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7.

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Frühjahr 1937

Erhard Köhler sang vor sich hin: »Alles in Butter, es ist alles in Butter.« Was für ein schwachsinniges Lied, dachte er dabei. Bloß gut, dass es das nicht wirklich gab. Wer würde auch so ein albernes Zeug öffentlich singen!

Mit der langen Bratengabel stach er nach dem weißen Riegel, der im Salzwasser schwamm, spießte ihn auf, hob ihn aus dem Bottich, ließ ihn abtropfen und beförderte ihn mit geübtem Schwung in den großen Einkochkessel auf dem Herd. Vorsichtig eintauchen lassen, darauf kam es an. Nicht mit der heißen Butter herumspritzen! Fettflecken gingen aus Oberhemd und Weste nur schwer heraus, und wenn man großes Pech hatte, konnte sich das Zeug am Stangenherd entzünden. Das wäre eine Katastrophe gewesen. Nicht nur wegen des Feuers.

Während der Butterriegel schmolz, taxierte Erhard den Pegelstand des flüssigen Fetts. Reichte das schon? Zu viel war Verschwendung. Aber es durfte nachher auch nichts oben herausgucken.

Vorne im Haus klapperte etwas. Mit drei schnellen Schritten war Erhard an der Küchentür, spähte in den langen Flur, Hand am Riegel. Das ganze Zeug lag ausgebreitet hinter ihm, der denkbar ungünstigste Zeitpunkt für ungebetenen Besuch! Seine Anweisung für diesen Fall lautete: Tür verbarrikadieren, raus durchs ebenerdige Fenster und ab durchs Grünkohlfeld. Weiter reichte der Plan nicht.

An der Garderobe neben der Haustür pfiff jemand. Aha, das Horst-Wessel-Lied. Eindeutig Georg Zander. Puh! Erhard entspannte sich. Er ging zurück zum Stangenherd, der einen starken Torfrauchgeruch verbreitete, und kontrollierte den Buttertopf. Besser doch noch einen Riegel, sonst reichte es nachher nicht.

Erhard Köhler ertappte sich dabei, dass er nun ebenfalls das Horst-Wessel-Lied vor sich hin summte. Pfui Teufel! Früher war es ein Kampflied der SA-Horden gewesen, das einen der ihren verherrlichte, einen kriminellen Zuhälter, dessen einziges Verdienst es war, von Linken erschossen worden zu sein und dadurch den Nazis als Märtyrer zu dienen. Damals, vor 1933, hatte Erhard sich manchen Tritt von diesen uniformierten Strolchen eingefangen. Inzwischen sah man die kinderkackebraune Kluft kaum noch auf den Straßen. Hitler befehligte inzwischen nicht nur die SS, sondern ganz offiziell Polizei und Reichswehr. Was brauchte er da noch seine Schlägertrupps von früher? Abgehakt und abgelegt. Das Horst-Wessel-Lied aber war zur zweiten deutschen Nationalhymne avanciert.

Die Küchentür flog auf. Georg Zander bückte sich beim Eintreten, trotzdem berührte er mit dem Kopf den Türsturz. Seine schwarze Uniform schien alles Licht im Raum aufzusaugen. Sein langes, blasses Gesicht und sein hellblondes Haar bildeten dazu einen starken Kontrast. »Wie läuft es, mein kleiner Zigeunerfreund?«, rief er dröhnend laut. »Alles in Butter, wie ich sehe. Verschütte bloß nichts, Butter ist kostbar!« Er lachte schallend. »Die gute Horst-Wessel-Butter! Marschiert im Geist auf unseren Broten mit!«

Erhard, der gerade den Einkochkessel mit der flüssigen Butter vom Herd heben wollte, hätte das schwere Gefäß beinahe aus den topflappengeschützten Händen rutschen lassen. »Mensch, Georg, leg dich bloß nicht mit Goebbels an!«, rief er erschrocken. »Kugelfest ist deine Uniform auch nicht.«

