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Die Hohenzollernschule
ОглавлениеNur wenige Schritte von unserm Haus entfernt lag die Hohenzollernschule; mein Schulweg führte an der Kolonialwarenhandlung Köhling vorbei, bog links ab und schon sah ich das rote Backsteingebäude, das 1911 erbaut und nach der preußischen Herrscherfamilie benannt worden war. Acht Klassenräume waren darin untergebracht, das Treppenhaus lag im Mitteltrakt; über dem Eingang befand sich das Amtszimmer, manchmal erschien dort ein Mann im Fenster und drohte mit dem Zeigefinger, sofort hörte das Rennen und Balgen unter ihm auf. Wer zum Rektor gerufen wurde, musste mit dem Schlimmsten rechnen; griffbereit lag der Rohrstock auf dem Aktenschrank. Sobald das Fenster wieder geschlossen worden war, ging das Rennen und Balgen weiter. Rings um den Schulhof standen mächtige, alte Linden, bei Regenwetter lief das Wasser in Strömen die Rinde entlang und sammelte sich auf dem Erdboden zu großen Pfützen, in denen wir unsere Papierschiffchen schwimmen ließen. Die älteren Jungen verdarben uns den Spaß und sprangen in Riesensätzen durch das Wasser; die Schiffchen kippten um und wir waren klatschnass.
1935 war ich als Sechsjähriger eingeschult worden, mein Klassenlehrer hieß Minter. Er war Jagdflieger im ersten Weltkrieg gewesen und erzählte gern aus dieser Zeit, beispielsweise von den ersten Flugapparaten, die nur ein paar Meter weit geflogen waren. Wenn Herr Minter sprach, sah man die Goldplomben in seinem Mund; der ehemalige Reserveoffizier war immer korrekt angezogen, auch bei der größten Hitze erlaubte er sich keine Nachlässigkeit, behielt den Rock an und kam nie ohne Schlips zur Schule. Hemdkragen und Manschetten waren blütenweiß, in den Knopflöchern steckten goldene Manschettenknöpfe. Wenn ich zum Geigenunterricht kam, öffnete mir Frau Minter manchmal die Wohnungstür; als ich ihr erzählte, dass wir bald wegzögen, nannte sie mich eine »treulose Tomate”; ich wusste nicht recht, was sie damit gemeint hatte. Herr Minter klärte mich auf; Tomate sei kein Schimpfwort, seine Frau nenne andere Leute auch so.
Das Klassenzimmer des ersten Schuljahres lag im Erdgeschoss, es hatte einen Holzfußboden, der regelmäßig geölt wurde und im Laufe der Zeit fast schwarz geworden war. An der Stirnseite des Raumes standen Tafel, Katheder, Schrank und ein Eisengestell mit Emaillebecken, in dem sich der Lehrer die Hände waschen konnte; unter dem Emaillebecken war der Spucknapf, den Herr Minter aber nie benutzte. Wir saßen in zwei etwa gleich großen Blöcken, Jungen und Mädchen aufgereiht wie Puppen, beide Hände hatten nebeneinander zu liegen. Keine Bewegung entging dem Lehrer; wie Gottvater thronte er auf seinem Stuhl hinter dem Katheder; hin und wieder stand er auf und ging durch die Bankreihen, sah nach, ob der Griffel angespitzt worden war und richtig gehalten wurde. – Geheizt wurde der Raum mit Hilfe eines fast zwei Meter hohen Kanonenofens, der täglich neu mit Koks gefüllt und zwischendurch gestocht werden musste; dies besorgte der Hausmeister, er füllte auch blaue Tinte für das Schönschreiben nach. Das Glasfläschchen befand sich neben der Griffelablage im oberen Teil des Pults, im Fach darunter lag der Tornister, an der linken Seite hing der Tafellappen. In einer Bakelit-Dose mit abschraubbarem Deckel befand sich das Schwämmchen, das immer feucht sein musste.
