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Ich bin übrigens ein sehr verschiedener Mensch«, sagte Ewald Thoben.

Lächeln tut er nicht, überlegte Nanno. Ich soll mir also etwas dabei denken. Er legte den Kopf in den Nacken und musterte den kräftigen Mann, der die Schwelle zum Alter erreicht hatte, sich aber eindeutig weigerte, sie zu überschreiten. Thobens kantiges Gesicht schien nur aus eingebrannten Falten zu bestehen, vor allem um die schmalen Augen herum. Ein Eindruck, der sich verstärkte, wenn der Kapitän lächelte.

Was er gerade jetzt aber nicht tat.

Nanno Taddigs kannte das Spielchen: Wer anders ist als die anderen und außerdem selbstbewusst, der provoziert. Dadurch erfährt er viel über sein Gegenüber, schnell und direkt. Zum Beispiel über seinen neuen Untermieter.

Nanno kannte natürlich auch die Gerüchte, die über Thoben in Umlauf waren. Ein Einzelgänger, kauzig, unberechenbar. Gefährlich sogar. Angeblich hatte er damals, als seine Frau gestorben war, auf den Notarztwagen geschossen. Der Doktor hätte keine Anzeige erstattet, weil ihm der Mann leid getan hatte, hieß es. Außerdem wurde erzählt, der Arzt sei ein Kurpfuscher, dem gehörte längst mal eins auf den Pelz gebrannt. Gut zwei Jahre war das nun her. Wenn’s denn so gewesen war.

»Genau genommen ist doch jeder verschieden«, sagte Nanno. »Doppelt verschieden sogar. Verschieden von allen anderen und verschieden von sich selbst. Niemand ist immer ganz derselbe.«

Thoben lächelte. »Seh’ ich auch so. Aber gut gesagt, Sie!« Er stand auf. »Dann will ich Ihnen mal die Butze zeigen.«

Nanno griff in die Räder, dirigierte sich hinter dem plüsch­deckigen Esstisch hervor, gab Doppelschub und ließ seinen schmalen Sportrollstuhl schnell und exakt durch die aufgehaltene Tür sausen. Die Neunziggradkehre im Flur erzeugte ein leises Quietschen. Jeder hat so seine Methoden, dachte Nanno.

Falls der Kapitän von diesem Manöver beeindruckt war, so ließ er es sich nicht anmerken.

Von der Vorderküche, dem ostfriesischen Alltags-Esszimmer, ging es über den Flur, von dessen Wänden blau bemalte Kacheln leuchteten, Richtung Diele. Nirgendwo Türschwellen, registrierte Nanno. Und hinter der Tür, wo eigentlich die Diele hätte sein sollen, fing eine zweite Wohnung an. Komplett neu eingebaut oder höchstens ein paar Jahre alt. Extrabreite Türen. Nanno öffnete die erste rechts: ein Badezimmer mit sensationellen Abmessungen und allen Behinderten-Einrichtungen. Inklusive Wannenkran. Er kippte seinen Stuhl auf die Hinterräder, wirbelte herum und schaute den Kapitän an. Der wich seinem Blick aus. »Kommen Sie man mit nach achtern«, knurrte er und ging voraus ins Wohnzimmer. Zielsicher öffnete er eine Klappe der niedrigen Anrichte und griff nach deren einzigem Inhalt, einer grünlich schimmernden Flasche und zwei kleinen Gläsern.

Dass er den Kräuterschnaps ablehnte, nahm Thoben nicht krumm. Ein Punkt für ihn, dachte Nanno. Sein komplizierter Tagesablauf vertrug sich nun einmal nicht mit Alkohol. Und seine Selbstachtung auch nicht. Er konnte nicht begreifen, dass viele Fußgänger ihre Privilegien einfach wegwarfen, dass es Leute gab, die soffen und soffen, bis ihre gesunden Beine lahm waren. Er hatte sich geschworen, dass er das niemals begreifen würde, ganz egal, welche Rolle der Alkohol in seinem eigenen Früher gespielt hatte. Ein saufender Rolli machte sich selbst zum Säugling.

Der Kapitän trank, dann stellte er die Flasche unter den Tisch des kleinen Wohnzimmers, drehte das tulpenförmige Glas auf der Stelle und blickte hinein, während er erzählte. »Vor sechs Jahren ging das mit meiner Mutter los. War ja schon eine alte Frau. Da haben wir das alles bauen lassen, Platz war ja genug in der riesigen Diele. Damit sie klarkommt. Hier sollte eine Pflegerin wohnen können, falls meine Frau das nicht mehr schaffte. Wohnzimmer, Schlafzimmer, kleine Küche. Na, und eben das Bad. Aber vor drei Jahren ist Mutter dann gestorben.« Er schien nach der Flasche angeln zu wollen, legte seine linke Hand aber sofort wieder auf die Tischplatte und drehte weiter am Glas.

