Читать книгу Solo für Sopran - Peter Gerdes - Страница 10
6.
ОглавлениеDas Meer kam auf ihn zu. Merkwürdig. Aber eindeutig.
Nicht nur Welle um Welle, klar, das auch. Nach wie vor brandete Woge auf Woge heran, kräftig und lautstark, obwohl der Wind im Moment ziemlich sanft wehte, wie er fand. Aber woher wollte er das wissen? Hatte er denn einen Vergleich?
Wie auch immer, dachte der dicke Mann, das Meer kommt auf mich zu. Seit Stunden fixierte er nun schon den Spülsaum, jene Zone, in der sich die schaumigen Ausläufer der gebrochenen Brandungswellen im nassen Sand verliefen und eine Markierung aus Treibholzstücken, Möwenfedern, Pflanzenresten, Plastikflaschen und sonstigem Unrat zurückließen. Keine Welle war wie die andere, und so war auch der Verlauf des Spülsaums ständigen Veränderungen unterworfen.
Nur eins war unübersehbar: Er kam auf ihn zu.
»Flut«, krächzte der dicke Mann leise vor sich hin. Seit Stunden das erste Wort, das er gesprochen hatte. Flut, natürlich, Ebbe und Flut. Sechs Stunden und ein bisschen, jeweils. Zweimal am Tag kam und ging das Wasser. Na also, da war ja doch noch etwas, dort oben unter seiner geschwollenen Schädeldecke, die nicht mehr ganz so wütend pochte wie heute früh. Wie viel mochte da noch sein?
Aber vorerst wartete er vergebens. Die erhoffte Erinnerungsflut wollte nicht einsetzen.
Der Spülsaum näherte sich nicht nur, er schwankte auch. Vor und zurück, vor und zurück, ebenso wie der blaue Himmel und die Schäfchenwolken über dem stahlgrau schimmernden Meeresspiegel. Das verwunderte ihn, bis er feststellte, dass es sein eigener dicker Körper war, der da schwankte. Vor und zurück, vor und zurück, die Arme oberhalb des halbkugeligen Bauches um die füllige Brust geschlungen. Selbsthypnotisch. Wie nannte man das noch, wenn jemand so vor sich hin wackelte – Autismus? Nein, Hospitalismus, das war es. Wieder ein Fundstückchen Erinnerung. Leider wiederum keins, das ihm weiterhalf.
Immerhin war ihm nicht mehr so kalt wie am frühen Morgen. Seit Stunden saß er nun schon hier am Strand, auf ein und demselben Fleck, wie gefangen in seinem egozentrischen Gewackel und seiner Erinnerungslosigkeit, und wartete. Auf sich selbst, genau genommen. Bisher aber war die erhoffte Offenbarung ausgeblieben. Er war sich selber immer noch so fremd wie heute früh, war nichts weiter als ein dicker Mann in Unterwäsche. Mit einer schmerzenden Beule am Kopf. Und Blutkrusten an den Händen.
»Hast du denn kein Handtuch?«
Der dicke Mann erstarrte. Natürlich, in den vergangenen Stunden, in denen er sich darauf beschränkt hatte, seinen Körper rhythmisch vor und zurück zu wiegen und dabei vielleicht ein weiteres verschüttetes Stückchen Erinnerung an die Oberfläche seines Bewusstseins zu schütteln, war nicht nur das Meer ein wenig auf ihn zugekommen und die Sonne ein Stückchen höher in den Himmel geklettert. Der Strand rund um ihn her hatte sich auch belebt, Menschen hatten ihre Decken und Badelaken ausgebreitet, sich zuerst zögernd und dann immer freimütiger bis aufs Schwimmzeug entblößt und ihre nussbraunen, madenweißen oder himbeerrosa Körper den wechselseitigen Blicken und den Sonnenstrahlen dargeboten. Längst war das Fleckchen Sandstrand, auf dem er am Morgen noch mutterseelenallein gehockt hatte, von anderen Badegästen umgeben, umringt, umzingelt. Förmlich eingekesselt. Nicht, dass er das nicht wahrgenommen hätte, nur hatte er es irgendwie ausgeblendet. Bis jetzt.
