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Der Nibelungenschatz
ОглавлениеIm Lesebuch für das dritte und vierte Schuljahr stand das Gedicht «Siegfrieds Schwert» von Ludwig Uhland; es hatte dreizehn leicht einprägsame Strophen und war von einem unbekannten Komponisten im Stil einer Volksweise vertont worden. «Jung Siegfried war ein stolzer Knab’, ging von den Vaters Burg hinab. / Wollt’ rasten nicht in Vaters Haus, wollt’ wandern in alle Welt hinaus!» sang ich laut und unbekümmert, wenn ich morgens zur Schule ging. Die Sonne schien, der Himmel war makellos blau und versprach einen schönen Sommertag; vielleicht gab es nach der vierten Stunde wieder Hitzefrei. – Nur mit einem Stecken bewaffnet verließ der abenteuerliche junge Mann das Elternhaus, verdingte sich bei einem Schmied und bat den Meister, ihm zu zeigen, wie ein gutes Schwert gemacht wurde. «Siegried den Hammer wohl schwingen kunnt, / er schlug den Amboss in den Grund; / er schlug, dass weit der Wald erklang / und alles Eisen in Stücke sprang.» Von der letzten Eisenstange schmiedete Siegfried ein Schwert, mit dem er Drachen und Riesen in Wald und Feld zu besiegen dachte.
Zwei Seiten weiter im Lesebuch stand die Sage vom «Hörnernen Siegfried», der Held erschlug einen Drachen, verbrannte ihn samt der giftigen Brut, bestrich sich den Körper mit der geschmolzenen Hornhaut und wurde unverletzbar. Danach befreite er Kriemhild, König Gibichs Tochter, aus der Gefangenschaft eines anderen, Feuer speienden Drachen, tötete ihn und den Riesen Kuperan und erwarb den Schatz der Nibelungen, eines Zwergenvolks, das unermessliche Reichtümer an Gold, Silber und Edelsteinen besaß. Vergeblich hatte der Zwergenkönig Eugel vor dem bösen Fluch gewarnt, der auf dem Schatz lag. In Worms heiratete Siegfried die schöne Kriemhild, erregte den Neid des Königs und seiner Brüder und wurde von Hagen hinterrücks mit dem Speer umgebracht.
Der Mord geschah während der Jagd; an einer Quelle im Wald hatte Siegfried sich nieder gebückt, um den Durst zu löschen. Die einzige verwundbare Stelle an seinem Körper befand sich zwischen den Schulterblättern und war durch ein Lindenblatt von der Hornhaut frei geblieben. – Ich trauerte mit Kriemhild um den Ermordeten, verzweifelte an Hagens gemeiner Tat, die mir wie der Sieg des Dunklen und Bösen über das Helle und Gute, verkörpert durch Siegfried, erschien. Kriemhild schwor ihren Brüdern und Hagen blutige Rache; über Nacht verwandelte sie sich in eine Furie. Schwarz verhüllt kniete sie neben Siegfrieds Leichnam, der in einer Kapelle aufgebahrt war; immer wieder sah ich mir das Bild im Lesebuch an.
Zum neunten Geburtstag bekam ich die «Deutschen Heldensagen» von Friedrich Blunck geschenkt, der die Nibelungensage in epischer Breite bis zum traurigen Ende erzählte. – Der heute fast vergessene Autor war im Dritten Reich «Präsident der Reichsschrifttumskammer» gewesen; seine 1938 im Knaur-Verlag Berlin erschienenen Heldensagen erreichten hohe Auflagen. – Alle Burgunden fanden den Tod am Hofe König Etzels, mit dem sich Kriemhild nach Siegfrieds Tod vermählt hatte. Einige Namen lauteten anders: Gibich hieß jetzt Gunther und aus Kuperan war Küperimloh geworden. An die altertümlich- gestelzte Sprache Friedrich Bluncks, den es «deuchte», wenn er etwas vermutete, musste ich mich erst gewöhnen; merkwürdig fand ich es, dass Siegfrieds Mutter «eines Knäbleins genas», als sie ihren Sohn zur Welt brachte. Begeistert war ich von Arthur Kampfs Illustrationen; auf einem Bild stand Hagen im schwankenden Boot und versenkte den Nibelungenschatz, den er heimlich an sich gebracht hatte, in den Fluten des Rheins. Ich beschloss, Altertumsforscher zu werden und den Schatz eines Tages zu bergen. So vernarrt war ich in meinen Plan, dass ich eine Zeitlang an nichts Anderes mehr dachte. Mein Vater bastelte mir ein Schwert aus Holz, es geriet etwas klobig und entsprach nicht ganz meinen Vorstellungen von der Kunstfertigkeit früherer Waffenschmiede. Hatten sie es doch verstanden, die Klinge so zu schärfen, dass ein im Wasser schwimmendes Wollbüschel glatt von ihr durchgeschnitten wurde. Ich focht zahlreiche Kämpfe mit dem Schwert aus und schlug alle Feinde in die Flucht. Mit meiner Mutter konnte ich nicht über Siegfried diskutieren, sie zog Bücher wie «Die Familie Pfäffling» von Agnes Sapper den Blunckschen Heldensagen vor. – Ich verwickelte meinen Vater, der müde von der Arbeit nach Hause kam, in hitzige Dispute. Er warnte mich, man dürfe nicht alles für bare Münze nehmen, was Friedrich Blunck erzähle. Höchst zweifelhaft sei es, ob der Schatz wirklich im Rhein liege; außerdem sei der Strom von der Quelle bis zur Mündung rund 1300 Kilometer lang, bei Köln mehr als fünfhundert Meter breit und tief genug für kleinere Seeschiffe.
