Читать книгу Langeooger Dampfer - Peter Gerdes - Страница 9
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Оглавление»Kiek, dor is all weer so’n ollen Damper«, krächzte Klaas Reershemius mit angewidertem Gesichtsausdruck.
»Damper?« Harm Bengen reckte den dürren, faltigen Hals und ließ seinen Kopf ein paar Zentimeter höher als sonst wackeln. »Kannst du von hier aus doch gar nicht sehen!« Er rückte seine flaschenbodendicken Brillengläser zurecht: »Oder meinst du den Rauch?«
»Klar mein’ ich den Rauch«, zickte Reershemius zurück, das spitze Kinn kampflustig vorgestreckt. »Oder vielmehr den Dampf. Heißt doch nicht umsonst Dampfer.«
»So’n Dampfer produziert ja nun beides«, mischte sich Bodo Schmidt ein. »Der Rauch kommt vom Feuer, und der Dampf – na ja, der irgendwie auch.«
»Sehen kann ich aber immer noch nix. Weder noch.« Harm Bengen zog seinen Hals zurück in den Kragen, was irgendwie an ein U-Boot-Periskop und an eine Schildkröte zugleich erinnerte. »Der Hafen ist von hier aus ja viel zu weit weg.«
»Himmel hilf!« Reershemius schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn; es klatschte nicht, es raschelte. »Ich rede doch nicht von Dampfschiffen, ich meine diese Heinis, die neuerdings egalweg an ihren Apparaten nuckeln! Guck, da ist schon wieder so einer! Na, seht ihr den Dampf jetzt?«
Die Langeooger Inselbahn hatte gerade eine neue Ladung Feriengäste ausgespuckt; der erste Schwung von ihnen hatte sich auf den Weg ins Dorf gemacht, mit Rucksäcken beladen und quietschende Rollkoffer im Schlepp, die sie als Handgepäck deklariert und eigenhändig auf die Fähre und in den Zug gewuchtet hatten. Die übrigen Passagiere sorgten an der Gepäckausgabe für das übliche Chaos, aus dem ärgerliche Kommentare und wütende Schreie herausstachen. Ungehaltene Ordnungsrufe über die Bahnsteiglautsprecher verhallten unbeachtet. Diejenigen Touristen, die sich ihre Koffer erkämpft hatten, zogen in einem unregelmäßig plätschernden Strom an der Sitzbank der drei Rentner vorüber.
Kaum einer der Neuankömmlinge hatte eine Hand frei und überschüssiges Lungenvolumen für eine Zigarette. Nur ganz vereinzelt stiegen Rauchwölkchen auf. Und hier und da eine weit dichtere Wolke, eine, die überwiegend aus Dampf zu bestehen schien.
»Ach so!« Bodo Schmidt war gewöhnlich einigermaßen informiert, darauf hielt er sich viel zugute. »Du meinst die E-Zigaretten!«
»Zigaretten?« Der alte Reershemius kniff die Augen zusammen. »Das da ist doch keine Zigarette! Sieht eher aus wie – weet ick ook neet. Ein Adapter vielleicht?«
Harm Bengen lachte gehässig: »Adapter! Da hast du auch mal was aufgeschnappt, was? Seitdem ist alles, was du nicht kennst und was irgendwie elektrisch aussieht, ein Adapter! Ha!«
Reershemius zischte wütend und versuchte, mit seinem Krückstock nach Bengen zu schlagen. Das ging aber nicht, weil der dicke Schmidt zwischen ihnen saß. Also ließ er es sein.
»Was heißt denn elektrisch«, murrte er stattdessen. »Kann doch nicht elektrisch sein! Guck mal, der geht da mit dem Mund dran! Und dann saugt er. Mann, das hört man bis hier! Also wenn das elektrisch wäre, dann würde er einen gewischt kriegen.«
»Ist es aber«, intervenierte Bodo Schmidt. »Das Ding ist ein Verdampfer, der funktioniert mit Batterie. Das Zeug da drin, das sind Liquids. Gibt’s mit oder ohne Nikotin. Soll ja viel gesünder sein, als sich den ganzen Teer durch die Lunge zu pfeifen.« Er nickte gravitätisch. Die Bahnhofsbank, auf der sie saßen, geriet in Schwingungen.
