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Sommerferien in Mitau
ОглавлениеEinmal im Jahr, meist in den Sommerferien Juli-August besuchen wir die Großmutter in Mitau und bleiben dort mehrere Wochen. Fast zwei Tage dauert die endlos lange Eisenbahnfahrt von Dortmund-Dorstfeld nach Lettland; nachts schlafe ich als kleiner Junge im Gepäcknetz, während meine Mutter und die vier Jahre ältere Schwester Gertrud sich mit einem Platz auf der unbequemen Holzbank begnügen müssen. Mein Vater bleibt zu Hause; erstens bekommt er als Kokereiassistent nur zehn Tage Urlaub im Jahr, zweitens wäre die Fahrt für uns alle trotz des großmütterlichen Reisekostenzuschusses zu teuer. Sobald wir den Mitauer Bahnhofsvorplatz erreicht und eine der dort wartenden Pferdedroschken bestiegen haben, sind Hunger, Durst und Müdigkeit vergessen. Auf holprigem Pflaster geht es zum Markt, an der Trinitatiskirche vorbei, dann biegt der Kutscher links ab in die Doblensche Straße.
Großmutters Haus trägt die Nummer 8, es ist aus Holz gebaut, hat ein behäbiges Krüppelwalmdach und einen Giebelausbau über der Eingangstür. Rau und schneereich sollen die Winter in Lettland sein, deshalb besitzen die meisten Häuser hier Doppelfenster; um Zugluft und Kälte abzuhalten, werden die Scheiben im Oktober bis auf ein kleines Stück im Oberlicht zugeklebt; die Kleisterferien sind danach benannt. Der Schnee fällt in solchen Mengen, dass er am Ende des Winters mit Fuhrwerken aus der Stadt transportiert werden muss.
Rechts neben der Haustür hängt der eiserne Griff der Zugglocke; sie läutet eine Begrüßungszeremonie ein, die ich standhaft ertrage, einschließlich der lettischen Kosenamen wie Pinzing (Katerchen) und dergleichen. Über eine ausgetretene Sandsteinschwelle gelangt man in den Flur, wo der Weidenkorb steht, in dem Großmutter ihre Hüte aufbewahrt, prachtvolle Gebilde mit Schleiern und Straußenfedern, den sogenannten Pleureusen. Großmutter trägt immer einen Hut, wenn sie ausgeht; das bis zu den Schuhen reichende dunkle Kleid, der an einem Kettchen hängende Kneifer und die Lederhandtasche gehören zu ihrem Erscheinungsbild. Seit 1919 ist sie verwitwet, ich erinnere mich nicht, sie jemals in bunter Kleidung gesehen zu haben.
Vom Flur geht es in den Saal, wie das Wohnzimmer hier genannt wird; die Polstermöbel sind mit grünem Plüsch bezogen, haben lange, schwarze Fransen, gepolsterte Armlehnen und üppig geschwungene Beine. Auf der ovalen Platte des Mahagonitisches steht eine hohe, schlanke Vase aus Kristallglas, die sich besonders für langstielige Blumen wie Dahlien und Lilien eignet. Am Fenster über der kleinen Kommode hängt die «Toteninsel» von Arnold Böcklin, ein Farbdruck, hinter Glas und schwarz gerahmt, er gibt dem Raum eine eigenartige, melancholische Stimmung. Im Esszimmer nebenan befinden sich ein Ausziehtisch, Stühle und ein zweiteiliger Schrank, in dessen Fächern und Schubladen Haushaltsgerät, Geschirr, Bestecke aus schwerem russischen Silber und mehrere voluminöse Suppenlöffel untergebracht sind. Hier riecht es nach dem Brot, das auch im Schrank aufbewahrt wird. Beim Anschneiden versäumt Großmutter nie, nach russischer Art ein Kreuz mit dem Messer in das Brot einzuritzen. Altertümlich wirkt der Herd in der Kochküche; die sanitäre Einrichtung des Hauses besteht aus dem «Tantchen», einem Verschlag mit Plumpsklo – und aus einem Holzbottich, der als Badewanne dient.
In der linken Hälfte des Erdgeschosses wohnt Großmutter, die rechte teilen sich ihre unverheirateten Schwestern Wilhelmine und Charlotte; den beiden gehört Largo, ein großer, alter Hund, der immer müde ist und schläft. An die Mieter im Dachgeschoss, wo sich eine Vierzimmerwohnung und zwei Mansarden befinden, kann ich mich nicht erinnern. Zum Grundstück gehört ein gepflasterter Hof, an der Rückseite steht ein Schuppen für das Brennholz, mit dem die Kachelöfen geheizt werden, sie sorgen für gleichmäßige Wärme im Haus. In dem abgezäunten Gärtchen an der Schuppenwand ranken wilder Wein und Geißblatt, wachsen Sonnenblumen und Stockrosen, die Blüten sind das Ziel wilder Hummeln, bei deren Landung die Stiele heftig ins Schwanken geraten. Außerdem gibt es in Mitau Raupen mit langen, weichen Haaren, die ich mir gerne über den nackten Arm kriechen lasse. In einer Schublade des großmütterlichen Kleiderschranks liegt mein Spielzeug: ein Blechelefant, den man aufziehen kann und ein hölzernes Pferd auf Rädern, das beim Gezogenwerden den Kopf bewegt. Da wir nur einmal im Jahr nach Mitau fahren, warte ich immer sehnsüchtig darauf, das Pferd und den Blechelefanten wieder zu sehen.