»Und hast du denn auch keine Badehose?«
Ein Schwall Sand prickelte über seinen rechten Oberschenkel. Langsam drehte er seinen Kopf auf dem dicken, kurzen Hals, peilte misstrauisch aus den Augenwinkeln.
»Was machst du denn eigentlich hier, wenn du kein Handtuch und keine Badehose hast?«
Die Kleine mochte sechs Jahre sein, vielleicht acht, älter auf keinen Fall. Dafür reichlich altklug. Wie sie da stand, das rundliche Kinn vorgestreckt, die Ellbogen angewinkelt, beide Fäuste in die babyspeckigen Hüften gestemmt, hätte sie gut und gerne eine amtlich bestallte Strandaufseherin sein können. Vielmehr die Karikatur einer solchen, angefertigt für die tägliche Kinderseite der Badezeitung.
»Klar hab ich Badesachen«, sagte der dicke Mann, einfach um etwas zu sagen.
»Und wo sind die?« Die Kleine erwies sich als hartnäckig. »Warum hast du deine Badehose denn nicht an? Warum sitzt du einfach so im Sand, wenn du ein Handtuch hast oder ein Badelaken? Und wo hast du das alles denn überhaupt?«
»Da drüben«, log er und wedelte mit der linken Hand vage nach links, zur anderen Seite des Strandgetümmels. »Hab mich noch nicht umgezogen. Wollte erst mal gucken.«
Der Kleinen schien das einzuleuchten. Sie nickte ernsthaft, wobei ihr das blendend weiße Sonnenhütchen tief in die Stirn rutschte. »Bist du denn ganz allein hier?«
Der dicke Mann seufzte leise. »Ich glaube schon«, antwortete er. »Jedenfalls habe ich noch keinen gesehen, der zu mir gehört.«
Wieder nickte das Mädchen. Offenbar hatte der dicke Mann genau den richtigen Ton getroffen. Das erstaunte ihn, denn er war nicht davon ausgegangen, besonders viel Erfahrung im Umgang mit Kindern zu haben. Aber was wusste er schon über sich?
Die Kleine trug tatsächlich einen Bikini. Das mintgrüne Höschen war ebenso mit einer gewellten Blümchenborte verziert wie das gleichfarbige Oberteil, das nichts anderes zu halten hatte als sich selbst. Eigentlich Blödsinn, Kinder in diesem Alter derart aufzuzäumen. Aber vermutlich konnten manche Eltern ihre Töchter gar nicht früh genug ins Rollenschema pressen.
Die Kleine musterte ihn weitaus unverhohlener als er sie. Anscheinend war sie mit dem Resultat ihrer Betrachtung zufrieden, denn sie fragte: »Kommst du mit ins Wasser? Mami und Papi haben noch keine Lust, und alleine traue ich mich nicht.«
»Aber ich habe doch meine Badehose noch gar nicht an«, versuchte er sich halbherzig herauszureden. Ein Fehler, wie ihm sofort klar wurde, denn mit Halbherzigkeiten war bei der kleinen Bikiniträgerin nicht durchzukommen.
»Die kannst du dir doch holen«, schlug das Mädchen vor, sichtlich froh, dass er nicht sofort und prinzipiell abgelehnt hatte. Ihr pummeliges Händchen wedelte vor seiner Nase herum, wies auf die andere Strandseite: »Von da hinten, wo du gesagt hast. Und dein Badelaken auch. Dann tust du dir dein Laken um und ziehst dir deine Badehose an, und dann gehen wir schwimmen.« Sie musterte ihn mit gekraustem Näschen: »Du hast doch ein Laken, das um dich rum passt, oder?«
»Gute Frage«, brummte er. Da hatte er sich ja in eine verteufelte Lage hineinmanövriert! Wo er doch weder Badehose noch Laken besaß, jedenfalls nicht jetzt und hier.
