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5.

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Lüppo Buss hatte kaum den Telefonhörer aus der Hand gelegt, als sich die Tür öffnete. Er wusste, wer da kam, und wappnete sich. Aber dann schaffte er es doch nicht, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten.

»Stahnke! Na, nichts los in Leer, dass sie dir schon wieder Erholung an der Seeluft verordnet haben?«

»Moin.« Der massige Mann schob sich in das Polizeibüro An der Kaapdüne, blickte sich um und verzog den Mund. »Hier könntet ihr auch mal streichen«, brummte er. »Wenn ihr schon sonst nichts zu tun habt.« Er griff nach dem Besucherstuhl und schlenzte ihn dichter vor den Schreibtisch mit der auf Hochglanz polierten Platte. »Und Tee gibt es wohl auch nicht mehr.« Ächzend ließ sich der Hauptkommissar auf den Stuhl sinken. Der ächzte zurück.

»Tee, ja?« Lüppo Buss schmunzelte. »Ich wusste doch, dass du nicht zum Arbeiten hier bist.«

»Ganz im Gegenteil. Tee gehört zum Arbeitsmodus. Ich bin Ostfriese, und Ostfriesen laufen auf Tee. Tagsüber jedenfalls.« Jetzt grinste auch Stahnke: »Solltest du doch wissen, alter Inselsheriff.«

Lüppo Buss’ Drehstuhl hatte Rollen, so musste er sich nur kurz mit dem Fuß abstoßen, schon hatte er den kleinen Aktenschrank, der als Anrichte diente, in Reichweite. Der Wasserkocher war gefüllt, er musste nur die Taste drücken. Alles andere war ebenfalls vorbereitet.

Lüppo Buss war glücklich. Und das nicht etwa aus Vorfreude auf den Tee. Es war ihm richtig peinlich, aber als ihm die vorgesetzte Dienststelle vorhin mitgeteilt hatte, dass weder Aurich noch Wittmund ein Team entbehren konnten und man deshalb die Inspektion Leer/Emden um Amtshilfe gebeten hatte, da war es ihm warm den Rücken hinuntergelaufen. Hoffentlich Stahnke, hatte er gedacht, so inständig wie ein Kind vor Weihnachten. Und die Bescherung war gekommen.

»Bis das Wasser kocht, kannst du mich ja auf Stand bringen«, brummelte der breite, stoppelköpfige Mann auf der anderen Seite des Tisches. »Was habt ihr bis jetzt?«

»Robin Seefeld, 23 Jahre, engagierter Umweltschützer, Grüner, als Student in Oldenburg eingeschrieben. Sammelt Strandgut, produziert und verkauft Kunstobjekte. Überwiegend online.« Der Inselpolizist fasste zusammen. Das konnte er gut. Noch ehe der Wasserkocher zu summen und zu brodeln begann, war er mit seinem Abriss fertig.

»Beim Spülfeld also«, wiederholte Stahnke, was Lüppo Buss zum Fundort der Leiche referiert hatte. »Gefährliches Geläuf. Wer da nicht aufpasst, versinkt wie in Treibsand. Unfall ausgeschlossen?«

»Ja, allerdings. Hundertprozentig.« Der Oberkommissar goss das sprudelnd heiße Wasser über die Teeblätter in der bauchigen Kanne und stellte das Teesieb bereit. Beuteltee kam für ihn natürlich nicht in Frage. Kluntjes fielen klingelnd in die Porzellanbecher.

»Weil?«

Lüppo Buss setzte die Kanne heftiger als beabsichtigt auf das Stövchen; es schepperte, der Kannendeckel klirrte. Dann ließ er seinen Drehstuhl herumschwingen, bis er seinem Gegenüber direkt in die wasserblauen Augen schauen konnte. »Weil«, sagte er, »der Tote gefesselt war. Kabelbinder. Weil er eine Reihe von Verletzungen aufwies, alle prämortal. Weil er Würgemale am Hals hatte. Und weil …« Der Oberkommissar unterbrach sich; sein Husten klang unecht.

»Würgemale? Todesursächlich?«, fragte Stahnke. Er spielte das Spiel mit. Lüppo würde schon sagen, was zu sagen war. Alles zu seiner Zeit.

