Читать книгу Solo für Sopran - Peter Gerdes - Страница 14

10.

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Sie wartete in der Nähe des Wasserturms auf ihn, nicht weit von dem neuen Lale-Andersen-Standbild, wie abgesprochen, und tat so, als studierte sie die Auslagen der Inselbuchhandlung. Ohne ein Zeichen des Erkennens wandte sie sich ab, kaum dass sie Blickkontakt aufgenommen hatten, und spazierte den breiten, befestigten Weg entlang in Richtung Strand. Er folgte ihr in gebührendem Abstand.

Das Wetter war immer noch ausnehmend schön, und die Sonne schien mit einer für diese Jahreszeit erstaunlichen Kraft. Zahlreiche Badegäste waren unterwegs, überwiegend ältere Leute, aber auch Ehepaare mit kleinen Kindern. Kaum jemand achtete auf das Mädchen mit den langen dunkelblonden Haaren, dem bunten Wickelrock, der hellgelb gestreiften Strandtasche und dem nachlässig geknöpften Herrenoberhemd, dessen untere Zipfel von gelegentlichen Windböen hochgeweht wurden und dabei kurze Blicke auf straffe, zimtbraune Haut ermöglichten. Und niemand achtete auf den schlanken, ebenfalls sommerlich gekleideten Herrn in mittleren bis vorgerückten Jahren, den es offenbar ebenfalls zu einem nachmittäglichen Sonnenbad an den Strand zog.

An der Dünenpromenade wandte sie sich nach links, vorbei an niedrigen, dicht bewachsenen und vom Weg aus gut einsehbaren Dünen, die für ihre Zwecke ungeeignet waren. Weiter voraus aber lag das nächste Dünenschart, eine der Stellen, wo der hohe Randdünengürtel, der die Insel auf ihrer der Nordsee zugewandten Seite schützend umgab, durchquert werden konnte. Dort führte ein Weg durch die Randdünen zum Strand. Diesen Punkt steuerte sie an.

Das Pflaster des Weges ging in schrundige, verwitterte hölzerne Planken über, die teilweise von puderfeinem Sand bedeckt waren wie von niedrigen Schneewehen. Heiden liebte diese Bohlenwege, die so eindringlich das Gefühl von Urwüchsigkeit und Abgeschiedenheit vermittelten. Einen Augenblick lang fühlte er sich versucht, anzuhalten und Schuhe und Strümpfe auszuziehen, um das raue Holz und den weichen Sand ganz unmittelbar auf der Haut zu spüren. Er verzichtete jedoch darauf, um nicht das Risiko einzugehen, die junge Frau aus den Augen zu verlieren.

Zu Recht, denn die verließ soeben den Bohlenweg, stieg seitlich über den niedrigen Drahtzaun, obwohl zahlreiche Hinweistafeln das Betreten des Schutzbereichs verboten, und bog in die Randdünen ab. Einige Urlauber schüttelten die Köpfe, die meisten aber kümmerten sich nicht darum, und schon gar keiner machte den Versuch, sie aufzuhalten. Abstecher in die geschützten Dünen galten als Kavaliersdelikt, solange man sich dort gesittet verhielt und keine Lagerfeuer entzündete oder wilde Partys feierte.

Heiden passierte die Stelle, an der das Mädchen abgebogen war, und schlenderte weiter, ohne sie auch nur eines Seitenblicks zu würdigen. Ein paar Dutzend Schritte weiter hockte er sich hin, um sich nun doch seiner Leinenschuhe und der hellgrauen Socken zu entledigen. Im Aufstehen blickte er sich wie von ungefähr um, stellte fest, dass sich gerade niemand in seiner Nähe befand, und bog ebenfalls in die Dünen ab.

Der weiche Sand schien an seinen Füßen zu saugen, während er energisch voranstapfte. Trotz des schweren Geläufs kam er flott voran. Wenig später war der Strandweg bereits außer Sicht.

Er hielt sich zwischen den knapp zwanzig Meter hohen, mit Quecke, Strandhafer und Sanddornsträuchern bewachsenen Sandhügeln, um kraftraubende Anstiege zu vermeiden und seine Deckung nicht zu gefährden. Wo sich eine Düne direkt vor ihm aufbaute, hielt er sich links. So müsste es klappen, schließlich war das Verfahren erprobt.

Und richtig, da war sie. Wie hingegossen lag sie auf einem blauen Badelaken, das sie am Fuß einer Düne ausgebreitet hatte. Wickelrock und Hemd hatte sie ausgezogen. Der hellrosa Bikini schien neu zu sein, jedenfalls kannte er ihn noch nicht. Das Oberteil war im Nacken geschnürt und formte ein atemberaubendes Dekolleté, und das Höschen war ziemlich knapp. Leise pfiff er durch die Zähne. Diese Sabrina verstand es wirklich, ihre körperlichen Vorzüge zu vermarkten.