Mitau – lettisch Jelgava – ist im Mittelalter eine befestigte Stadt und später Residenz der kurländischen Herzöge gewesen, dass Schloss mit der Fürstengruft und den verstaubten Särgen liegt zwischen Aa und Drixe. Auf dem Markt im Osten der Stadt werden Gemüse, Obst , Beeren, Pilze, Fisch, Gänse- und Hühnerküken, Tauben, Ferkel und junge Hunde verkauft. Nachts brechen die lettischen Bauern von ihren weit entfernt liegenden Höfen auf, zweimal wöchentlich erfüllt das Geklapper ein- und ausfahrender Marktwagen die Stadt. In Mitau gibt es aus Butter hergestellte Schmandbonbons; Piroggen, mit Fleisch oder Fisch gefüllte Teigtaschen; Kissel (die Betonung liegt auf der zweiten Silbe), einem angedickten Beerenpudding; Schmalunz, Apfelmus mit schaumig geschlagenem Eiweiß; Chalva, das aus reinem Sesam und Nüssen besteht und zum Tee gereicht wird. Besondere Anziehungspunkte für uns Kinder sind die Süßwarengeschäfte der Stadt, vor denen es schon auf dem Bürgersteig verführerisch nach Schokolade riecht; drinnen gehen uns die Augen über von all dem glänzenden, bunten Papier, den Schachteln und Verpackungen. – In Deutschland hat Adolf Hitler den ersten Vierjahresplan verkündet, Devisen sparende Ernährung wird propagiert, an einem Sonntag im Monat gibt es den sogenannten «Eintopf».
In Großmutters Saal hängen mehrere Ölgemälde, eins zeigt Ernst Adolf Gärtner, ihren Vater, der das Haus 1862 gekauft hat. Als junger Mann ist er aus dem litauischen Salliten nach Mitau gekommen, erst Schuster, dann Polizist, Wirt und Pensionsinhaber gewesen. Vor der Jahrhundertwende hat der Maler Max Arenz bei den Urgroßeltern gewohnt. Wenn er die Miete für das Dachzimmer nicht zahlen kann, begleicht er seine Schulden mit Portraits und Landschaften. So kommt es, dass die Familie ein Ahnenbild in Öl besitzt: dargestellt ist Ernst Adolf Gärtner im Halbprofil mit Backenbart. Er soll handwerklich sehr geschickt gewesen sein, Schnupftabakdosen aus Birkenrinde und zierliche Kinderschuhe angefertigt haben.
Hin und wieder, wenn die Erwachsenen auf den ersten Weltkrieg und die russische Revolution zu sprechen kommen, fällt ein Schatten auf das Mitauer Ferienidyll, 1917 sind der Zar und seine Familie ermordet, die Mitauer Herzöge aus den Särgen geholt und «hingerichtet» worden. Abenteuerlich gekleidete Soldaten ziehen durch die Straßen, nachts wird mit Fäusten und Gewehrkolben gegen die Fensterläden geschlagen. Als Sechzehnjährige vergräbt meine Mutter das silberne Besteck im Holzschuppen; da der Boden gefroren ist, reißt sie sich die Finger blutig. 1919 verhaften die Bolschewisten den Großvater, der ein Optikergeschäft in der Großen Straße besitzt, zweimal wird er vom Revolutionstribunal verhört. Als sich baltische, finnische und deutsche Truppen Mitau nähern, fliehen die «Roten» vor den «Weißen» und nehmen ihre Gefangenen als Geiseln mit. Vom Flecktyphus geschwächt bleibt der Großvater zurück; die Befreier finden ihn in der Nähe des Bahndamms der Eisenbahnstrecke Mitau-Riga. Ein lettischer Bauer bringt den Kranken auf einem Leiterwagen nach Hause, wo er am 25. März 1919 stirbt.
Mein Vater, der als MG-Schütze am 1. Weltkrieg teilgenommen hatte, schloss sich 1919 einem Freicorps an. Die «Eiserne Division» eroberte Mitau und wurde in der Stadt einquartiert, hier lernten sich die Eltern kennen. – 1936 fahren wir zum letzten Mal nach Lettland; um den «Korridor» durch Polen zu vermeiden, mit der Eisenbahn nach Swinemünde, dann mit dem Passagierdampfer «Kaiser» über die Ostsee bis Pillau und das letzte Stück von Königsberg mit der Bahn bis Mitau. Bewusster als die Jahre zuvor nehme ich Bilder und Stimmungen wahr, rieche das Wasser der Aa und der Drixe, das Leder der Kutschen, den Fisch auf dem Markt. Dann sind die Sommerferien zu Ende; ich gehe längst wieder zur Hohenzollernschule in Dorstfeld, am 19. November werden wir telegrafisch benachrichtigt, dass Großmutter gestorben ist.
Juni 2004 – mit der «baltic airline» sind wir von Berlin nach Riga geflogen und von dort mit einem Leihwagen ins vierzig Kilometer entfernte Mitau gefahren. In der Gegend des früheren Marktplatzes stellen wir den Wagen ab, machen uns mit Hilfe des Stadtplans auf die Suche nach der Doblenschen Straße und finden sie rasch. Nichts erinnert mehr an früher, das holprige Pflaster ist durch eine graue Teerdecke ersetzt worden. Zwischen Bürgersteig und Fahrbahn befindet sich ein Grünstreifen mit Schatten spendenden Bäumen, dahinter stehen dreistöckige, rote Siedlungshäuser. Wir gehen weiter, kommen an einem unbebauten, mit Maschendraht eingezäunten Grundstück vorbei; hier muss – laut Stadtplan – Großmutters Haus gestanden haben, im Winter 1944 soll es beim Einmarsch sowjetischer Truppen zerstört worden sein. Wir machen einen Abstecher zum Bahnhof, gerade ist ein Zug eingetroffen, mit laufendem Motor wartet ein Bus vor dem Empfangsgebäude, Menschen steigen ein. Sommerferien in Mitau, es war einmal …