Читать книгу Langeooger Dampfer - Peter Gerdes - Страница 8
3.
ОглавлениеZuerst dachte Marian, der Inselpolizist wollte ihn heranwinken. Erst als er fast an der Absperrung war, erkannte er die Fliegenschwärme, gegen die Lüppo Buss mit seiner Dienstmütze ankämpfte wie Don Quijote gegen Windmühlen. Ebenso erfolglos.
Auch am frühen Vormittag hatte die Sonne allerhand Kraft, der Weg durch den weichen Sand war recht weit gewesen, der schwache Seewind kühlte kaum, und Marian war nicht der Fitteste. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, die Locken klebten ihm auf der Stirn, und von seinem struppigen Bart ging ein mörderischer Juckreiz aus. Unter seinen Achseln fühlte es sich heiß und glitschig an. Marian hatte das Gefühl, dass die beiden Frauen des Kriminalistenteams vom Festland ihn abfällig musterten.
Umso erfreuter reagierten die Fliegen auf seine Ankunft. Marian hatte seinen Notizblock eigentlich aus anderen Gründen gezückt, jetzt musste er als Klatsche herhalten.
Das wahre Objekt der Fliegenbegierde lag jedoch in einer Sandkuhle, von einem flüchtig aufgeworfenen Ringwall umgeben, der nach Kinderbelustigung aussah und doch alles andere war als das. Gebeugte Rücken in weißen Overalls umringten einen Leichnam. Einen männlichen, wenn Marian die rötlichen Fusseln an Kinn und Wangen richtig deutete.
Über all dem lag ein undefinierbarer Geruch. Eindeutig unangenehm, aber so schwach der Seewind auch war, er verhinderte, dass Marian den Geruch einordnen konnte. Vage bekannt – aber woher?
Noch mehr kam ihm bekannt vor. Seine erste Frage an Lüppo Buss blieb Marian im Halse stecken. »Wer ist – ich meine, ist das nicht … doch nicht etwa …«
»Robin Seefeld.« Der Inselpolizist setzte sich seine Dienstmütze auf, prüfte den korrekten Sitz des Mützenschirms mit der Handkante, um sich die Kopfbedeckung im nächsten Moment in den Nacken zu schieben. Der Mückenschwarm hatte sich wieder der Kuhle zugewandt.
»Verdammt.« Marian schlug sich den Notizblock gegen die Stirn, aber was er dort gespürt hatte, war keine Fliege gewesen, sondern eine Schweißperle. »Also deshalb. Und ich hatte mich schon gefragt …« Er verstummte.
»Was hattest du dich gefragt?« Lüppo Buss zog die borstigen Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammen und fixierte den Journalisten scharf. »Los, raus damit! Irgendwas Sachdienliches?«
»Nee.« Marian schüttelte den Kopf und schluckte trocken. »Ich hatte mich nur gefragt, warum er gestern nicht dabei gewesen ist. Er als Grüner, ich hatte gedacht, da kommt er bestimmt hin.«
»Wohin? Was meinst du?«
»Na, zu der internationalen Umweltkonferenz gestern! Er war aber nicht dort. Und auf der Abschlusskundgebung auch nicht, sagt Ocko Onken.«
Der Inselpolizist lachte auf, überraschend und so laut, dass der Fliegenschwarm aufstob wie Rauch. »Du meinst wohl die Abschusskundgebung!«
Missbilligende Blicke des Tatortteams beendeten Lüppo Buss’ Heiterkeitsausbruch. Auch Marian schwieg betreten. Nur ein paar Möwen hoch über ihnen stießen unbeeindruckt ihre Schreie aus.