Zander machte eine wegwerfende Handbewegung. »Hast du eine Ahnung«, schnaubte er. »Die SS ist die wahre Macht im Staate, gleich nach dem Führer und Heinrich Himmler. An uns würde sich sogar der kleine Klumpfuß die Zähne ausbeißen. Aber der ist schlau, darum versucht er es gar nicht erst.«

Erhard Köhler verdrehte die Augen. Gleich zwei politische Witze über den Reichspropagandaminister hintereinander! Erst die Anspielung auf seine vor zwei Jahre verkündete Parole »Kanonen statt Butter«, dann die auf seine körperliche Missbildung. Jede davon konnte einem zehn Jahre Gefängnis einbringen. Oder KZ. Über diese Lager hörte man so einiges, meist hinter vorgehaltener Hand. Dort arbeiteten halb verhungerte Leute bis zum Umfallen, hieß es, Vernichtung durch Arbeit sei das Ziel. Es gab reichlich Nachschub an Arbeitskräften, denn irgendwer erzählte immer einen Witz. Viel zu viel Risiko für einen kurzen Lacher! Jetzt aber hieß es für ihn Konzentration, denn Zander schaute Erhard genau auf die Finger. Und Beeilung, sonst wurde das Butterfett wieder fest. Er trug den Kessel mit dem schwappenden Inhalt hinüber zu dem hölzernen Fass, in dem Rosenfelds Meißner Porzellan gestapelt war, ein historisches Service in kunstvollster Ausführung, mit verschnörkelten Rändern ohne Sprünge oder abgeplatzte Stellen, die Bemalung so leuchtend, als sei sie gestern erst aufgetragen worden. Alles war vollständig, von den großen Terrinen und Saucieren bis hin zu den kleinsten Tellerchen und Kännchen. Erhard hatte Stunden damit zugebracht, alles fein säuberlich in diesem Fass zu stapeln, sodass nirgendwo mehr Luft als nötig bleib, aber ohne dass irgendein Teil die Fassdauben berührte. Das Resultat war für sich genommen schon ein Kunstwerk. Das übergoss er nun mit der flüssigen Butter.

»Sehr gut.« Georg Zander beobachtete, wie der Flüssigkeitspegel langsam stieg, wie die heiße Butter alle Hohlräume füllte und schließlich bis über das oberste Deckelchen stieg, bis knapp unter den Rand des Fasses. Die Buttermenge war genau richtig kalkuliert, stellte Erhard zufrieden fest. Vom langen Halten des Kessels zitterten ihm die Arme; das leere Gefäß klapperte, als er es zurück auf den Stangenherd stellte.

»Du musst mal mehr Sport treiben«, sagte Zander und kniff ihn in den Oberarm. »Nichts als Pudding! Da haben andere 18-Jährige aber mehr zu bieten, die sind nicht so schlapp wie du. Besonders groß bist du auch nicht. Wächst du eigentlich noch?«

»So groß wie du will ich gar nicht werden, da stößt man sich bloß überall den Kopf«, sagte Erhard und wich flink einer angedeuteten Backpfeife des Älteren aus. »Mir reicht es, dass ich schon fast einen Kopf größer bin als Erich, mein großer Bruder. Und außerdem, was soll ich Sport treiben? Bringt doch kein Geld! Olympia war schon letztes Jahr.«

»Da sagst du was«, knurrte Georg Zander. »Letztes Jahr hatten die Siegermächte uns scharf im Visier, da mussten wir zentnerweise Kreide fressen, selbst wenn irgendwelche Neger unsere arischen Männer im Wettkampf geschlagen haben. Und die Juden mussten wir auch eine Weile in Ruhe lassen, damit kein Ausländer mit dem Finger auf uns zeigte. Alles nur, weil wir noch nicht kriegsbereit waren. Aber das ändert sich jetzt, mein Junge, das ändert sich. Weniger Butter, mehr Kanonen. Und Panzer, Flugzeuge, U-Boote. Jeden Tag werden es mehr. Schritt für Schritt zum Endsieg!«

Erhard lief ein kalter Schauer über den Rücken. Hatte er sich gerade eben überanstrengt? Besonders weit her war es wirklich nicht mit seiner körperlichen Konstitution. Seit er in Zanders Geschäft eingestiegen war, verbrachte er mehr Arbeitszeit am Schreibtisch als erwartet. Vor allem, seit Georg ihn zum Kompagnon gemacht hatte. Das brachte nicht nur mehr Geld, das erhöhte auch sein Sicherheitsgefühl. Aber es verstärkte auch den Erfolgsdruck.