Andererseits …
Ewig hier sitzen bleiben und mit dem Oberkörper wackeln konnte er sowieso nicht. Irgendetwas musste er unternehmen. Er musste hier weg, und solange er nicht wusste, was von ihm selbst, der Beule an seinem Kopf und den Krusten an seinen Händen zu halten war, tat er bestimmt gut daran, möglichst wenig Aufsehen zu erregen. Und ein dicker Mann in Badehose und mit einem Badelaken über der Schulter fiel hier am Strand mit Sicherheit weniger auf als einer in Unterwäsche. Ein von der textilen Seite her betrachtet kleiner, aber feiner Unterschied.
Und mit einem kleinen Mädchen im geblümten Mintbikini an seiner Seite konnte er sogar von einer perfekten Tarnung sprechen.
»Na gut, überredet«, sagte er und wuchtete sich mühsam aus der Kuhle, die sein Hintern in Stunden des Wiegens in den Sand gedrückt hatte. Eine wahrlich imposante Vertiefung. »Komm, wir holen meine Sachen. Da hinten müssen sie irgendwo liegen.«
Die Kleine klatschte begeistert in die Hände, dass die Sandkörnchen nur so stoben, und tanzte ausgelassen um ihn herum. Als er sich in Bewegung setzte, nach links, weg vom mutmaßlichen Lagerort des schwimmunwilligen Elternpaares, angelte das Mädchen nach seiner Hand und packte, da sie sich als zu dick erwies, energisch Mittel- und Zeigefinger. Jetzt wurde ihm doch etwas mulmig, aber für einen Rückzug war es zu spät.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte er. Und biss sich auf die Lippen.
Sie aber schien die Frage dem derzeitigen Stand ihrer Beziehung angemessen zu finden. »Binki«, antwortete sie. »Von Bianca. Aber Bianca finde ich doof, Binki ist besser. Und du?«
Na klar. Das hatte ja kommen müssen. Er zögerte nur einen Augenblick, dann sagte er fest: »Kurt. Ich heiße Kurt.« Und wenn er auch niemals so geheißen hatte, jetzt jedenfalls hieß er so.
Wie einen Radarstrahl schwenkte er seinen Blick suchend über den Strandsektor in ihrer Gehrichtung hin und her. Was er jetzt brauchte, war ein verlassenes Badelaken, und zwar eins, auf dem eine Herrenbadehose in ausreichender Größe lag. Wie groß mochte die Wahrscheinlichkeit sein, auf genau diese Konstellation zu stoßen? Gar nicht einmal so klein, entschied er. Schließlich dominierten um diese Jahreszeit die etwas älteren Kurgäste, und die älteren waren statistisch gesehen doch auch etwas kräftiger um die Körpermitte. Außerdem standen ältere Menschen in der Regel zeitig auf, gingen früher als andere an den Strand, schwammen früher und entledigten sich demzufolge auch früher ihrer nassen Badekleidung, um sich keine im Alter empfindlicher werdenden Körperteile zu verkühlen. Und weil Bewegung an frischer Luft und im kühlen Nordseewasser hungrig und durstig macht, war die Wahrscheinlichkeit, dass besagte ältere Menschen mal eben den nächsten Kiosk, einen Imbiss oder das Klohäuschen aufsuchten und zwar nicht ihre Wertsachen, wohl aber Laken und nasse Hosen ein paar Minuten unbeaufsichtigt ließen, durchaus …
Na bitte! Schon war er fündig geworden. Von einem gelb-rot-blau gestreiften Laken leuchtete ihn eine orangefarbene Badehose in großzügigem Bermudaschnitt geradezu an. Direkt daneben lag ein zerknülltes dunkellila T-Shirt, ebenfalls feucht. Mit etwas Glück bescherte ihm beides zusammen ein gesellschaftsfähiges Strand-Outfit.
