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6.

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Als sein Handy klingelte, war Stahnke eigentlich schon wach. Er wollte es bloß noch nicht sein, denn sein letzter Traum war so schön gewesen. Beängstigend auch, das schon – aber er war sich der Tatsache, dass er träumte, schon halbwegs bewusst gewesen, und so hatte es ihn auch nicht erschreckt, dass es bei seinem Rundflug über Wattenmeer und Inseln zuerst keine Flugzeugkabine mehr gegeben hatte, dann keinen Motor und zum Schluss nicht einmal mehr Tragflächen. Ich kann jederzeit ganz aufwachen, hatte er nur gedacht – oder geträumt – und mitten im Sturzflug die Arme ausgebreitet. Und siehe, es hatte funktioniert, wenn auch nicht besonders zuverlässig. Sein Flug war wild und ruppig verlaufen, und die Flughöhen hatten ganz plötzlich und unberechenbar gewechselt. Hatte er eben noch beim Tiefflug mit dem Bauch fast die Mastspitzen der Yachten im Hafen gestreift, lag im nächsten Augenblick ganz Langeoog als Spielzeugpanorama tief unter ihm, und er war in wilden Spiralen darauf zu getrudelt. Ehe ich aufschlage, wache ich auf, hatte er ganz sicher gewusst. Drücke ganz einfach den Knopf in dem Fahrstuhl, der zwischen Traum und Wirklichkeit pendelt.

Normalerweise endeten Träume, sowie man so etwas dachte. Dieser nicht, darum genoss Stahnke ihn so.

Gegen ein klingelndes Handy aber kam auch der schönste Traum nicht an. Wenigstens hatte der Hauptkommissar blitzartig reagiert, seinen Arm vorschnellen lassen, zugepackt und das Gespräch schon entgegengenommen, ehe der erste leise Signalton ganz verklungen war. »Moment«, raunte er in seine Faust, ehe er sie fest um das winzige Gerät schloss, aufstand und Richtung Küche tapste. Sina schien zum Glück nichts mitbekommen zu haben; ihr Atem ging unverändert regelmäßig.

Er setzte sich, ehe er die Hand zum Ohr hob. »Ja?«

»Ich bin’s«, sagte Kramer. Seine Stimme klang neutral wie immer, und mit Grüßen hielt er sich gar nicht erst auf.

»Urlaub«, sagte Stahnke im gleichen Tonfall. »Du erinnerst dich?«

»Das tue ich«, erwiderte Kramer. Danach schwieg er.

Jetzt könnte ich einfach auflegen, dachte Stahnke. Das wäre mein gutes Recht, und ich hätte meine Ruhe. Aber er wusste natürlich, dass das nicht stimmte. Von wegen Ruhe! Nicht etwa wegen seines Gewissens – das glaubte er ganz gut im Griff zu haben. Seine ungestillte Neugier aber würde ihm garantiert den Tag versauen.

»Also, was gibt’s?« Stahnkes Blick streifte die Küchenuhr. Gerade erst Viertel nach sieben, Kramer war früh dran.

»Vermisstensache.« Oberkommissar Kramer, Stahnkes engster Mitarbeiter im 1. Fachkommissariat der Polizeiinspektion Leer/Emden, fasste sich kurz. »Dietz Lichterfeld, Doktor der Medizin, wohnhaft in Leer-Loga. Vermisst gemeldet von seiner Ehefrau. Kontakt plötzlich abgerissen, sagt sie.«

»Vermisst«, wiederholte Stahnke.

»Ja«, bestätigte Kramer schlicht. Er wusste ebenso gut wie Stahnke, dass die Suche nach Vermissten nicht die Aufgabe des FK 1 war, jedenfalls nicht, ehe diese Vermissten sich als entführt, misshandelt, sonstwie verletzt oder als tot herausstellten. Also musste sein Anliegen einen besonderen Grund haben.

»Lass mich raten«, sagte der Hauptkommissar. »Vermisst auf Langeoog?«

»Stimmt«, erwiderte Kramer. »Jedenfalls im Prinzip. Vermisst wird Dr. Lichterfeld, wie schon gesagt, in Leer. Von seiner Frau. Sein letzter bekannter Aufenthaltsort aber war in der Tat Langeoog.«

»Klugscheißer«, knurrte Stahnke.

»Angenehm«, sagte Kramer. Gleichbleibend neutral.