Einmal rief Herr Minter mich nach vorn, ich sollte ein Wort an die Tafel schreiben; beim Zurückgehen stolperte ich über ein ausgestrecktes Bein und schlug mir das Knie auf. Postwendend wurde der Übeltäter zur Rechenschaft gezogen. Zweiundvierzig Jungen und Mädchen sahen gespannt zu, wie die Strafe vollstreckt wurde. Wer sich bei solchen «Exekutionen» die Tränen verbiss, stand ganz oben in der Rangordnung der Klasse; Herr Minter beurteilte uns nach anderen Kriterien; gute Schüler wurden den weniger guten als leuchtende Beispiele vorgeführt, mussten Gedichte aufsagen oder schwierige Rechenaufgaben lösen. Einmal gehörte ich zu den Auserwählten und war sehr stolz, dass mir diese hohe Ehre widerfuhr.
Ich verglich Herrn Minter mit meinem Vater, der sich als Neunzehnjähriger freiwillig zur Kaiserlichen Armee gemeldet hatte und zweiter MG-Schütze an der Westfront gewesen war. Ein Foto zeigt ihn im schmucklosen Drillich des Rekruten; bäuchlings liegt er auf der Erde, vor sich das Maschinengewehr mit dem unförmigen Wasserkühler. Als ich nach Einzelheiten fragte, erzählte mein Vater, dass er die meiste Zeit im verschlammten Graben gehockt und Todesängste ausgestanden habe. Einmal sei er von einem Granatsplitter am Knie verletzt worden, dafür habe man ihm das Eiserne Kreuz zweiter Klasse verliehen. Ich dachte an den Lehrer Minter, der so spannend von den Luftkämpfen mit Engländern, Franzosen, Amerikanern und Kanadiern zu berichten wusste. – Als Herr Minter wieder einmal auf den ersten Weltkrieg zu sprechen kam, meldete ich mich zu Wort und erzählte von den Kriegserlebnissen meines Vaters. Herr Minter erhob sich von seinem Stuhl hinter dem Katheder und näherte sich meinen Platz. Nachdem ich geendet hatte, strich er mir mit der Hand über den Kopf, als wolle er mich trösten, weil mein Vater keine Heldentaten begangen habe.
Ich erinnere mich genau an den Tag; nach der großen Pause kam der Fotograf und knipste ein Klassenbild. Es zeigt das erste Schuljahr auf dem Schulhof der Hohenzollernschule; ganz rechts steht der Lehrer Minter, sein Jackett ist wie immer korrekt zugeknöpft, darunter trägt er ein weißes Hemd und eine Krawatte. Ganz links räkelt sich mein Freund Werner Pilz; Margret Weiß in der dritten Reihe trägt schon die Jungmädeluniform, obwohl sie noch viel zu jung ist, um in die Hitlerjugend aufgenommen zu werden. Einige Mädchen haben bunte Schleifen im Haar; die Jungen in der ersten Reihe sitzen oder knien; der Fünfte von links könnte der Bösewicht gewesen sein, der mir ein Beinchen gestellt hat. Natürlich habe ich ihm längst verziehen. Am 23. März 1937 verließ ich die Hohenzollernschule; Herr Minter strich meinen Namen im Klassenbuch durch und schrieb dahinter: Verzogen! Zum letzten Mal ging ich über den Schulhof, an der hölzernen Toilette vorbei, die rechts auf dem Klassenbild zu sehen ist. Wenn man an heißen Sommertagen in ihre Nähe kam, verströmte sie einen beißenden Gestank; in allen Farben schillernde Brummer bevölkerten das Teerdach.
Das kaiserzeitliche Schulgebäude ist nach dem zweiten Weltkrieg durch einen Anbau erweitert, der alte Eingang durch eine moderne Tür ersetzt worden. Ich werfe einen Blick durch die Glasscheibe, eine Putzfrau im bunten Kittel öffnet die Tür. Ich erkundige mich nach dem Lehrer Minter; reiche ihr das Klassenbild; nachsichtig lächelnd schüttelt sie den Kopf und gibt mir das Bild zurück.