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Der Garten

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Mein Vater war Kokereiassistent, sein Monatsgehalt betrug 337 Mark und 50 Pfennige. Große Sprünge waren damit nicht zu machen, es ging uns aber sehr viel besser als den sechs Millionen Arbeitslosen in Deutschland, die sich mit einem Bruchteil des Geldes begnügen mussten. (1931 erhielt ein stellungsloser Familienvater mit zwei Kindern rund zwanzig Mark Wohlfahrtsunterstützung im Monat). – Gewohnt haben wir in einem Vierfamilienhaus an der Wittener Straße; die Toilette befand sich auf halber Etage; nur wenige Meter vom Gartenzaun entfernt fuhr die Zechenbahn vorbei; in der langgezogenen Kurve kreischten die Räder besonders laut. Die Geräusche störten mich ebenso wenig wie der ständig herab rieselnde Kohlenstaub, die Russflocken und der Gestank nach faulen Eiern oder Teer. Wenn Koks «gedrückt», das heißt, maschinell ausgestoßen wurde, erhellte der von Rauch und Qualm begleitete Feuerschein minutenlang die Umgebung; fasziniert sah ich als sechsjähriger, gerade in die Schule gekommener Junge zu. Das Feuerwerk erlosch, wenn der Koks unter den Löschturm gefahren wurde; kurz darauf stieg eine mächtige, weiße Wasserdampfwolke in den Himmel.

Zwischen unserem und dem Nachbarhaus lag eine schmale, zugige Gasse, die uns als Spielplatz diente. Während die Fassade des Hauses stuckverziert war und einen Balkon hatte, bestanden Giebel- und Rückwand aus unverputztem Mauerwerk. Die schwarze Hochofenasche der Gasse hinterließ bei Stürzen schwer heilende Wunden. Ging beim Fußballspiel eine Kellerscheibe zu Bruch, kam Frau Hangebrauck – Stocheisen schwingend – aus der Parterrewohnung gerannt und verscheuchte uns; ständig hatte sie Angst, dass ein Ball über den Zaun flog und wir die geharkten Wege in ihrem Garten zertrampelten. Schauerlich hallte ihr Gekeife durch die Gasse; unsere Mütter steckten die Köpfe aus dem Fenster, trauten sich aber nicht, der alten Hexe einmal gehörig den Marsch zu blasen.

Um solchen Konflikten aus dem Wege zu gehen, überließ mein Vater unser winziges Gärtchen hinter dem Haus Frau Hangebrauck und pachtete ein Stück Land, das in der Nähe der Zechenhalde lag. Das hoch aufgeschüttete Gestein glühte inwendig wie ein Vulkan, Rauch stieg aus dem Krater und wurde vom Wind auseinander getrieben. – Mein Vater zäunte den Garten ein, rodete Weiden und Birken, die sich hier angesiedelt hatten, legte Beete an und säte Gras für eine kleine Wiese; zum Schluss baute er aus Dachlatten eine Laube und strich sie mit grünem Lack an. Im unteren Teil des Gartens lag das Gemüsestück, zwanzig mal zwanzig Meter groß, wie ich einer Skizze in der graumelierten Kladde meines Vaters entnehme, die ich von ihm geerbt habe. Beet römisch I war vorgesehen für späte Möhren und Kopfsalat Maikrone, Beet II für eine Reihe Dicke Bohnen und sechs Reihen Melde. Anregungen für den ertragreichen Gemüseanbau hatte mein Vater auf der Gartenbauausstellung (Gruga) in Essen bekommen. Rings um die Wiese blühten Sommerblumen, wilder Wein rankte an der luftigen Seite der Laube hoch, deren Einrichtung aus einem selbst geschreinerten Tisch und zwei Bänken bestand. Sonntagnachmittags tranken wir Kaffee in unserem Garten, die Verwandtschaft, Freunde und Bekannte kamen zu Besuch. In großen Abständen tauchte Willy Friedrich, ein Freund meines Vaters, mit dem Motorrad auf. Kaum vorstellbar war für meine Schwester und mich, dass er ganze Tage in seinem Segelboot auf dem Baldeneysee in Essen verbrachte. Für den Kunstmaler und Bohemien gab es weder feste Arbeitszeiten, noch die endlos langen 24-Stunden-Schichten, die ein Kokereiassistent in einem bestimmten Turnus ableisten musste.

Sehe ich mir Fotos aus dieser Zeit an, wirkt alles sehr friedlich; meine Mutter pflückt Erbsen im Garten, ich sitze Blockflöte spielend im Gras; solche Fotos liebte meine Mutter, es störte sie nicht, dass ich nur ein paar kümmerliche Töne auf Tante Olgas Blockflöte herausbrachte. In Schwesterntracht sitzt die Tante neben mir, sie ist Gemeindeschwester im thüringischen Kindelbrück und besucht uns gelegentlich. – Während wir uns im Garten aufhielten, marschierten deutsche Truppen ins Rheinland ein; bei den Olympischen Spielen gewannen unsere Athleten die meisten Goldmedaillen; die Autobahn wurde gebaut; 1938 holte der Führer Österreich «heim ins Reich». – Mein Vater nahm weder an Versammlungen noch an Aufmärschen der Partei teil, zeitweise hatte man den Eindruck, er versäume die glorreiche Zeit. – Wir Kinder rannten zum Wohnzimmerfenster, wenn die braunen Kolonnen im Gleichschritt am Haus vorbei marschierten, die Straße hatte sich in ein Meer von Hakenkreuzfahnen verwandelt. Eine festliche Stimmung lag über der Stadt, die Kolonnen zogen zum Marktplatz, wo Kundgebungen stattfanden und nationale Feiertage begangen wurden.