Verstohlen sicherte er nach beiden Seiten: Niemand schien sich um das verwaiste Laken zu kümmern, keiner im näheren Umkreis strebte erkennbar darauf zu. »Hier, Binki«, sagte er. »Das sind meine Sachen.«
»Fein«, jubelte das Mädchen. »Dann beeil dich mit dem Umziehen.«
Mit unguten Gefühlen bückte er sich, jeden Augenblick damit rechnend, ein »Was machen Sie denn da?« oder, noch schlimmer, ein »Haltet den Dieb!« in die Ohren geknallt zu bekommen. Aber nichts geschah, als er nach der grellfarbenen Badehose griff und sie prüfend mit den Fingern auseinander spreizte. Na, groß genug schien sie jedenfalls zu sein. Also los.
Er warf sich das lila T-Shirt über die Schulter, ergriff das Badelaken und schlang es sich um die ausgebeulte Taille. Kleiner hätte das Tuch wahrhaftig nicht sein dürfen; nur mit Mühe bekam er die Enden verknotet. Vorsichtig begann er, im Sichtschutz des Lakens seine Unterhose abzustreifen, was sich als gar nicht so einfach erwies. Endlich aber hatte er das Ding bis zu den Knöcheln hinabgerollt. Er kickte es weg, balancierte auf einem Bein und schickte sich an, den rechten Fuß in die Badehose einzufädeln.
»Binkiii!«
Der Schrei hätte ihn fast aus dem Gleichgewicht gebracht, auch wenn er ganz anders klang als befürchtet. Kein kräftiger, erboster Mann war es, der da schrie, weil sich jemand an seinem Eigentum vergriffen hatte. Sondern eine Frau. Eine Mutter in höchster Panik.
»Binki, was macht der Mann da mit dir?!«
Erschrocken stieß er seinen rechten Fuß in den Badehosenbund, wechselte das Standbein, schob den linken Fuß hinterher, tastete mit dem großen Zeh nach dem richtigen Hosenbein. Und verhedderte sich. Verbissen um seine Balance kämpfend, hopste er im weichen Sand hin und her. Endlich waren beide Beine richtig positioniert, endlich, endlich konnte er die Hose hochziehen und sich aus seiner misslichen Selbstfesselung befreien. Schon …
Da löste sich der Knoten, der das Badelaken mehr schlecht als recht zusammengehalten hatte, und das bunte Tuch sank in den Sand.
Das Gebrüll schwoll zu ohrenbetäubender Lautstärke an. »Sie gemeiner Schweinekerl!«, kreischte die Frau. »Gehen Sie weg von meinem Kind!«
Panisch riss er an der Badehose, deren feuchter Innenslip sich einfach nicht über seine stämmigen Oberschenkel ziehen lassen wollte, und sprang von einem Bein auf das andere, während sich eine leuchtend rote, laut schreiende Gestalt in sein Blickfeld drängte. Sein Geschlecht begann munter zu pendeln. Jetzt brüllte auch Bikini-Binki, und um sie und ihn herum wurden die fragenden und verärgerten Ausrufe zahlreicher.
Endlich war die Hose oben. Der Mann, der sich Kurt nannte, raffte Laken und T-Shirt zusammen und rannte los, so schnell es der tiefe Sand und sein schwerer Körper eben zuließen, in Richtung Dünen, bloß weg von dem fürchterlichen Geschrei.
»Polizei« war eines der letzten Worte, die er noch deutlich verstehen konnte, ehe die allgegenwärtige Brandung alles verschluckte und mit ihrem gleichförmigen Rauschen überdeckte. Zwar keuchte er schon bedenklich, dieses Wort aber verlieh ihm die zweite Luft. Bloß das nicht, bloß keine Polizei. Das fehlte noch, als Sittenstrolch gepackt zu werden, ohne zu wissen, ob … Und was das mit dem Blut an seinen Händen auf sich hatte und mit allem anderen.
Seine Unterhose, die er im Sand hatte liegen lassen, fiel ihm erst einige Zeit später wieder ein.