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5.

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Von draußen war es Leopold Heiden so vorgekommen, als summte es im Haus der Insel wie in einem Bienenstock. Als er jedoch die Tür zum Kleinen Konzertsaal aufstieß, schlugen ihm Lärmwogen entgegen wie sonst nur in der Pausenhalle des Jann-Berghaus-Gymnasiums. Sänger oder nicht, fünfundsechzig Schüler waren und blieben eben vor allem fünfundsechzig Schüler. Also in erster Linie laut.

Oberstudienrätin Margit Taudien stürzte ihm entgegen, das runde Gesicht strahlend wie die Morgensonne, ein Bündel Notenblätter mit beiden Armen gegen die Brust gepresst. »Einen wunderschönen guten Morgen, großer Meister«, rief sie wie jeden Tag mit lautem, etwas schrillem Diskant.

Heidens Reaktion bestand aus einem fingierten Zusammenzucken und einem entsagungsvollen Blick zur Saaldecke. Für den demonstrativen Eifer seiner Kollegin hatte er nichts als Verachtung übrig, die er mal mehr, mal weniger zu verbergen suchte. Heute verbarg er sie gar nicht. Sie würde das ignorieren, tapfer wie immer. Das wusste er, und das war gut so, denn er brauchte sie. Seine Verachtung aber wurde dadurch nur noch gesteigert.

»Gott zum Gruße, meine Beste«, gab er zurück. »Haben Sie Töne?«

»Wie bitte?« Margit Taudien stutzte, riss die Augen weit auf und blickte hilfesuchend in die Runde, ehe sie einen ihrer rundlichen Arme aus der Notenklammer löste und sich die Hand zum Zeichen einsetzenden Begreifens gegen die Stirn schlug: »Ach, so meinen Sie das!« All diese Gesten vollführte sie mit slapstickartiger Überakzentuierung, als befinde sie sich nicht zur Probe im Kleinen Konzertsaal, sondern im Großen Bühnensaal zur Aufführung. Absolut stummfilmreif, fand Heiden. Jetzt fehlte nur noch …

Da begannen sich auch schon die Notenblätter aus ihrer nur noch halbfesten Armklammer zu lösen und in einer gischtenden Papierkaskade zu Boden zu pladdern. Sofort sprangen mehrere Jungen und Mädchen hinzu, um ihrer Lehrerin beim Aufsammeln behilflich zu sein und damit vor ihrem Chorleiter einen guten Eindruck zu machen, kamen einander dabei zwangsläufig in die Quere und rempelten sich gegenseitig um. Slapstick in Reinkultur, Heiden hatte es ja gleich gewusst.

Jetzt aber genug damit. Er ignorierte seine Kollegin, die anscheinend noch etwas sagen wollte, und klatschte dreimal kräftig in die Hände. »Guten Morgen allerseits!«, donnerte er mit wohltrainierter, voluminöser Stimme, die durch das allgemeine Getöse fuhr wie ein Panzerkreuzer durch eine Horde Windsurfer. »Es wird ernst! Silentium und Aufstellung.«

Mehr als sechzig Jungen und Mädchen stoben nur so aus- und durcheinander, um sich gleich darauf in hundertfach geübter Weise wieder zu formieren. Aus lauter Individuen wurde in Sekundenschnelle eine Gemeinschaft, aus einem strukturlosen Gewimmel ein massiver Block. Heiden liebte diesen Anblick. Fast noch mehr aber liebte er die gespannte Aufmerksamkeit, mit der alles an seinen Lippen hing. Alle fieberten sie der Entscheidung entgegen, die einzig und allein er fällen und verkünden konnte. Himmel, das war Macht, und sie fühlte sich gut an.

»Die Auswahl ist getroffen«, verkündete er überflüssigerweise, schließlich hatten alle seit Wochen auf diesen Termin hingearbeitet. »Zu neunundneunzig Prozent wird sich daran nichts mehr ändern. Da müsste schon etwas ganz Außergewöhnliches passieren.« Er blickte kurz hoch und in die Runde, suchte ein ganz bestimmtes Gesicht, fand es und lächelte dünn. Seine Wimpern senkten sich wieder.