»Guck mal, jetzt füllt er nach!«, rief Reershemius aufgeregt. »Mit so einer Flüssigkeit. Von wegen Liquids!«
»Liquids sind flüssig!«, stöhnte Schmidt.
Reershemius hörte gar nicht zu. »Hat ja ’nen richtigen Tank, das Ding, wie ein Außenborder! Einer mit Benzin. Seid ihr sicher, dass das elektrisch ist?«
Ein junger Mann schlurfte vorbei, wohl ein Tagesgast, denn außer seinem kleinen Rucksack hatte er kein Gepäck dabei. Sein Kinn lag fast auf dem Brustbein, sein Blick hing an seinem Smartphone wie angetackert. Mit der linken Hand schob er sich eine Metallröhre zwischen die Lippen. Es röchelte und schlürfte.
»Drinkt de dar ut?« Reershemius verzog angewidert den zahnlosen Mund. »Watt’n Schwienkram!«
Bodo Schmidt seufzte und wechselte das Thema. »Wo ist Ocko eigentlich schon wieder?«
»Wor sall de denn woll weer wesen?« Harm Bengen seufzte übertrieben laut. »De sitt wall weer achter watt an! Weetst doch, he schrifft nu alltied vör’t Blattje. Vör disse Marion.«
»Marian«, korrigierte Bodo Schmidt. »Ist doch ein Mann.«
»Ach ja?« Bengen zwinkerte hinter seinen dicken Gläsern. »Wo sall ick datt woll weeten? De mit sien lang Haaren!«
»Nun hör bloß auf!«, schnauzte der dicke Schmidt. »Lange Haare mag er ja haben, aber doch auch einen Bart!«
»Na und?« Auf diese Vorlage hatte Harm Bengen nur gewartet: »Een Bort hett Klaas sein Ollsche ook, un de is doch’n Wief, of watt?« Strahlenförmige Lachfalten erschienen rund um seinen Mund und ließen sein Gesicht aussehen wie eine eingeworfene Fensterscheibe. »Of seggst du dat blots so?«
Klaas Reershemius schnappte nach Luft; dieser Hieb hatte gesessen! Meistens nahm die Viererbande von der Bahnhofsbank, ob vollzählig oder nur zu dritt oder zu zweit, die Inselurlauber ins Visier und ließ kein gutes Haar an ihnen. Das hieß aber nicht, dass nicht auch alteingesessene Insulaner ihr Fett abbekamen. Und natürlich die Mitglieder der Viererbande selbst. Keinen Augenblick durfte man die Deckung sinken lassen! Genau das war dem alten Klaas nun passiert, und man sah ihm an, dass er auf Rache sann.
Dazu kam er aber nicht. Eine vierte Person ließ sich auf die Bank plumpsen, nahm den Platz des abwesenden Ocko Onken ein.
»Watt!«, ließ Reershemius den Anschnauzer heraus, der eigentlich für Bengen gedacht gewesen war. Dann jedoch stutzte er. »Watt denn – Kante? Mann! Sieht man sich auch mal wieder!«
Der Neuankömmling grinste und nickte in die Runde. Er war jung, sicher noch keine 30 Jahre alt, seine kurz gestutzten Haare waren ebenso blond wie sein dichter Vollbart, sein Mund war breit und seine Nase kräftig, die schmalen blauen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Breite Schultern krönten einen durchtrainierten, trapezförmigen Oberkörper. Die kräftigen Oberarme, die aus einem rot-weiß geringelten T-Shirt ragten, waren tätowiert, links ein Herz mit Anker, rechts ein martialischer Adler. Die ganze Erscheinung dieses Mannes schrie »Seemann!«. Das machte ihn – rein äußerlich – zum perfekten Ersatz für den abwesenden Ocko Onken. Nur eben deutlich weniger als halb so alt.
»Well is dat?«, krächzte Harm Bengen und ruckelte an den Glasbausteinen seiner Brille.
