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In den Sieben-Uhr-Nachrichten brachten sie noch kein Wort. Toni Mensing blieb im Wagen sitzen und wartete den Wetterbericht ab, um sich zu vergewissern. Durch die mühsam freigekratzte Scheibe musterte er kritisch die Fassade seines Geschäfts. Es hieß immer noch Öko-Laden, obwohl der Begriff »Öko« doch längst missbraucht und gründlich entwertet war. Von der hölzernen Tafel über dem breiten, beschlagenen Schaufenster blätterte schon wieder die Farbe, dabei hatte er sie letzten Herbst erst ausgebessert. Die schwarzen, bauchigen Buchstaben auf weißem Grund, flankiert von Graugans-Silhouette und Sonnenblume, sahen mehr denn je aus wie eine Kinderzeichnung auf einem Grünen-Plakat der frühen achtziger Jahre.

Seufzend stieg Mensing aus, der kaputte Sitz ächzte mit. Das weiße, eingeschmutzte Auto trug an den Seitenwänden den gleichen Schriftzug wie das Ladenschild, handbreit blank eingerahmt, dort, wo er letzte Nacht die Klebestreifenreste der Tarnabdeckung entfernt hatte. ›Jetzt muss ich die Scheißkarre auch noch waschen‹, dachte er grimmig, während er die mehrfach geschweißte Seitentür in ihren knirschenden Roll­schienen nach hinten riss. Negative Dialektik des Schmut­zes: Wenn’s irgendwo ein bisschen sauber ist, sieht alles andere gleich noch viel dreckiger aus. Am liebsten hätte er überhaupt kein Auto gehabt, aus Prinzip. Aber ohne ging es ja nun einmal nicht.

Er stellte die Kunststoffpaletten in den feinkörnigen Schnee vor der gläsernen Ladentür, die von innen dicht mit Plakaten, Flugblättern, Unterschriftenlisten, Mitfahrangeboten und Wohnungswünschen verhängt war, wuchtete die Milchkannen aus dem Auto, schloss dann auf und trug das Gemüse so schnell wie möglich aus dem Lieferwagen in den Verkaufsraum. Immer noch war es mindestens acht Grad unter Null. So kalt war es in Ostfriesland selten, und schon gar nicht wochenlang. Dieser Winter war noch kälter als sein auch schon grimmiger Vorgänger, und es hieß, er habe die Chance, als kältester seit 1969 in die Statistik einzugehen.

Jetzt allerdings hatte der Wind nachgelassen und man spürte die Kälte nicht so wie letzte Nacht.

Letzte Nacht. Er lächelte grimmig, als er die Kisten und Kannen hereinholte. Dann schloss er von innen ab.

Den Duft, den der Laden ausströmte, liebte er immer noch. Diese Grundierung aus Holz, Frucht und Erde, abwechselnd überlagert von frischem Brot, Teearoma, Kräutern, Milch und Käse oder Naturkosmetik. Jetzt gerade herrschte allerdings eine leicht modrige Note vor. Toni Mensing seufzte erneut und machte sich daran, die hölzernen Gemüsekisten durchzumustern.

Das Angebot an heimischem Obst und Gemüse war Anfang Februar naturgemäß dürftig. Daneben leuchteten Kiwis, Zitronen und Orangen in den Regalen. Importware, aus giftfreiem, naturnahem, kontrolliertem Anbau rund ums Mittelmeer. Jedenfalls hatte er sich angewöhnt, seinen Kunden das zu versichern. Zu kontrollieren war da natürlich überhaupt nichts. Und diese Transporte über Hunderte, Tausende von Kilometern, das war doch genau der Energie-Wahnsinn, den er bekämpfen wollte. Prinzipiell. Aber mit so einem Geschäft war es wie mit der Politik. Nach fünf Monaten damals war sein Prinzipienladen praktisch pleite gewesen, obwohl es doch in ganz Emden und Umgebung keine einschlägige Konkurrenz gab, und hatte nach Kompromissen verlangt. Kompromiss oder Pleite. So lief das nun seit Jahren.

Schon halb acht durch, und er musste noch das Brot holen. Er zog sich die Steppjacke wieder an, nahm Mütze, Handschuhe und Schal von der Heizung. Dann fiel ihm der Schnee wieder ein. Verdammte Räumpflicht. Er stopfte alles in die Jackentaschen und ging quer durch den Laden in den zweiten Verkaufsraum. Seit einem knappen Jahr wurden hier Schafwolle, giftfreie Farben, Flickenteppiche, Töpferwaren und dergleichen angeboten. Hinter dem Ladentisch war der Durchgang zum Innenhof, und dort stand der Besen. Als Toni Mensing das schmutzige Ding zurück durch die Geschäftsräume trug, ängstlich darauf bedacht, dass kein Tropfen auf die wachslasierten Dielen fiel, kam er sich wieder einmal schrecklich umständlich und unpraktisch vor. Obwohl er beim besten Willen nicht sagen konnte, wo der Besen denn sonst hätte stehen können.

Er fegte den Bürgersteig vor der Ladenfront bahnenweise frei, stieß den Besen im Vorwärtsgehen unnötig kraftvoll und ungeduldig nach links, immer zur Straße hin, wo die Autos inzwischen Stoßstange an Stoßstange vorbeikrochen. Beim Regenwasserrohr verlief die Grundstücksgrenze, das war leicht zu erkennen, weil der Nachbar das Schneefegen schon wieder früher besorgt hatte als er. Toni Mensing machte kehrt, fegte jetzt nach rechts, seine schmalhüftigen Einsneunzig leicht vorgebeugt. Wieder nahm er sich vor, endlich einen Besen mit längerem Stiel zu kaufen. Als er fertig war, konnte er sich nur mit Mühe aufrichten. Rund um den deformierten Lendenwirbel, der neulich auf den Röntgenbildern ausgesehen hatte wie ein abgetretener Stiefelabsatz, tat sein Rücken höllisch weh.

Eine Minute vor acht. Er rüttelte an der Ladentür, obwohl er genau wusste, dass er sie hinter sich abgeschlossen hatte, und stellte den Besen daneben. Dann stieg er in den Lieferwagen, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und drehte das Radio an. Jetzt brachten sie es. »In der vergangenen Nacht hat sich von einer Windkraftanlage bei Visquard in der ostfriesischen Gemeinde Krummhörn der Rotor gelöst und ist zur Erde gestürzt. Verletzt wurde niemand. Nach Angaben eines Sprechers der Betreiberfirma kann die Schadenssumme noch nicht endgültig beziffert werden, es sei jedoch von einem Totalschaden an der 400 000 Euro teuren Anlage auszugehen. Auch die Ursachen des Unglücks sind noch unklar.«

Toni Mensing startete den Diesel. Unglück! Konnte es sein, dass die Bowindra die Sache vertuschte? Unsinn. Ein Unfall würde gegen ihr eigenes Produkt sprechen. Wahrscheinlich haben sie einfach noch nichts gemerkt. Kommt schon noch, dachte er und ließ den Wagen anrollen.

Ebbe und Blut

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