»Tingelt dein Bruder immer noch über die Jahrmärkte?«, fragte Zander. »Beim Fußball habe ich ihn seit damals kaum noch gesehen. Mann, das war vielleicht was, wie wir die Hamburger satt gemacht haben. Aber danach musste er ja für euren Vater den Fahrer spielen. Habt ihr immer noch die große Schießbude? Aber doch bestimmt nicht mehr diese gammelige Zugmaschine von damals.«

»Den Protos haben wir längst abgestoßen«, antwortete Erhard mit Stolz in Stimme und Gesicht. »Erich fährt jetzt einen Cadillac! Große Kiste, drei Sitzbänke, und auf den Trittbrettern können auf jeder Seite vier Mann mitfahren, wenn es sein muss. Der Wagen zieht den großen Hänger mit der Schießbude wie nichts.«

Zander schüttelte missbilligend den Kopf. »Ein Jammer, dass dein Bruder nicht mehr aus sich macht! Gib’s zu, den Wagen hast du ihm doch bezahlt, oder nicht? Finde ich gut, diesen Familiensinn, den ihr habt. Aber tritt deine Mutter immer noch als Wahrsagerin auf? Also mir wäre das peinlich.« Er rieb seinen Mützendeckel mit dem Unterarm ab und polierte den glänzenden Schirm. Dabei kam er ins Sinnieren: »Obwohl, unser Reichsführer SS Heinrich Himmler hat auch einen Hang zum Okkulten. Wer weiß, dem würde das vielleicht gefallen.«

»Meine Mutter ist tot«, sagte Erhard leise. »Letztes Jahr verstorben. Ganz plötzlich, an Herzversagen.« Die Erinnerung versetzte ihm einen schmerzhaften Stich. So ein großes Herz, dachte er. Aber sie war das Herz unserer ganzen Familie. Das wäre auch für ein starkes Herz eine sehr große Aufgabe gewesen, und stark war ihres wohl nicht, wie der Doktor sagte, als es zu spät war. Sie hatten eine schöne Trauerfeier für sie gemacht, aber bei der Beerdigung ging es völlig deutsch und gesittet zu, alles schwarz und grau und beherrscht und still. Alles Leid im Inneren verborgen. Genauso hatte Erhard es mit seiner Trauer gemacht, hatte sie tief in sich drin bestattet und begraben. Das hatte gut funktioniert, schon am nächsten Tag war er wieder arbeiten gegangen, und keiner hatte etwas gemerkt. Nur er selbst, weil es sich ein wenig tot anfühlte da in ihm drin.

»So, Herzversagen? Beileid.« Georg Zander war eindeutig nicht interessiert. »Kenne ich, solche Fälle. Kommt meistens von zu viel fettem Essen. Esst ihr Zigeuner nicht auch immer sehr fett?«

Erhard nickte. Das stimmte zwar nicht, Mutters Zigeunerpörkölt aus Rindfleisch und ein wenig Schweinespeck war auch nie fetter gewesen als der Sonntagsbraten der Nachbarn, nur schärfer und leckerer. Aber ihm behagte das Thema nicht, und Zustimmung verhinderte meist lange Erörterungen.

