schlaf aus, schieben dann tagsüber kurze Schlafpausen ein (S. 131), sind aber möglicherweise in der Lage, während des ruhigen Zugfluges einseitigen „Gehirnhälften-Halbschlaf“ durchzuführen, während die andere Hirnhälfte wach bleibt und aeronautische Notwendigkeiten im (offenen) Auge behält (Rattenborg 2006). Einen starken Aufschwung wird künftig die Immunbiologie in Bezug auf Vogelwanderungen erfahren. Nicht nur Krankheiten wie die Vogelgrippe machen weltweit eingehende Studien zwingend erforderlich, sondern vor allem auch die immer mehr erkennbaren Zusammenhänge von Ernährung und Stress durch Fortpflanzung und Zug sowie Parasitenbefall und Körperabwehr (z.B. Adelman et al. 2010). Da sich die Parasitenbelastung im Zuge des globalen Klimawandels stark verändert, wird auch der Vogelzug die Immunologen vor völlig neue Aufgaben stellen. Auch hierfür ist das MPI für Ornithologie in Radolfzell gut aufgestellt: Die Brücken-Professur zur Universität Konstanz wurde von der Presse u.a. als „Vogelgrippe-Professur“ gesehen.

Im vorletzten Satz fiel das Wort Klimawandel. Wie sich seit langem abzeichnet (S. 19, 220), hat er inzwischen alle Vogellebensräume der Erde erfasst, mit z.T. starken Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche einschließlich der Wanderungen. Mittlerweile ist die Literatur zum Thema kaum noch zu überschauen. Um vor allem jüngeren Forschern den Einstieg zu erleichtern und sie an die interessantesten Fragen heranzuführen, haben wir kürzlich eine Review-Sammlung in Buchform organisiert (Møller et al. 2010). Ob Zugvögel vom rezenten Klimawandel profitieren oder eher Nachteile erfahren werden, ist vorerst offen, aber summa summarum ist Letzteres wahrscheinlicher.

Der Klimawandel hat zwei neue Arbeitsgebiete der Zugforschung stark belebt: die Genetik und die Evolutionsbiologie. Eine ganze Reihe von Forschern beschäftigt sich gegenwärtig mit der spannenden Frage, ob sich Zugvögel durch phänotypische Plastizität an neuartige Klima- und damit zusammenhängende Lebensbedingungen eher direkt anpassen oder indirekt durch Mikroevolution auf genetischer Basis. Pionierarbeiten zu diesen Fragen wurden vor allem mit Mönchsgrasmücken durchgeführt, und sie liefern auch weiterhin wichtige Erkenntnisse. So konnte inzwischen die Hypothese, dass aus reinen Zugvögeln bei Selektion auf kleinere Zugaktivitätsmengen (also kürzere Zugstrecken) ab einer bestimmten Schwelle „automatisch“ Standvögel auftreten (S. 23), experimentell belegt werden (Pulido u. Berthold 2010). Umgekehrt ließen sich Reste von Nachtunruhe, die bei Standvögeln Madeiras vorkommen und wohl auf die Zugunruhe ziehender Vorfahren zurückgehen, durch Selektion in wenigen Generationen (wieder) zu Zugaktivität aufbauen, die etwa der der ziehenden Fraktion der südfranzösischen Teilzieher entspricht. Von Karmingimpeln (Nachtzieher mit mehrere Monate dauernden Zugperioden) lässt sich Zugaktivität in Nachkommen von seit Jahrhunderten domestizierten Kanarienvögeln einkreuzen (Berthold, unveröffentlicht). Bei süddeutschen Mönchsgrasmücken konnten wir zeigen, dass sie in den letzten 15 Jahren sowohl ihre Zugaktivität auf genetischer Basis reduziert als auch durch Mikroevolution ihre phänotypische Plastizität in Bezug auf den Wegzugbeginn verändert haben (Pulido u. Berthold 2010). Was die Ausbildung neuartigen Zugverhaltens mitteleuropäischer Mönchsgrasmücken mit Winterquartier auf den Britischen Inseln anbelangt (S. 220), konnte die Hypothese, dass assortative Verpaarung die Mikroevolution neuer Zugmerkmale beschleunigt, mit Hilfe stabiler Isotope erhärtet werden (Bearhop et al. 2005). Inzwischen ist sogar nachgewiesen, dass die von Mitteleuropa nach England bzw. in den Mittelmeerraum ziehenden Gruppen in Süddeutschland so stark differenzierte Ökotypen (mit fünf unterschiedlichen morphologischen Merkmalen) darstellen, dass sie sich untereinander stärker unterscheiden als von Artgenossen in Norddeutschland (Schaefer u. Segelbacher 2010). Bei weiterer Differenzierung – u.a. im Gesang – könnten daraus sogar schließlich zwei Arten entstehen – eine herkömmliche Mönchs- und eine neuzeitliche neue Grasmücke (Fiedler u. Berthold 2005). Aus den Stichproben der vielen bisher untersuchten Populationen ist es nun auch gelungen, ein erstes mit dem Zugverhalten eng in Verbindung stehendes Gen zu identifizieren (Mueller et al. 2011). Insgesamt ist die Mönchsgrasmücke die in Hinsicht auf die genetischen Grundlagen des Zuges weltweit am besten untersuchte Art (Schaefer u. Segelbacher 2010).