Der Inselpolizist schüttelte den Kopf. »Jemand hat dem Opfer etwas eingeflößt«, sagte er mit heiserer Stimme. Wieder hustete er. Dann schluckte er hörbar. Und schwieg.

Stahnke wartete. Dann fragte er: »Was macht unser Tee?«

»Ach ja.« Wieder schwang sich Lüppo Buss auf seinem Stuhl herum, griff nach Kanne und Sieb, füllte zwei Becher, die so gar nicht dem ostfriesischen Ritual entsprachen. Dafür knisterte es vorschriftsmäßig, als der heiße Tee auf die Kluntjes traf. »Sahne nimmst du dir selbst?«

Stahnke nickte. Es war nicht leicht, in solch einem Becher ein Sahnewölkchen entstehen zu lassen, aber er bekam es hin. Fasziniert blickte er auf das langsam rotierende Etwas. Sahne-Galaxis im Tee-Universum.

Der Hauptkommissar pustete in seine Tasse und zerstörte damit das Bild. »Etwas eingeflößt«, wiederholte er dann. »Was?«

Die Bürotür öffnete sich, und herein schwebte eine Gestalt, die nicht von dieser Welt zu stammen schien. Nicht einmal aus dieser Galaxis. Sahneweiße Haare, vom Inselwind zu einem Wölkchen zerwühlt, krönten ein hageres, braungedörrtes Gesicht, das zu Andy Warhol gepasst hätte, wenn der zu Lebzeiten jemals in die Sonne gegangen wäre. Der restliche Körper schien wahlweise zu einem unterernährten Marathonläufer oder zu einer Mumie zu gehören. Falls nicht zu einem Alien, so wie der Rest.

»Moin, Herr Doktor.« Stahnke betrachtete den Gerichtsmediziner mit der gleichen Faszination wie beim Erstkontakt, der Jahrzehnte zurückliegen musste. »Auch eine Tasse Tee? Sie sehen so aus, als könnten Sie eine Rehydrierung gebrauchen.«

»Mit Vergnügen, Herr Hauptkommissar«, hauchte Dr. Mergner. Seine geisterhafte Stimme schien ihren Ursprung noch eine Galaxis weiter weg zu haben.

Der Inselkommissar goss erst heißes Wasser in die Kanne nach, ehe er einen dritten Porzellanbecher füllte. Dass Stahnke ihm die Gastgeberrolle entrissen hatte, störte ihn nicht. Wichtiger war, dass er durch Mergners Erscheinen eine weitere Rolle losgeworden war. Die des Berichterstatters.

Wie der Doktor es fertig brachte, den heißen Tee lautlos und ohne sich die Lippen zu verbrühen zu trinken, war für Stahnke ein weiteres Faszinosum. Er selbst schaffte das nicht. Andererseits, tröstete er sich, war es auch gar nicht sicher, ob dieses mumifizierte Gesicht überhaupt Lippen besaß. Sichtbare jedenfalls nicht.

»Dem Opfer wurde also etwas eingeflößt«, setzte der Hauptkommissar erneut an. »Was denn? Und war es todesursächlich?« Er nippte an seinem Tee.

»Eine zweiteilige Frage.« Der Gerichtsmediziner blickte über seine erhobene Tasse und die beiden Ermittler hinweg ins Unendliche. »Darf ich die dann auch in zwei Teilen beantworten? Danke.« Er senkte die Lider. »Die dem Opfer eingeflößte Flüssigkeit enthielt unter anderem Formaldehyd, Glutaraldehyd oder auch Pentandial, dazu Bronopol, Quat-Salze und Chlortriazin Adamantane.«

Stahnke prustete in seine Tasse. »Wie bitte? Was ist denn das für ein Giftcocktail?«

»Wart’s ab.« Lüppo Buss zeigte einen gequälten Gesichtsausdruck. »Unter anderem, hat er gesagt.«

»In der Tat.« Mergner fixierte den Inselpolizisten streng: »Es gilt in unserer Kultur als unhöflich, über Anwesende in der dritten Person zu sprechen. Oder, wie es der Volksmund ausdrückt: Er steht im Stall.«

»Im Stall?« Der Oberkommissar brauchte einen Moment: »Ach so, das Vieh. Über das man in der dritten Person spricht. Verstehe.«

Stahnke war gedanklich schon weiter. Irgendetwas an dieser Chemikalienkombination kam ihm bekannt vor. Aber aus welchem Zusammenhang? Dienst, Arznei, Hobby, Freizeit?