Diesmal klappte das nur annähernd. »Trotzdem, es ist jammerschade, wie Erich sein Talent verschleudert. Fahrer für einen Schießbudenbesitzer! Selbst wenn es euer eigener Vater ist, hör mal, das ist doch nichts.«

»Nebenbei hat er aber noch ein Boxerzelt«, nahm Erhard seinen Bruder in Schutz. »Da boxt er auch selbst! Immer gegen viel größere Gegner, sodass alle gegen ihn wetten. Aber er ist so schnell, dass keiner eine Chance gegen ihn hat.«

»Tja, schnell ist er. Wie ein Windhund. Und zäh wie Leder.« Wieder schüttelte Zander den Kopf. »Wenn er nur nicht so aussehen würde! Klein und dunkel. Könnte auch ›Zigeuner‹ auf der Stirn stehen haben.« Er klopfte Erhard Köhler auf die Schulter: »Sei froh, dass du anders aussiehst als Erich! Dich kann man schon eher mit einem Arier verwechseln. Auch wenn du im Fußball nicht einmal halb so gut bist wie dein Bruder.«

Erhard widersprach nur halbherzig. Sein Blick war auf die erstarrende Butter gerichtet, seine Gedanken waren bei seiner Familie. Je stärker er die Ablehnung der Deutschen spürte, desto mehr zog er sich gedanklich auf sein anderes, sein eigenes Volk zurück. Sie hatten sich doch einfügen wollen – warum ließ man sie denn nicht? Jedes Mal, wenn er einen von seinen Leuten traf, hörte er von neuen unerfreulichen Vorfällen. Skeptische Blicke und verletzende Bemerkungen waren sie schon lange gewohnt; nicht umsonst hielten sich Sinti und Roma überwiegend an ihresgleichen. Keinen Streit provozieren, damit war man lange Zeit gut gefahren. Auch nach der Machtübernahme der Nazis galt doch die allgemeine Feindseligkeit vor allem den Juden. »In deren Windschatten können wir ruhig segeln«, hatte sein Babo letztes Jahr noch verkündet. Dann hatten ihn ein paar junge Burschen beschuldigt, die Luftgewehre in seiner Schießbude präpariert zu haben, nur weil sie zu betrunken waren, etwas zu treffen. Sie hatten ihm mehrere Zähne ausgeschlagen, ohne dass jemand helfend eingegriffen hätte, nicht einmal die Kollegen von den Nachbarständen; Erich hatte es in seinem Boxzelt zu spät mitbekommen. Die Zeiten wurden rauer, das Leben wurde gefährlicher. Schritt für Schritt.

Erhard atmete tief durch. Nur gut, dass ich vorgesorgt habe, dachte er. Sehr gut vorgesorgt. Und dass niemand weiß, wie gut.

»Ist die Lieferung damit komplett?« Zander trat mit blank poliertem Stiefel gegen das frisch gefüllte Fass, dass es wackelte. Von drinnen war nichts zu hören, kein Klirren und kein Scheppern. Das kostbare Porzellan war unverrückbar und sicher eingebettet. Alles in Butter. Diese Transportsicherung stammte aus dem Mittelalter, ebenso wie die Redensart.

»Ja, das ist das letzte Collo.« Erhard wischte mit einem Lappen über eine haardünne Fuge zwischen zwei Dauben, wo etwas Butter ausgetreten und erstarrt war. »Passt alles zusammen auf den kleinen Pritschenwagen. Der ist schneller, dann schaffe ich es hin und zurück leicht an einem Tag.«

»Nimm trotzdem den großen Lastwagen«, ordnete Zander an. »Ich habe weitere Ware angenommen. Kisten mit Büchern für unsere Parteigenossen in den Niederlanden. Teilweise ins Niederländische übersetzt.« Er grinste: »›Mein Kampf‹ heißt bei denen ›Mijn Gevecht‹. Klingt witzig.«

Erhard Köhler stöhnte. »Bücherkisten! Kriege ich wenigstens einen Beifahrer? Oder soll ich die alle alleine schleppen?«

»Stell dich nicht so an, die Parteigenossen in Groningen werden dir schon helfen. Außerdem, Arbeit macht frei! Und stärkt die Glieder.«