Ein Gebiet, das in der Zugforschung wohl immer breiten Raum einnehmen wird, ist die faszinierende Orientierung. Allerdings: Was die großen noch offenen Fragen anbetrifft, tritt ihre Erforschung derzeit etwas auf der Stelle; in kleineren Teilbereichen gibt es aber viele Fortschritte. Was die nobelpreisverdächtige Beantwortung der Frage nach den Mechanismen der echten Navigation (S. 166) anbelangt, haben K. Thorup und R. A. Holland kürzlich (Thorup u. Holland 2009) treffend formuliert: „Sogar nach Versetzungen über Tausende von Kilometern in zuvor unbekannte Gebiete können erfahrene Zugvögel ihre Rückflugrichtung schnell auf den Ausgangsort ausrichten, was die Existenz eines auf Erfahrung basierenden GPS dieser Vögel beweist … aber wir wissen nicht, wie sie das schaffen“ (eigene Übersetzung). Einige neue Bausteine sind etwa: Gekäfigte junge Teichrohrsänger zeigen nächtliche Dispersionsunruhe, und im Freien machen sie vor dem Wegzug nächtliche Rundflüge, wobei sie wohl ihr Kompasssystem entwickeln (Mukhin et al. 2005). Vögel der Arktis wandern in der Tat auf Orthodromen (S. 192), was ihren Zug beschleunigt (Alerstam et al. 2001), zumindest manche Singvögel eichen ihren Magnetkompass täglich, und zwar mit Hilfe von polarisiertem Licht in der Morgen- und Abenddämmerung (Cochran et al. 2004, Muheim et al. 2009). Die Fragen der Magnetfeldperzeption (S. 179) sind nach wie vor offen – also ob der Magnetometer eher im Auge und/oder Schnabel sitzt, ein Auge stärker beteiligt ist als das andere, Eisenoxiden oder Cryptochromen mehr Bedeutung zukommt, Zäpfchen für die Wahrnehmung von UV-Licht eine Rolle spielen – alles erfordert weitere Studien (z.B. Müller-Jung 2011). Thorup und Holland (lc.) empfehlen als Ausweg aus dem Dilemma eine konzertierte Aktion, bei der Laboruntersuchungen und Freilandstudien Hand in Hand gehen. Wohl wahr! Dabei ließen sich heutzutage selbst kleinste Etappen freifliegender Versuchsvögel mit Sendern so genau überwachen, dass irgendwann die entscheidenden Hinweise auf die wesentlichen Orientierungsgrundlagen zu erwarten sind – eine lohnende Aufgabe für ein großes Institut, die mit einem Nobelpreis gekrönt werden könnte.

Im „Ausblick“ des „Vogelzug“ hatte ich seinerzeit geschrieben: „Was Zugvögel und Vogelzugforschung anbelangt, befinden wir uns … in einer paradoxen Situation. Noch nie konnten … so viele neue Erkenntnisse über Zugvögel gewonnen werden … aber auch noch nie sind Zugvögel … so stark global in Gefährdung geraten“. Diese Diskrepanz hat sich seither nochmals dramatisch verstärkt. Weltweit ist nun bereits jede achte Vogelart im Fortbestand gefährdet (Berthold 2010); der Weltbestand an Brutvögeln dürfte inzwischen auf unter hundert Milliarden gesunken sein (Gaston et al. 2003, vergleiche S. 26), und Zugvögel sind weltweit am meisten von starkem Rückgang betroffen (z.B. Baker et al. 2004). Lebensraumzerstörungen, Folgeerscheinungen der Klimaerwärmung, Kunstlicht effekte u.a. haben dabei längst die Auswirkungen von Vogelfang und -jagd übertroffen, und neue Gefahren wie nahezu überall entstehende Windkraftanlagen (De Lucas et al. 2007) oder eine Eskalation der Klimaveränderungen könnten Vogelzug vielerorts nahezu zum Erlöschen bringen. Wir können heute zwar selbst kleinere Zugvögel rund ums Jahr lückenlos verfolgen (Bächler et al. 2010), aber wenn wir dabei zunehmend feststellen, dass sie weder erfolgreich brüten noch angemessen rasten und überwintern können, vermögen wir ihnen dennoch nicht zu helfen. Ganz sicher nicht zuletzt deshalb, weil sich sehr viele Forscher überhaupt nicht für Vogelschutz einsetzen. Sie forschen lieber, wobei man sich inzwischen oft fragen sollte, inwieweit von vielen dahinsiechenden Vogelpopulationen lediglich noch Artefakte ermittelt werden und ob nicht Forschung in enger Verbindung zu Schutzprogrammen wesentlich sinnvoller wäre.

Vogelzug

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