Heiden ließ sich neben seine Schülerin auf das Badelaken sinken, sorgsam darauf bedacht, dass seine Gelenke nicht knackten, und beugte sich über sie. Ohne alle Umstände schlang sie ihre weichen Arme um seinen Nacken, zog ihn ganz zu sich heran und küsste ihn. Auch davon verstand sie etwas. Als sie wieder von ihm abließ, rang Heiden nach Atem.

Sie strahlte ihn an. »Klasse!«, sagte sie. »Ich freu mich so.«

Heiden lächelte geschmeichelt. »Ach, das war doch noch gar nichts«, erwiderte er, während seine langen Finger Sabrinas anmutig geschwungene Taille und Hüfte entlangfuhren. Er liebte es, diese zarte, elastische Haut mit den winzigen Flaumhärchen zu berühren, die golden vor dem zimtbraunen Untergrund flirrten. Bloß gut, dass die Tinnekens nicht diesem modischen Magerkeitswahn huldigte wie so viele ihrer Schulkameradinnen. Ihr Körper war trotzdem schlank und straff, dabei aber kein bisschen knochig, sondern griffig und geschmeidig, genau so, wie er es liebte.

Das Mädchen schaute ihn einen Augenblick lang verständnislos an. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und lachte. »Nein, doch nicht der Kuss! Das habe ich doch nicht gemeint. Von der Amerikareise habe ich gesprochen!«

Pikiert richtete Heiden sich auf, stützte sich auf den linken Ellbogen und zog seine rechte Hand zurück. »Ja, klar. Die Reise. Habe ich doch gerne für dich getan.«

Ihr Lachen brach ab. »Du bist ja wohl nicht der Einzige, der etwas dafür getan hat«, sagte sie in scharfem Ton.

Heiden zuckte noch ein Stückchen weiter zurück. Da war er wieder, dieser selbstzufriedene Gesichtsausdruck, der ihm schon heute Vormittag im Haus der Insel aufgefallen war. Diesmal noch deutlicher, verstärkt durch einen Schuss Ärger über seine offenbar als Anmaßung empfundenen Worte. Ja, war denn dieses Mädchen, diese kindsköpfige junge Frau wirklich und wahrhaftig der Ansicht, ihr Chorleiter habe angesichts ihrer überragenden Leistungen gar nicht anders gekonnt, als sie mit Kusshand ins Amerika-Aufgebot zu berufen?

Dann dämmerte es ihm. Himmel, dachte er, wie blind war ich eigentlich. Dabei lagen die Fakten doch klar auf der Hand. An denen war nichts zu deuteln, die standen so fest wie die Noten einer Partitur. Der feine und entscheidende Unterschied aber lag in der Interpretation. Wie so oft. Und eben nicht nur in der Musik. Frühreifes, unerfahrenes junges Mädchen erliegt dem betörenden Charme eines erfahrenen Gentleman, lernt durch ihn die Liebe kennen und wird für ihre Hingabe mit einer schönen Reise belohnt – so hatte er die Sache gesehen. Jetzt sah er die Dinge mit Sabrinas Augen, und diese Perspektive trieb ihm trotz der wärmenden Herbstsonne kalte Schauer über den Rücken. Clevere, durchtriebene junge Frau will unbedingt ihren Ehrgeiz befriedigen, und weil die Sangeskunst allein dafür nicht ausreicht, setzt sie bedenkenlos auch ihren Körper ein. Und der geile alte Bock von Chorleiter ist eitel genug, sich darauf einzulassen und mit ihr in die Kiste zu steigen. Bums, schon ist die Amerikareise gebucht. Kein Wunder, dass das Früchtchen mit sich zufrieden war.

Er biss sich auf die Lippen. Na schön, dachte er, dann machen wir mal gute Miene und spielen das böse Spielchen auch zu Ende.

»Du hast recht«, sagte er in versöhnlichem Ton. »Hast dich mächtig ins Zeug gelegt. Respekt, meine Liebe. Deine Steigerung in den letzten Wochen war unverkennbar.«

»Wie meinst du das?« Misstrauisch kniff sie die Augen zusammen. »In welcher Hinsicht gesteigert? Beim Singen oder …«

Diesmal zog er sie zu sich heran, strich ihr mit beiden Händen über Nacken und Wirbelsäule, so wie sie es gerne hatte, und küsste sie. Schließlich verstand auch er einiges davon, und der Zorn, den er auf Sabrina empfand, tat seiner Lust auf ihre jungen, weichen Lippen keinen Abbruch.

»Wo denkst du hin«, sagte er, als sie beide wieder Luft holen konnten. »Beim Singen natürlich. Was das andere angeht, wie willst du dich da steigern? Du bist doch ein absolutes Naturtalent!«

Sie lachte geschmeichelt und dockte ihren Mund erneut an seinem an.

Unglaublich, dachte er, was man diesen jungen Dingern so auftischen kann. Drei Nummern gröber geschmeichelt als die absolute Schmalzgrenze – ganz egal, die glauben einfach alles. Gierig ließ er seine Hände über ihre Haut wandern.

