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Melanie Mensing blickte dem Lieferwagen nach, der sich in die Autoschlange Richtung Innenstadt gequetscht hatte und jetzt nach und nach vom diesigen Morgengrau verwischt wurde. Sie verharrte in ihrer Haltung, auch als der eckige weiße Kasten schon lange nicht mehr zu sehen war, die linke Schulter an der weißen Raufasertapete, den linken Unterarm in die Beuge des rechten gelegt, zwei Finger ihrer schmalen rechten Hand an der Gardinenkante. Alles an ihr war schmal. Lang, schmal, hell und fein. Ihr ganzes Äußeres signalisierte Zerbrechlichkeit. Dass sie bis vor kurzem eine ziemlich erfolgreiche Leichtathletin gewesen war, Kreismeisterin im Hochsprung sogar, hatte daran nichts geändert.

Der wabernde Jaulton des Telefons ließ sie zusammenzucken. Sie trat einen Schritt zurück ins Zimmer, so ansatzlos, schnell und fließend, dass sich die Gardine einen Wimpernschlag lang schwerefrei zu bauschen schien, wie von einem Windstoß getragen, ehe sie in die Senkrechte pendelte. Melanie Mensings Körper, gerade noch völlig gelöst und ruhend, war von einem Moment auf den anderen von Unrast erfüllt, wirkte plötzlich angespannt und fluchtbereit. Ihre Eigenart, sich selbst beim Stillstehen in jedem bewussten Moment und scheinbar mit jedem Körperteil, mit jedem einzelnen Muskel zu bewegen, minimal nur, aber deutlich wahrnehmbar, hatte ihr früher in der Schule den Spitznamen »Vollblut« eingetragen, ein Name, der in einem merkwürdigen Gegensatz zu ihrer fast albinohaften Blässe stand. Seit der Geburt ihrer Kinder hatten sich die Signale der Ruhelosigkeit noch verstärkt.

Sie starrte über das schwarze Telefon hinweg auf die Kinderzeichnungen an der Wand, bewegte beim Zählen der Klingeltöne lautlos die Lippen: dreizehn, vierzehn. Stille. Hartnäckig, dachte sie. Ja, das ist er. Dann ging sie in die Küche, mit langen, unhörbaren Schritten auf dicken, grauen Socken, und begann den Frühstückstisch abzuräumen.

Die Zwillinge hatte sie schon in den Kindergarten gebracht, dort würden sie bis nach dem Mittagessen bleiben. Sie hatte also ein paar Stunden relativer Ruhe, bis gegen Mittag, dann wollte Toni im Laden abgelöst werden. Jetzt, da die Kinder schon vier Jahre alt waren, wurde manches leichter. In den ersten Jahren hatte sie oft gezweifelt, ob sie das aushalten konnte. Es war einfach eine Lüge, dass Frauen zu Müttern wurden, nur weil sie Kinder bekamen. Als sie damals das Ausmaß ihrer Hilflosigkeit erkannt hatte, war die Folge ein Entsetzen gewesen, das seither zwar verblasst war, aber unauslöschlich schien. Dass Tonis Mutter geholfen hatte und das auch heute noch tat, im Haushalt und mit den Zwillingen genauso wie im Laden, hatte sie vor dem Zusammenbruch bewahrt, die Situation aber nicht grundlegend verändert. Die ewige Angst zu versagen lag wie ein gusseiserner Deckel auf ihrer Liebe zu den Kindern. Und zu ihrem Mann.

Sie spülte gerade, als das Telefon erneut anschlug. Wieder klingelte es vierzehnmal, dann war Stille. Er ist fest und konstant, dachte sie. Aber auch berechenbar? Die feinen, blonden Härchen auf ihren Unterarmen stellten sich auf. Für einen Augenblick wich der abwesende Ausdruck aus ihrem Gesicht. Sie tauchte die Hände ins heiße Wasser, aber die Gänsehaut blieb.

Ebbe und Blut

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