»Und dann ist meine Frau auch krank geworden, sofort hinterher. Musste auch in den Rollstuhl. Damals war ich ja schon zu Hause, bin nicht mehr gefahren. Ich wollte sie alleine pflegen. Da hab ich dann erst gemerkt, was das heißt, und wie das gewesen sein muss für sie, allein mit meiner Mutter, drei Jahre lang.« Er räusperte sich und richtete seinen Oberkörper auf. Seine Stimme klang wieder fester. »Vor zwei Jahren ist sie dann auch gestorben, ganz schnell. Und ich glaube heute noch, es hätte nicht sein müssen. Na ja. Erst wollte ich ja von dem ganzen Kram hier nichts mehr wissen. Vermieten sowieso nicht. Aber das ist natürlich Unsinn. Und als ich dann gehört habe, dass Sie suchen, hab ich gedacht, kannst ja mal was sagen.«

Nanno hatte Übung darin, Gefühle zu deuten. In den letzten sechs Jahren hatte er genügend falsche serviert bekommen. Er nickte: »Echt nett von Ihnen.«

Die Räume lagen rechts und links vom Flur, an dessen Ende eine breite Holztür in den Garten führte. »Da haben Sie Ihren eigenen Ausgang«, sagte Thoben. »Fester Plattenweg zur Auffahrt, da können Sie auch parken. Mein Wagen steht immer unterm Carport vorm Haus.«

Nanno mochte es, wenn auf diese Art über seine Bedürfnisse gesprochen wurde. Immerhin war seine Behinderung Fakt, und sein Alltag war an Bedingungen geknüpft.

»Die Tür nach drinnen wird natürlich dichtgemacht«, fügte der Kapitän hinzu. Daran hatte Nanno schon gar nicht mehr gedacht.

Die Zimmer schienen nach dem Ikea-Katalog möbliert zu sein. Alles in allem aber gut zu ertragen. Dort, neben der niedrigen Couch, konnte er seine Musikinstrumente aufhängen: Gitarre, Mandoline, Mandoloncello. Die Hängeschränke in der kleinen Küche, in die sein Stuhl gerade gut hineinpasste, waren natürlich unerreichbar, aber mit den unteren Stauräumen würde er leicht auskommen. Und es gab eine kleine Spülmaschine.

»Was soll’s denn kosten?«

Thoben zuckte die Achseln. »Zweihundert?«

Das war fast geschenkt, selbst wenn man bedachte, dass dies hier ein Fehndorf war und nicht die Innenstadt von Leer.

»Ich muss da nicht von leben«, sagte Thoben.

Scharfer Beobachter, dachte Nanno und nickte: »Alles klar von mir aus.« Er drückte die ausgestreckte Hand des Kapitäns und verkniff sich die Frage nach einem Mietvertrag, weil er sie unpassend fand.

Hinter dem Haus war eine großzügige Terrasse mit Sonnenschirmständer, abgedecktem Grill und dem unvermeidlichen Windschutz. Straße und Haus lagen etwa drei Meter höher als der Garten und der Hammrich dahinter. Nanno genoss den Ausblick.

»Wie weit geht denn Ihr Grundstück?«, fragte er, als ihm auffiel, dass es keinen Zaun gab.

»Bis da hinter dem Schuppen«, sagte Thoben.

Das war allerdings gewaltig. Dieser Wellblechschuppen im Nissenhütten-Stil, halbrohrförmig und an die vierzig Meter lang, war bestimmt zweihundertfünfzig Meter entfernt.

»Was ist denn da drin? Ackergeräte?«, fragte Nanno.

»Och, alter Kram.« Thoben winkte ab. Dann ging er in Richtung Auffahrt, Nanno folgte. Die Vollgummireifen schmatzten leise auf den feuchten Waschbetonplatten.

»Früher hatten wir ja noch viel mehr Land«, erzählte der Kapitän, als er neben Nannos Golf Position bezogen hatte, wohlüberlegte anderthalb Schritt von der Fahrertür entfernt. »Ich stamme ja aus einer reinen Bauernfamilie. Witzig, was? Aber das ist ja nun lange vorbei.«

Nanno lächelte, während er seinen Rollstuhl zur Beifahrertür lenkte. »Viele Leute denken, sie tun mir einen Gefallen, wenn sie beim Parken auf meiner Fahrerseite besonders viel Abstand halten«, sagte er. »Dabei brauche ich den Platz auf der anderen Seite. Sonst könnte das ja mit dem Stuhl gar nicht klappen.«

Er hatte die rechte Tür geöffnet, den Rollstuhl neben den Beifahrersitz rangiert und die Räder blockiert. Jetzt stemmte er seinen Körper hoch, setzte sich auf die linke Seitenlehne des Stuhls, stützte den linken Arm auf den Autositz, drückte und schwang sich hinein. Nanno war jung, kräftig, schlank und geübt, daher hatte das Manöver eine gewisse Eleganz. Seine schlaffen dünnen Beine zog er mit den Händen nach, einzeln und vorsichtig. Es war unglaublich, wie schnell man sich an diesen leblosen Anhängseln verletzen konnte. Dann rutschte er weiter zur Mitte und bugsierte die Beine in den Fußraum auf der Fahrerseite. Als er saß, beugte er sich zurück, löste die Sitzsperren des Rollstuhls, klappte ihn zusammen, zog ihn hinein und stellte ihn vor den Beifahrersitz.

Der Kapitän klopfte zum Abschied aufs Dach: »Dann man bis morgen!«

Nanno grüßte mit dem Kopf zurück. Seine Hände brauchte er zum Fahren. Bis zur Durchgangsstraße ging es ein paar hundert Meter geradeaus. Im Radio begannen gerade die Elf-Uhr-Nachrichten. Immer noch nichts Neues über das Windrad-Attentat, nur das übliche Geschwätz von ein paar schrecklich empörten Politikern. Nanno schüttelte den Kopf. Als er an der Ecke kurz anhielt, sah er im Rückspiegel, dass auch Thoben in seinen Wagen stieg.

Ebbe und Blut

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