»Das ist Karl Antes«, wiederholte Klaas Reershemius förmlich. »Alle nennen ihn Kante. Wir beide haben drüben in Leer die ›Prinz Heinrich‹ wieder fit gemacht. Ehemaliges Seebäderschiff, wunderschönes Ding! Perfekt restauriert. Wie neu!«
»Ihr beide?« Bengen wackelte mit dem Kopf, stärker als gewöhnlich. »Wie soll das angehen? Da glaub ich kein Wort von!«
Der Neuankömmling lachte. »Natürlich nicht wir zwei alleine«, korrigierte er. »Außer Klaas und mir waren viele weitere Ehrenamtliche beteiligt. Meist Rentner. Ich selber konnte zuerst gar nicht so viel helfen, wie ich wollte. War ja noch Schüler und hatte nur in den Ferien Zeit.«
»Bei uns Alten hat er mehr gelernt als in der dösigen Schule«, behauptete Klaas Reershemius. »Weil wir ja noch wissen, wie man alles selber macht! Die Mechaniker und Techniker heutzutage, die können ja nur noch Ersatzteile aus dem Regal nehmen. Nach Nummern! Und die bauen sie dann da ein, wo der Computer es ihnen sagt.«
Karl Antes lachte, Bengen und Schmidt jedoch nickten ernsthaft und beifällig. Sie besaßen ein fest gefügtes Weltbild, und was Reershemius da eben von sich gegeben hatte, war kein Witz, sondern Teil ihres Glaubensbekenntnisses.
»Damals bin ich ans Festland rübergefahren, so oft es ging«, erinnerte sich Reershemius versonnen. »Hat meiner Frau gar nicht gepasst, weil sich die Arbeiten so lange hingezogen haben. Wie viele Jahre waren das noch, zehn? Oder zwölf?«
Kante zuckte mit den breiten Schultern: »Keine Ahnung. Als ich eingestiegen bin, war die Sache schon länger am Laufen.«
»Wenn zwölf Jahre man reichen!«, krächzte Harm Bengen dazwischen. »Ging doch allerhand schief dabei, oder? Hab ich jedenfalls so gehört. Zog sich hin wie beim Berliner Flughafen! Irgendwann hieß der Dampfer nur noch Prinz Peinlich.«
»Ja, bei Klaas war das genauso!«, dröhnte Bodo Schmidt, der es ebenfalls nicht ertragen konnte, wenn andere im Mittelpunkt standen. »Da haben zwölf Jahre auch nicht gereicht zum Restaurieren! Und guck dir bloß das Ergebnis an. Das nenne ich peinlich!«
Reershemius schüttelte ärgerlich den Kopf. »Hör nicht auf die Döspaddel, Kante«, knurrte. »Erzähl mal lieber, wie ist es dir ergangen? Bist du Schweißer geworden? Das hattest du jedenfalls vor, das weiß ich. Schweißer auf der Leiner-Werft, große Schiffe bauen.«
»Schweißer ja, aber nicht auf der Werft.« Antes grinste breit. »Ich bin quasi die Stammbesatzung der ›Prinz Heinrich‹! Bin Decksmann und verantwortlich für alles, was so anfällt. Ist ja immer noch ein alter Dampfer, auch wenn er aussieht wie geleckt.«
»Klingt eher nach Hausmeister als nach Seemann«, meckerte Bengen. Aber er tat es leise, und die anderen überhörten ihn geflissentlich.
Im nächsten Moment stand der vermisste Ocko Onken vor der Viererbank, die Wangen hektisch gerötet, die Brust pumpend, die Bartkrause zerzaust. Verwirrt schaute er auf seinen Platz auf der Bank und auf den jungen Mann, der ihn einnahm. Seine Lippen bewegten sich stumm.
»Wat is, Ocko?«, schnarrte Harm Bengen. »Du kiekst so vergrellt. Is een dood bleeven?« Er lachte meckernd. Und verstummte abrupt.
»Jo«, keuchte Onken. »Ein Toter. Ermordet.«
Alle stöhnten auf, Bodo Schmidt am lautesten. Dann rief er: »Schon wieder?«