Die schönste Zeit für meine Schwester und mich begann Ende Juni, wenn die Knappkirschen reif wurden. Wir veranstalteten Wettbewerbe im Kerne-Spucken: wer seinen Stein aus einer bestimmten Entfernung über den Zaun spucken konnte, war Sieger. Es folgte die Himbeerernte, dann kamen rote und schwarze Johannisbeeren an die Reihe; im Spätsommer reiften Äpfel und Birnen heran. Den ganzen Sommer zogen wir mit dem Bollerwagen hinaus zum Garten und kehrten schwer beladen wieder zurück nach Hause. Vater nutzte die wenige Zeit, die ihm der Kokereidienst ließ, vertrieb die gefräßigen Karnickel aus dem Garten, indem er mit Benzol getränkte Lappen in ihre Gänge steckte, bestrich Obstbaumstämme mit gelöschtem Kalk, um sie vor den Raupen des Frostspanners zu schützen, schnitt Kronen, damit die Zweige Licht bekamen und nicht ineinander wuchsen.

Ein Höhepunkt des Jahres war die Kartoffelernte. Mit der Forke hob Vater die Stauden hoch und schüttelte die Erdklumpen ab, meine Schwester und ich lasen die Kartoffeln auf und brachten sie im Korb zum Bollerwagen. Eine Zeitlang blieb das Kartoffellaub auf dem Feld liegen und wurde dann verbrannt. In der Glut rösteten wir die Kartoffeln, aufpassen musste man, dass sie rechtzeitig aus dem Feuer geholt wurden. Mit einer Haarnadel prüfte meine Schwester, ob die Kartoffeln gar waren, vorsichtig wurde die Schale entfernt. Meine Mutter hatte Salz mitgebracht, es verlieh der Kartoffel erst den rechten Geschmack. Um die Kleidung zu schonen, hatten wir Schürzen vorgebunden. Hundemüde und intensiv nach Kartoffellaub riechend zogen wir abends nach Hause. Vor dem Abendbrot steckte Mutter uns in die Zinkwanne, sie wurde aus dem Keller geholt, in der Küche auf den Fußboden gestellt und mit heißem Wasser aus dem Einmachkessel gefüllt. Zum Waschen benutzten wir Kernseife, die Hände wurden mit der Wurzelbürste bearbeitet. Anschließend zogen wir das Nachthemd oder den Schlafanzug an und ließen den herrlichen Tag auf der Küchenbank ausklingen. Beim Abendbrot passte nicht mehr viel in unsere Mägen, vom Mittagessen waren ein paar Kartoffeln übrig geblieben, Mutter machte daraus Kartoffelpuffer. Eine Delikatesse waren auch Reibeplätzchen, die auf eine Scheibe Brot gelegt wurden und besser schmeckten als die teuerste Wurst der Welt.

Außer Kartoffeln wurden verschiedene Kohlsorten, Erbsen und Möhren, Bohnen, rote Beete, Zwiebeln, Gurken, Salat und Radieschen in unserem Garten geerntet. Im Vorratskeller füllten sich die Regale mit Weckgläsern, eingekocht wurden Birnen, Kirschen, Pflaumen und Apfelmus. Weißkohl verarbeitete meine Mutter zu Sauerkraut, Salzgurken wurden in Steintöpfen eingelegt; auf einem Holzrost lagerte das Trockenobst. Damit wir nicht in Versuchung kamen, von den Schätzen zu naschen, verwahrte Mutter den Kellerschlüssel an einem geheimen Ort auf. – Nachdem der Garten im Spätherbst umgegraben worden war, blieb er bis zum Frühjahr liegen, dann begann das Säen, Ernten und Einkochen von Neuem.

Im Frühjahr 1937 wurde mein Vater versetzt; eines Tages stand der Möbelwagen vor dem Haus, die Möbelpacker räumten unsere Wohnung leer. Ich ging noch einmal durch die Zimmer, um nachzusehen, ob etwas liegen geblieben war und warf einen wehmütigen Blick durchs Küchenfenster. Das Zechengelände war wie immer in Dampf und Rauch eingehüllt, der Weg zu unserem Garten führte am Friedhof vorbei, dahinter lagen Zeche und Kokerei. Im neuen Haus bekam ich ein eigenes Zimmer, wir hatten jetzt ein gekacheltes Bad mit WC , aus dem Kran floss kaltes und heißes Wasser. Im nahe gelegenen Wald konnte ich stundenlang umherstreifen; es dauerte seine Zeit, bis ich mich an die neue Umgebung gewöhnt hatte. Die Erwachsenen lächelten über mein Heimweh; ich vermisste die Hohenzollernschule, den Lehrer Minter, meinen Freund Werner Pilz und Gisela Tubesing, das schönste Mädchen in der Klasse. «Wie tief stecken sie in ihren Herkünften. Alles was sie wissen, fängt dort an», sagt Hans Magnus Enzensberger.

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