Dann dämmerte es ihm. »Apropos Stall«, sagte er: »Bringt uns dieses Stichwort vielleicht der Sache näher, Herr Doktor?«

»In der Tat.« Mergner lächelte beifällig und nur eine Spur herablassend. »Obwohl ausgerechnet tierische Fäkalien nicht mit diesen Stoffen behandelt werden.«

»Sondern menschliche.« Stahnke nickte. »Es handelt sich um die Bestandteile einer Sanitärflüssigkeit, wie man sie zum Beispiel für Campingtoiletten verwendet, stimmt’s?«

»Exakt.«

»Und diese Flüssigkeit wurde dem Opfer also nicht pur eingeflößt, sondern … äh …«

»Quasi nach Gebrauch«, bestätigte Mergner ungerührt. »Und in Mischung mit teils halbfesten Bestandteilen. Das genaue Mischverhältnis …«

Ein Knall unterbrach ihn. Lüppo Buss hatte seine Teetasse hart auf der polierten Platte seines Schreibtisches abgestellt. »Was für eine Sauerei. Eine Riesensauerei! Wer macht denn sowas?« Seine Gesichtsfarbe, sonst eine gesunde Mischung aus braun und rot, spielte ins Grünliche.

»Genau das müssen wir herausfinden«, sagte Stahnke ruhig, aber nachdrücklich. »Denn das ist unser Beruf.« Er fixierte seinen Kollegen unter zusammengezogenen Augenbrauen.

Der Inselpolizist ließ sich gegen die Lehne seines Drehstuhls sinken. Auch sein Blick senkte sich.

Stahnke wandte sich dem Gerichtsmediziner zu: »Sagt Ihnen der Begriff Schwedentrunk etwas?«

Dr. Mergner zuckte die Achseln. »Klingt nach Magenbitter. Nicht gerade meine Geschmacksrichtung.«

Stahnke schüttelte den Kopf. »Was ist bloß aus dem schönen Studium generale geworden? Ein Minimum an Geschichtskenntnissen steht doch jedem gut zu Gesicht, auch einem Mediziner.« Jetzt war er es, der leicht herablassend grinste: »Dabei waren Sie mit Magen doch schon auf der richtigen Fährte.«

Mergner war nicht halb so weltfremd, wie er aussah, und Kombinieren gehörte zu seinen Stärken. Er schnippte mit den Fingern. »Na klar, Schweden, protestantische Partei im Dreißigjährigen Krieg! Einem der grausamsten und verheerendsten Kriege aller Zeiten. Obwohl es doch angeblich ein Religionskrieg war. Unter Christen.«

»Vielleicht gerade deshalb«, warf der Hauptkommissar ein.

»Wie auch immer.« Der Mediziner winkte ab. »Jedenfalls praktizierten die Schweden seinerzeit eine neue Folter- und Tötungstechnik, indem sie ihre Gefangenen mit Jauche und Gülle vollpumpten. So entstand die Bezeichnung Schwedentrunk.Tja, ich muss sagen, die Übereinstimmung ist evident. Bis auf den beigemischten Chemiecocktail natürlich.«

»Ein Schwede?« Lüppo Buss hatte seine Übelkeit niedergekämpft. »Ein Mörder aus Schweden? Hier auf Langeoog? Ist das euer Ernst?« Er breitete die Arme aus: »Ich meine, in den Schwedenkrimis wimmelt es von wahnsinnigen Serienmördern der grausamsten Sorte. Aber das hat doch mit der Realität nichts zu tun, schon gar nicht bei uns!«

Der Hauptkommissar schüttelte unwillig den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Aber das, was sich hinter dem Begriff verbirgt, ist allein schon ungewöhnlich genug. Mord mit Hilfe des Inhalts der Kassette eines mobilen Camping-WCs! Wer kommt denn auf sowas!«

»Genau das müssen Sie herausfinden«, sagte Mergner. »Denn das ist Ihr Beruf.« Seine Stimme klang betont ruhig, und seine Miene war undurchdringlich.