Traute mir Vater nicht zu, ein paar Schmuckstücke – Ketten, Ringe, mit Edelsteinen verzierte Kronen und dergleichen – aus dem Fluss zu holen, obwohl ich dreißig Minuten schwimmen konnte, quer durch das Becken in der Badeanstalt tauchte und einen Kopfsprung vom Dreimeterbrett machte? Vater schlug eine Ortsbesichtigung in Xanten vor; Beschaffenheit der Rheinufer, Wassertemperatur, Strömung usw. mussten vor der Tauchaktion gründlich untersucht werden. Ich holte den «Auto-Atlas für Deutschland, die Schweiz und Italien» aus dem Bücherschrank und las nach, was im Ortsverzeichnis über Xanten zu lesen war. Zu meiner Genugtuung stellte ich fest, dass die Stadt bei Moers am Niederrhein «nach der Nibelungensage als Heimat Siegfrieds» bezeichnet wurde.
Mein Vater bekam zehn Werktage Urlaub im Jahr, einen Tag opferte er für die Exkursion an den Niederrhein. Die Sommerferien hatten gerade begonnen, am letzten Schultag waren wir vom Lehrer nach unseren Reiseplänen gefragt worden, ich gehörte zu den Auserwählten, die ein wenig über Westfalens Grenzen hinausspähen durften. In aller Herrgottsfrühe stiegen wir in den Personenzug 3. Klasse nach Xanten, die Fahrt schien endlos zu dauern, selbst im kleinsten Bahnhof hielt der Zug, schnaufte und setzte sich langsam wieder in Bewegung. Unterwegs bereitete mich mein Vater auf den Besuch vor, ich sollte nicht enttäuscht sein, wenn es in Xanten etwas anders aussähe, als ich mir vorgestellt habe. Vormittags kamen wir an: Xanten, damals noch ein Landstädtchen von rund fünftausend Einwohnern, interessierte mich herzlich wenig, trotz seiner alten Häuser, den Resten der Stadtmauer und dem Clever Stadttor. Vater wusste aus der Schulzeit, dass «Castra Vetera» Standlager zweier Legionen und Ausgangspunkt römischer Eroberungszüge nach Germanien gewesen war. Aber auch Varus und die Schlacht am Teutoburger Wald ließen mich kalt; ich suchte nach Siegfrieds Spuren, der väterlichen Burg, der Schmiede und dem Felsen mit der Drachenhöhle. Die ersten, leisen Zweifel wurden in mir wach. – Wir gingen in den Dom, wo sich das Märtyrergrab des heiligen Viktor und seiner Gefährten befand. Die mächtigen Türme überragten die kleine Stadt; es roch nach Weihrauch, der Kirchenraum war in mystisches Halbdunkel gehüllt; die bunten Glasfenster im Chor warfen Muster auf den Steinboden, nirgends gab es einen Hinweis auf den «hörnernen Siegfried» der Nibelungensage.
In der Buchhandlung am Dom kaufte mein Vater mir die Festschrift zum siebenhundertjährigen Jubiläum der Stadt, die 1928 in meinem Geburtsjahr erschienen war. Beim flüchtigen Durchlesen stellte ich fest, dass Siegfried dort nur ein einziges Mal kurz erwähnt wurde; die Enttäuschung wuchs. Mein Vater versuchte mir den Unterschied zwischen Sage und Geschichtsschreibung zu erklären; Sagen seien frei erfunden, Geschichtsschreibung beruhe auf Tatsachen. Beispielsweise hätten Tacitus und Livius wichtige Epochen der römischen Geschichte von der Gründung der Stadt Rom bis zu Kaiserzeit in ihren Werken behandelt und für die Nachwelt fest gehalten. – Zum Schluss des Ausflugs gingen wir zum Rhein, ich sah den mächtigen Strom zum ersten Mal und erschrak: wo sollte man hier mit dem Tauchen beginnen? Bei Worms, erzählte mein Vater, sei der Fluss etwas schmaler; er hob einen Kieselstein auf und überreichte ihn mir. «Versuch mal, wie weit du es schaffst», sagte er. Ich nahm Anlauf und warf, aber der Stein fiel nicht weit vom Ufer entfernt in das Rheinwasser, die kräftige Strömung zerstörte die Ringe, bevor sie sich ausbreiten konnten.
Am Ende des ereignisreichen Tages fuhren wir mit der Reichsbahn wieder nach Hause. Schweigend saß ich auf der ungepolsterten Holzbank, ließ die Bilder der niederrheinischen und westfälischen Landschaft an mir vorbei gleiten und nahm Abschied von der Sagenwelt, die mich lange in ihrem Bann gehalten hatte. Zu Hause angelangt, hängte ich das Schwert an einem Nagel über meinem Bett auf, dort hing es noch, als amerikanische Truppen unsere Stadt Ostern 1945 besetzten. Auf Anordnung des Stadtkommandanten mussten alle Schuss-, Hieb- und Stichwaffen im Rathaus abgegeben werden, bei Nichtbeachtung drohte Todesstrafe. Kurz entschlossen nahm meine Mutter das Schwert von der Wand und verbrannte es mit der Hakenkreuzfahne und der «NS-Frauen-Warte» unter dem Waschkessel. Sie tat es in der besten Absicht, ohne mich zu informieren; da mein Vater sich noch in russischer Kriegsgefangenschaft befand, konnte er das Holzschwert leider nicht retten.