Sie löste ihr Gesicht von seinem, fragte atemlos: »Willst du? Hier, mitten in den Dünen?«

Wäre ja nicht das erste Mal, schoss es ihm durch den Kopf. Laut aber sagte er: »Lust hätte ich schon, aber ich weiß nicht, ob wir hier wirklich ungestört sind. Um uns tagsüber zu treffen, sind die Dünen ja ideal, da sind unsere Leute entweder am Strand oder im Ort, aber für alles andere … zu riskant. Lieber heute Abend. Ich habe uns wieder ein Zimmer besorgt. Wollen wir uns so gegen halb zehn treffen? Beim Dünenfriedhof, wie immer?«

»Ist gut«, sagte sie und ließ von ihm ab. Sie kramte in ihrer Strandtasche, förderte eine Plastikflasche Mineralwasser zu Tage und trank durstig. Dann hielt sie ihm die Flasche hin.

Früher hätte ich die Flasche zuerst bekommen, dachte Heiden grimmig. Aber er sagte nichts, sondern griff zu und lächelte dankend.

»Sag mal«, fragte Sabrina, während sie ihr Hemd wieder überstreifte, »was wird jetzt eigentlich mit Hilkes Platz im Chor? Du hast doch bestimmt schon einen Ersatz für sie im Auge, ganz egal, ob ihr nun etwas zugestoßen ist oder nicht. Ist doch so, oder?«

»Tja.« Er zögerte. »Von den Leistungen her wäre Theda Schoon wohl dran. Trotz ihres Patzers neulich.«

»Nee, nicht?« Sabrina richtete sich im Sitzen steil auf, ein einziges Stück Ablehnung. »Auf keinen Fall Theda! Jede andere, aber nicht die.«

»Na sag mal!«, fuhr Heiden auf. »Wie kommst du denn dazu, so etwas zu sagen? Ich kann doch wohl besser beurteilen, wer hier am ehesten die Leistung bringt, die wir …«

»Und ich kann wohl am ehesten beurteilen, auf wen du scharf bist!« Sabrinas Stimme wurde schneidend. »Glaubst du, ich merke nicht, wie die sich an dich ranschmeißt? Dir schöne Augen macht? Ich weiß ja, dass dir so etwas gefällt. Aber das kommt nicht in Frage. Auf gar keinen Fall.«

»Und was, wenn doch?« Der Chorleiter war jetzt richtig sauer. »Willst du dann vielleicht vor lauter Wut deine Teilnahme an der Amerikareise absagen? Glaubst du etwa, du bist unersetzlich?«

»Frag nicht so dämlich«, sagte sie leise. »Dann gehe ich zur Taudien. Ich bin zwar schon über sechzehn, aber noch bin ich Schülerin. Und zwar deine. Von Unzucht mit Abhängigen hast du ja wohl schon gehört.«

Zum zweitenmal innerhalb weniger Minuten fragte sich Heiden, wie blind er denn gewesen war. Natürlich war er sich des Risikos bewusst gewesen – eines theoretischen Risikos, gewiss, aber keiner wirklichen Gefahr. Ihn, den Verehrungswürdigen, schwärzte man doch nicht an! Seine Gunstbeweise waren schließlich Geschenke, die heiß ersehnt und dankbar akzeptiert wurden …

Ja, Scheiße. Angeschmiert war er, und zwar nicht zu knapp. Diese miese kleine Göre hatte ihn jetzt in der Hand, und er musste nach ihrer Pfeife tanzen. Jedenfalls für ein Weilchen. Trotzdem, schlimm genug.

Er entschied sich einzulenken. »Wahrscheinlich hast du recht. Es muss auch nicht Theda sein. Da gibt es ja noch andere, die nicht viel schlechter sind. Wie wäre es denn …« Er ließ die Riege der Kandidatinnen vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Wirklich hässlich war keine von ihnen, stellte er fest; in einem gewissen Alter schienen alle Mädchen reizvoll zu sein. Jedenfalls für ihn.

Dann hatte er es. »Wie wäre es mit Wiebke Meyer?«

Sabrina nickte. »Wiebke ist in Ordnung«, sagte sie gönnerhaft. »Die ist noch voll das Kind. Total unreif.«

Sie erhob sich, schlang sich den Wickelrock um die Hüften und zerrte an ihrem Badelaken: »Steh mal auf!«

Gehorsam rappelte er sich hoch. »Dann sehen wir uns heute Abend?«

»Halb zehn, alles klar«, erwiderte Sabrina, ohne ihn anzusehen, und packte ihre Tasche fertig.

Sie hat die Zügel nicht nur fest in der Hand, sie hat sich auch schon an diesen Zustand gewöhnt, stellte Heiden fest. Eine unangenehme Situation.

Nachdenklich stapfte er durch den weichen Sand zurück in Richtung Wasserturm.

Solo für Sopran

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