Stahnke war einen Moment perplex, aber der Inselpolizist sprang in die Bresche: »Apropos herausfinden: Wie haben Sie denn in der Kürze der Zeit die genaue Zusammensetzung dieser Sanitärflüssigkeit herausgefunden? Ich wüsste nicht, dass wir auf Langeoog ein entsprechend eingerichtetes Labor hätten.«

»Oh.« Der Gerichtsmediziner spitzte die Lippen: »Erwischt! Natürlich habe ich noch keine Analyse, sondern nur Beobachtungen. Der Geruch, nicht wahr, und die blaue Farbe. Kennt man. Ich habe schließlich auch eine Camping-Vergangenheit.« Er zückte sein Smartphone: »Die Liste der Inhaltsstoffe habe ich dann gegoogelt. Ist alles online zu finden.«

»Nicht nur online, sondern auch in der realen Welt.« Lüppo Buss verschränkte seine imposanten Unterarme. »Allerdings nicht hier auf Langeoog.«

»Nicht?« Stahnke schien noch einen Schluck Tee trinken zu wollen, zögerte jedoch und stellte die Tasse dann ab. »Wieso nicht? Dieser blaue Cocktail wird allgemein in Campingtoiletten verwendet. Und einen Campingplatz gibt es doch auf der Insel. Bei der Jugendherberge, richtig?«

»Richtig. Mit 150 Plätzen – aber ausschließlich für Zelte! Wer zeltet, geht aufs Gemeinschaftsklo, nicht auf die Chemietoilette. Das tun Wohnwagencamper oder Wohnmobilisten. Und die gibt es auf Langeoog nicht. Autofreie Insel, du erinnerst dich?«

Stahnkes Blick kreuzte den von Dr. Mergner. Der Mediziner deutete erneut auf sein Smartphone. »Wenn man Langeoog plus Wohnwagen googelt, bekommt man Bensersiel angezeigt«, sagte er. »Da steht jede Menge von den Dingern, keine 40 Fährminuten von hier entfernt.«

»Jeder Einzelne davon mit Chemietoilette«, ergänzte Stahnke. »Da kommt eine Menge von dem Zeug zusammen.« Er schob seine Teetasse weiter von sich weg.

»Und was schwebt dir jetzt vor? Rüberfahren und Proben nehmen? Von jeder verdammten Klokassette in Bensersiel? Um dann Gentests machen zu lassen und die Resultate mit dem Mageninhalt des Toten zu vergleichen?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Also ehrlich! Ich weiß noch nicht einmal, ob das überhaupt möglich ist.«

»Ach, das ginge durchaus«, erklärte Dr. Mergner. »Zunächst müsste gesichert festgestellt werden, inwieweit der Chemiecocktail die Struktur des enthaltenen Genmaterials womöglich verändert. Was wiederum abhängig von Menge und Verweildauer im Mischungsverhältnis sein dürfte. Das ist echtes Neuland, damit kämen wir in die einschlägige Fachliteratur!« Der Mediziner lächelte beseelt: »Und was den Umfang solch einer Maßnahme angeht, die Unmengen von Arbeitsstunden für Polizei und Labore und die damit verbundenen Kosten – damit kämen wir todsicher in die Zeitung!«

»Die Zeitung!« Lüppo Buss sprang auf, so plötzlich, dass Stahnke, der zu einer Erwiderung angesetzt hatte, das Wort im Halse stecken blieb. »Na klar, die Meldung in der Zeitung! Hab ich doch selbst dorthin geschickt. Jetzt fällt es mir wieder ein.«

»Was?«, stieß Stahnke hervor.

Der Inselpolizist schaute auf seine Armbanduhr. »Wenn wir uns beeilen, schaffen wir die Inselbahn zur Fähre noch. Infos bekommst du unterwegs. Herr Doktor, Sie halten die Stellung! In ein paar Stunden sind wir zurück.«

Dr. Mergner bekam den Mund erst wieder zu, als die Tür längst hinter den beiden Kommissaren ins Schloss gefallen war. Er stemmte die Fäuste in die mageren Hüften und schüttelte missbilligend den Kopf. Dann aber stahl sich ein spitzbübisches Lächeln auf seine dünnen Lippen. »Hilfssheriff wollte ich immer schon mal sein«, murmelte er vor sich hin. »Aber einen Sheriffstern hätte er mir wenigstens dalassen können!«

Langeooger Dampfer

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