Robin Seefeld also. Noch keine 24 Jahre. Gebürtiger Langeooger, auf der Insel bekannt wie ein bunter Hund. Gewitztes Kerlchen, immer schon gewesen. Als Schüler hatte er angefangen, aus Strandgut Kunstobjekte zu fertigen und an Touristen zu verkaufen; die meiste Arbeit hatte er dabei darauf verwandt, sich fantasievolle Namen für die Fundstücke auszudenken. Später, als der Besuch des Internatsgymnasiums in Esens seine Anwesenheit auf der Insel einschränkte, hatte er jüngere Kinder dafür bezahlt, die Strände Langeoogs nach geeignetem Plunder abzusuchen. Gering bezahlt, gemessen an seinen Erträgen. Die hatten Neider auf den Plan gerufen; immerhin gab es Händler auf der Insel, die ähnliche Geschäfte professionell betrieben. Und Steuern zahlten. Wer von denen Robin Seefeld verpfiffen hatte, kam nie heraus. Vielleicht, weil Lüppo Buss die Anzeige verschleppte und Fusselbart Robin längst andere Einkommensquellen gefunden hatte. Nach dem Abitur hatte Seefeld ein Studium in Oldenburg aufgenommen. Was genau? Marian konnte sich nicht erinnern. Irgendwas mit Umwelt? Oder doch eher BWL, was all die studierten, die nichts mit sich anzufangen wussten? Obwohl, das traf auf Robin eher nicht zu.
Hatte nicht auf ihn zugetroffen, korrigierte sich Marian. Robin Seefeld war tot, dort drüben lag seine Leiche. Und stank. Ja, das konnte man riechen, deutlich sogar, wenn der Wind eine kleine Pause einlegte. Nicht nur als Fliege.
Marian hatte schon früher Leichen gerochen. Dieser Geruch war irgendwie – anders.
»Wie lange liegt er da schon?«, fragte er.
Der Inselpolizist zuckte mit den Achseln. »Ein bis zwei Tage, grob geschätzt. Auf die nähere Eingrenzung warte ich noch.« Mit einem Nicken deutete er auf eine der beiden weiß gekleideten Frauen. Sie hatte sich die Kapuze ihres Einwegoveralls so eng ums Gesicht geschnürt, dass selbst Unterlippe und Augenbrauen darin verschwanden. Unter ihrer Nase glitzerte es. Schweiß oder Heilpflanzenöl?
»Wurde er umgebracht?«, fragte Marian.
»Was denkst du denn?«, schnauzte Lüppo Buss. »Glaubst du, der hat sich selber im Sand verbuddelt?«
Oha, dachte Marian, kurze Zündschnur heute. Da war Vorsicht geboten, sonst setzte es einen Platzverweis. Wenn man Lüppo reizte, kannte der keine Verwandten. Und Freunde auch nicht.
»Könnte ja auch ein Unfall gewesen sein«, stocherte er trotzdem weiter.
»Nein.« Der Inselpolizist verschränkte die kräftigen Unterarme. Deren Muskelspiel wirkte bedrohlich.
»Und … wie … ist es passiert?« Marian setzte seine Worte behutsam und zögernd. Wie Schritte in einem Minenfeld.
»Erstickt«, sagte Lüppo Buss, unterbrach sich dann aber selbst, runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf. »Offiziell sage ich nichts dazu. Schon gar keine Details. Täterwissen, du verstehst? Bei diesem Stand der Ermittlungen …«
Du bist gut, dachte Marian. Stand der Ermittlungen! Wohl mehr Stand als Ermittlung. Lüppo konnte froh sein, dass es hier keinen Treibsand gab.
»Apropos«, hakte der Journalist nach, »wer ermittelt denn? Leitest du selbst, oder schicken sie dir wieder einen?«
Die Miene des Inselpolizisten versteinerte. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, die Muskeln seiner kräftigen Unterarme traten hervor wie Taue. Er schwieg, aber eine Antwort war auch gar nicht nötig. Natürlich bekam Lüppo Buss wieder einen vor die Nase gesetzt, einen Höherrangigen vom Festland, wie immer, wenn es um mehr ging als Diebstahl, Sachbeschädigung oder leichte Körperverletzung. Marian wusste, wie sehr Lüppo unter diesen ständigen Zurücksetzungen litt. Aber den Mut, einen Fall einfach an sich zu reißen und seine Vorgesetzten mit schnellen Ergebnissen vor vollendete Tatsachen zu stellen, hatte er auch nicht.
Noch schien dieser Außerinsulanische aber nicht vor Ort zu sein. Zu dem weißgekleideten Team, das aus den Kriminaltechnikern und der Ärztin bestand, gehörte er jedenfalls nicht.