»Ich beginne mit den Herren der Schöpfung.« Umständlich nestelte er ein Bündel Notizzettel aus der Hosentasche. Das Papier knisterte unnatürlich laut in der atemlosen Stille. Nicht, dass Heiden seine Aufzeichnungen benötigt hätte; die Namen hatte er längst im Kopf, jeden einzelnen, jederzeit abrufbar. Aber warum sollte er die Spannung nicht noch etwas steigern, den gewissen Moment nicht noch ein klein wenig hinauszögern? Ihm gefiel das.

»Der Bass.« Der Chorleiter blätterte ein bisschen, als läge der betreffende Zettel nicht sowieso obenauf. »Henning Voss, Theodor Zenker, Martin Eden …« Heiden stellte fest, dass die Jungen recht gelassen blieben. Kein Wunder, beim Bass war die Sache relativ klar, ebenso wie beim Bariton. Die Leistungsunterschiede waren deutlich, und fast alle Sänger wussten längst, ob sie dabei sein würden oder nicht. Ein wenig anders sah es beim Tenor aus, da würde es gleich wohl zwei lange Gesichter geben.

Aber das war ganz gewiss nichts im Vergleich zu den Tränenfluten, die bei den Mädchen zu erwarten waren. Vor allem im Sopran. Nirgendwo war die Anzahl der Auszusondernden so groß, waren die Leistungsunterschiede insbesondere in der Grauzone zwischen brillant und bieder so gering wie dort. Von den insgesamt fünfundzwanzig Sängerinnen und Sängern, die hier und heute erfuhren, dass sie sich die Hoffnung auf eine kostenlose USA-Reise abschminken konnten, gehörten allein fünfzehn zum Sopran.

»… und Klaus Töbken. So, das war’s, meine Herren. Alle Aufgerufenen dürfen sich gratulieren, den anderen danke ich für ihr strebendes, wenn auch nicht vom erträumten Erfolg gekröntes Bemühen. And now upon the Ladies.«

Die Jungs trugen es allesamt mit Fassung, stellte Heiden fest. Auch die Aussortierten blieben betont cool, einige rangen sich sogar ein pflichtschuldiges Lachen über den alten Heinrich-Lübke-Witz ab. Ein paar der Mädchen lachten ebenfalls. Klar, die Favoritinnen, denen das Flugticket nicht zu nehmen war. Die anderen blieben stumm, standen bleich und starr, wie in Alabaster gemeißelt. Hopp oder topp – jetzt gleich würden sie es erfahren, aus seinem Munde. Heiden verspürte ein wohliges Kribbeln im Bauch, während er die Namen der Altistinnen verlas.

Dann war es so weit. »Sopran.« Kurze Raschelpause. »Maren Gödeke, Elisabeth Heeren, die drei Tanjas …« Gleichmäßig, wie nach dem Metronom, las er die Namen der Gesetzten herunter, deren Erwähnung niemanden überraschte, am allerwenigsten sie selbst. Dann aber hatte Heiden die Sektion erreicht, die er selber »die Grauzone« nannte; lauter Mädchen, die passabel, aber nicht überragend sangen, die man durchaus mitnehmen konnte, aber nicht musste. Fußballtrainer nannten so etwas »Ergänzungsspieler«.

Jetzt kam Bewegung in die Reihen des Chors, und auch die Stille war nicht mehr absolut. Name für Name rief ein heftiges Keuchen, ein unterdrücktes Juchzen, ein halblautes »Ja!« hervor. Da gehen Wunschträume in Erfüllung, dachte er, und sein Lächeln vertiefte sich. Träume, ja. Zwei Namen noch, dann werden wir hören, wie Träume zerbrechen.