Stahnke schluckte eine Replik hinunter. »Und was soll ich jetzt machen? Ausschwärmen und den Typ zwischen den Dünen suchen? Und Lüppo Buss steht wohl daneben und spendet mir Applaus! Weißt du eigentlich noch, dass Lüppo hier auf der Insel zuständig ist?«

»Für den Anfang könntest du mal Kontakt zu ihm aufnehmen«, antwortete Kramer ungerührt. »Ich krieg ihn nämlich nicht ans Telefon.«

»Handy?«

»Mailbox.«

»Fax, E-Mail?«, fragte Stahnke weiter. »Oder Brieftaube?«

»Mensch, Stahnke.« Jetzt fiel Kramer doch aus seiner Stoiker-Rolle, wurde drängender. »Dieser Dr. Lichterfeld ist nicht irgendwer. Dem gehört die große Tagesklinik in der Leeraner Innenstadt, jedenfalls zum großen Teil. Seine Frau macht mächtig Druck. Dedo de Beer hat bei mir schon auf der Matte gestanden, kaum dass ich heute früh im Dienst war.«

»Na und? Gibt es bei uns neuerdings einen Promi-Bonus? Oder interessiert sich etwa irgendwer für irgendwas, das de Beer sagt?« Stahnke gab sich widerborstig. Noch, denn eigentlich war sein Widerstand bereits gebrochen. Nicht etwa, weil Dedo de Beer sein direkter Dienstvorgesetzter war – den hätte er eiskalt abblitzen lassen, schließlich konnte er den ebenso wenig leiden wie de Beer ihn. Aber seinem Kollegen Kramer würde er den Gefallen tun. Schließlich war er ihm noch mehrere schuldig.

Kramer wusste das und schwieg.

Stahnke seufzte. »Also gut, sag deinem Mattenabnutzer, dass du hier alle Hebel in Bewegung gesetzt hast. Will sagen, mich. Darf ich vielleicht vorher noch meinen Morgenkaffee trinken?«

»Selbstverständlich«, sagte Kramer. »Und wenn du mit Lüppo gesprochen hast …«

»Dann melde ich mich, alles klar«, unterbrach ihn Stahnke. »Übrigens, danke.«

»Danke wofür?«

»Für den Kaffee.« Stahnke drückte den Aus-Knopf, legte sein Handy auf den Küchentisch, erhob sich.

Und setzte sich sofort wieder hin, denn das Handy begann erneut zu zirpen. »Ja?«

»Lüppo hier.« Die Stimme des Inselkommissars klang kraftvoll und war trotz des knisternden Rauschens, das sie zu übertönen trachtete, gut zu verstehen. »Wie ich höre, bist du hier auf der Insel. Kommt mir gut zupass. Könnte gerade etwas Unterstützung gebrauchen.«

Da bist du nicht der Einzige, dachte Stahnke. »Was gibt’s?«, fragte er.

»Letzte Nacht ist jemand in den Dünen überfallen worden«, berichtete Lüppo Buss. »Einer aus Leer, ein Arzt, wohl ein ziemlich bedeutender, jedenfalls tut er so. Jetzt sitzt er bei mir im Büro und verlangt, dass ich ihm den Täter auf dem Silbertablett serviere, und zwar zackig.« Wieder musste sich Lüppo Buss’ Stimme gegen ein lautes Rauschen durchsetzen.

Ein schadenfrohes Lächeln dehnte Stahnkes Gesicht in die Breite. »Und du stehst jetzt draußen im Wind und telefonierst mit dem Handy? So ein nerviger Typ ist das?«

»Erraten«, bestätigte der Inselpolizist freudlos. »Der haut fürchterlich auf den Putz. Selbst für einen Doktor.«

»Lass mich raten«, sagte Stahnke. »Der Mann ist nicht nur Arzt, sondern auch der Besitzer einer Tagesklinik in Leer, jedenfalls zum großen Teil?«

»Stimmt.« Ehrfürchtiges Staunen klang aus Lüppo Buss’ Stimme. »Sag bloß, du kennst den Mann!«

»Jedenfalls dem Namen nach. Dr. Dietz Lichterfeld, nicht wahr?« Selbstzufrieden lehnte sich der Hauptkommissar zurück und rieb sich raschelnd die stoppeligen Wangen. So schnell hatte er noch keinen Fall gelöst.

»Lichterfeld? Nö. Der Mann heißt van der Werft, Dr. Henning van der Werft. Da warst du auf dem falschen Dampfer, mein Freund.« Die Ehrfurcht war ebenso aus Lüppo Buss’ Stimme gewichen wie das breite Lächeln aus Stahnkes Gesicht. »Wie sieht es nun aus, kann ich auf dich zählen? Nur ein bisschen Präsenz zeigen, damit mir der Doc nicht mehr so auf den Senkel geht.«

»Klar, mach ich. Bis gleich.« Stahnke beendete das Gespräch.

Merkwürdig, dachte er, als er ins Bad eilte, das Mobiltelefon in der Hand. Ein merkwürdiger Zufall ist das. Wenn überhaupt.

Nach Kaffee war ihm nicht mehr zumute.

Der Fluch der goldenen Möwe

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