Marian musterte die Strandszenerie. Was für eine riesige Baustelle! Die gewaltigen Rohrleitungen und die mächtigen Maschinen passten so gar nicht zum Image einer autofreien, erholsamen und familienfreundlichen »Insel fürs Leben«, wie Langeoog offiziell beworben wurde. Aber was sollte man machen? Die Herbst- und Winterstürme hatten der Insel stark zugesetzt, Strand und Dünen beschädigt und die wertvolle unterirdische Süßwasserlinse bedroht, von der die Wasserversorgung der Bevölkerung mitsamt den Massen geldbringender Touristen abhing. Da mussten Gegenmaßnahmen ergriffen werden, und das ging nur bei zuverlässig ruhigem Wetter. Also jetzt.
Dem Mörder schien das gut zupassgekommen zu sein, überlegte Marian. In diesem frisch aufgeschütteten, weichen Sand war eine Kuhle schnell gebuddelt. Vermutlich war der Täter davon ausgegangen, dass dieses Inselgrab mit weiteren Sandschichten überspült und dauerhaft versiegelt werden würde. Dann wäre es frühestens nach den nächsten schweren Winterstürmen entdeckt worden.
»Wer hat den Toten überhaupt gefunden?«, fragte Marian.
Wenn Oberkommissar Buss darauf hätte antworten wollen, dann wären ihm die Worte buchstäblich von den Lippen gerissen worden, denn wie aus dem Nichts dröhnte plötzlich ein Hubschrauber im Tiefflug über sie hinweg. Vermutlich wieder der von vorhin, dachte Marian, aber erkennen konnte er das nicht. Ehe er seinen Notizblock hochgerissen hatte, bekam er schon eine Ladung Sand in die Augen. Lüppo Buss verbarg sein Gesicht hinter seiner Dienstmütze.
»Diese Geier!«, schrie der Inselpolizist, als er sich wieder verständlich machen konnte. »Wundert mich, dass sie so lange gebraucht haben, um den Tatort ausfindig zu machen. Gibt doch Millionen von Amateurspitzeln, die für die arbeiten! Jetzt wissen sie jedenfalls, wo wir sind. Dauert nicht mehr lange, und sie fallen über uns her. Aber meine beiden Zeugen, die werfe ich denen nicht zum Fraß vor.« Lüppo Buss schnaubte Marian so wütend an, als könnte der etwas für seine Kollegen von der Sensationspresse: »Dir auch nicht! Schlag dir das aus dem Kopf.«
Ungerecht, dachte Marian. Er hasste Ungerechtigkeit. Hatte er sich nicht in all den Jahren seines Inselexils um Fairness bemüht, Anstand und Fairness gegenüber allem und jedem, die Polizei eingeschlossen? Und so wurde ihm das gedankt. Zack, hinein in denselben Topf wie die Schlagzeilenschmiede von der Blutzeitung. War das etwa fair? Nein, war es nicht!
Aber er hielt lieber den Mund. Beschwerden nützten gar nichts, das wusste er aus bitterer Erfahrung. Nicht, wenn Lüppo so aufgebracht war wie jetzt. Da hieß es warten. Launen kamen und gingen, vor allem bei einem aufbrausenden Charakter wie dem des Oberkommissars, und in einer Stunde oder so sah alles schon wieder anders aus.
Außerdem, dachte Marian, habe ich noch andere Quellen.
Eine Frage stellte er trotzdem: »Schon Tätervermutungen? Hatte Robin Seefeld Feinde?«
Wider Erwarten polterte der Inselpolizist nicht, sondern grinste Marian breit an. »Ein umweltschützender Grüner im tourismusintensiven Inselparadies? Mitten im höchst umstrittenen Nationalpark? Was sollte der wohl für Feinde haben? Wo denkst du hin! So einer wird hier doch auf Händen getragen.«
Sarkasmus, dachte Marian, muss Lüppo noch üben. Das hat er noch nicht richtig drauf. Vor allem sollte er die Hände still halten, wenn er von Händen redet. Und nicht so tun, als wollte er gerade jemanden erwürgen.
Er grüßte und wandte sich ab. Nicht mehr lange, und die Meute der Sensationsschreiber, Leichenknipser und Katastrophenfilmer würde den Sand zertrampeln. Ganz zu schweigen von den vielen gaffenden Handyschwingern, die sämtliche Netzwerke mit Voyeurs-Futter vollferkeln würden. Dann wollte er lieber woanders sein.
Nämlich an seinem Arbeitsplatz.