»Sabrina Tinnekens.« Der vorletzte Name, das eine Gesicht. Sein Blick fing es ein. Sie lächelte, klar, aber keineswegs so, wie er erwartet hatte, nämlich dankbar und selig wie ein beschenktes Kind unterm Weihnachtsbaum. Oh nein. Dieses Lächeln fiel reichlich selbstsicher aus. So, als habe sich diese Person ihren Platz auf der Liste redlich verdient. Womit auch immer. Was die sich wohl einbildete! Heidens Hochstimmung war dahin.

»Und Hilke Smit. So, meine Damen, das war’s.« Er stopfte die Zettel zurück in seine Hosentasche.

Seufzer, gleich reihenweise, wie erwartet. Und ein Schluchzer, der sich Bahn brach, obwohl sich Theda Schoon beide Hände vor den Mund gepresst hatte. Ach ja, die kleine Theda. Sicherlich hätte er sie mitnehmen können. Aber eben nicht müssen. Einen zwingenden Grund hatte sie ihm nicht geliefert. Obwohl er ihr die Möglichkeit geboten hatte. Tja, Chance verpasst, so war das nun einmal.

Dabei fiel ihm auf, dass er Hilke Smit gar nicht hatte jubeln hören. Und als er den wohlvertrauten Sopranblock ins Visier nahm, stellte er fest, dass er sie auch nicht sah.

Er winkte die Taudien heran: »Haben Sie denn die Anwesenheit gar nicht kontrolliert?«

»Aber selbstverständlich«, erwiderte die Oberstudienrätin entrüstet. »Hilke Smit ist heute früh nicht erschienen, das ist mir bekannt. Ich hatte nur noch keine Gelegenheit, es Ihnen …«

»Schon gut, schon gut«, winkte er ab: »Und? Wo steckt sie?«

Margit Taudien breitete die Arme aus: »Ihre Mitbewohnerinnen wissen es nicht. Angeblich hat sie gestern am frühen Abend noch einmal die Ferienwohnung verlassen, und als die anderen Mädchen heute Morgen in ihrem Zimmer nachschauten, war ihr Bett unberührt.«

Heiden runzelte die Stirn; Hilke war nicht gerade für ein ausschweifendes Nacht- und Liebesleben bekannt. Andernfalls hätte er es gewusst. Im Chor wurde grundsätzlich über alles getratscht, und auf solche Dinge achtete er.

»Haben Sie es schon über Handy versucht?«, fragte er.

Margit Taudien nickte beflissen: »Habe ich, selbstverständlich. Aber da meldet sich nur die Mailbox. Anscheinend hat Hilke ihr Gerät ausgeschaltet.«

Heiden wurde sich plötzlich wieder bewusst, dass fünfundsechzig Augenpaare auf ihn gerichtet waren, das von Kollegin Taudien mitgerechnet. Die Jugendlichen hatten ihr Geschnatter eingestellt; offenbar hatten sie gemerkt, dass ihr Leiter-Duo ungewöhnlich lange abgelenkt war, und waren vor Neugierde verstummt. Besser, er machte jetzt erst einmal weiter wie gewohnt. Bloß nicht die Pferde scheu machen.

»Fragen Sie zur Sicherheit mal bei der Polizei nach, ob die etwas wissen«, zischte er der Taudien zu. »Hier gibt es doch eine Polizei, soweit ich mich erinnere, oder? Wenn schon keine Autos.«

Die rundliche Frau nickte. »Ist gut«, sagte sie leise und entfernte sich, sorgsam darauf bedacht, keine auffällige Hast an den Tag zu legen.

Sehr schön, dachte Heiden, froh, sich nicht selber kümmern zu müssen. Auch wenn er um einen Besuch bei der Polizei wohl nicht herumkommen würde.

Er klatschte laut in die Hände. »So, genug getrödelt, frisch ans Werk! Uns steht noch eine Menge Arbeit bevor.«

Solo für Sopran

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