»Ein bisschen wundert es mich schon, dass wir mit unseren Butterfässern nie Probleme haben an der Grenze«, sagte Erhard. »Bei uns ist Butter doch Mangelware, in den Niederlanden nicht. Warum also Butter von Deutschland nach Holland exportieren? Ist doch unlogisch.«

»Logisch muss es auch gar nicht sein«, schnarrte Zander. »Es ist nicht verboten, darauf kommt es an. Außerdem deklarieren wir den Inhalt nicht als Butter, sondern als Butterfett. Für Großbäckereien. Holländische Stroopwaffeltjes, weißte Bescheid? Die Dinger triefen doch von dem Zeug. So hat noch niemals jemand Verdacht geschöpft.«

Erhard nickte; das wusste er natürlich, die Zolldeklarationen fertigte er schließlich selbst aus. »Wieso bekommen wir so leicht Nachschub an Butter? Wo die doch so knapp ist?«

Georg Zander strich mit der Hand über die Knopfleisten seiner schwarzen Uniform. »Deswegen! Sagte ich nicht, dass die SS die wahre Macht im Staate ist? Aber auch, weil meine Familie aus Ostfriesland stammt. Kennst du Völlen? Das ist bei Papenburg. Vielleicht seid ihr dort mit eurer Jahrmarktsbude schon mal durchgekommen.«

Erhard Köhler zuckte mit den Schultern; mit den alten Zeiten hatte er abgeschlossen. »Da gibt es Butter im Überfluss?«, fragte er.

»Vor allem gibt es da Bauern«, gab Zander zurück. »Reiche Bauern. Gierige Bauern. Die lassen sich nicht gerne vorschreiben, wann sie wie viel zu schlachten und wem sie was zu liefern haben. Solche Bauern denken nicht an die Volksgemeinschaft, sondern nur an den eigenen Bauch. Die sind erst zufrieden, wenn sie Teppiche im Schweinestall liegen haben.«

Blanker Hass sprach aus Zanders Miene; Erhard zuckte erschrocken zurück. Natürlich wusste er, was die SS war und wofür sie stand. Schutzstaffel, von wegen! Aber zu ihm waren Georg und Hasko Zander immer nett gewesen. Herablassend, das ja, manchmal auch geringschätzig, aber meistens korrekt. Man arbeitete zusammen, man brauchte einander; in den letzten Jahren hatte Erhard sich für das gemeinsame Geschäft unentbehrlich gemacht. Er hatte sich trotzdem bemüht, nicht unvorsichtig zu werden, aber wirklich bedroht hatte er sich nie gefühlt. Jetzt aber hatte er einen Eindruck davon, wie sich das anfühlen konnte.

»Na, Bauern eben.« Zander hatte sich wieder im Griff. »Protzen gern mit dem, was sie haben. Aber wenn du sie wegen Gesetzesverstößen bei den Klöten hast, dann fangen die genauso an zu wimmern wie die Judenbengel.« Er lachte böse. »Dann sind die froh, wenn du nichts anderes von denen willst als ein paar Zentner Butter. Verstehst du? Mach den Leuten immer so viel Angst, dass sie denken, es geht ums Leben. Dann trennen sie sich ganz leicht von allem anderen.«

Erhard nickte schweigend. Genau das ist unser Geschäft, dachte er. Wenn Menschen um ihr Leben fürchten, dann geben sie alles andere leichter weg. Dann sind wir da, um es ihnen abzunehmen. Gegen ein Trinkgeld. Gerade so viel, dass sie in irgendein anderes Land kommen, wo sie sich sicher fühlen. Mit schwerem Herzen und leichtem Geldbeutel. Aber mit dem Kopf fest auf dem Hals.

»Was ist mit dem Schmuck?«, fragte Zander unvermittelt. »Wo ist der ganze Silberkram von Levy? Und wo hast du die goldenen Ringe und Ketten von Hammerschmidt hingetan? Pferdehändlers Notreserve, dass ich nicht lache! Als es drauf ankam, hat er sich nicht getraut, das Zeug über die Grenze zu schmuggeln. Feiges Judenpack!«

»Reservereifen«, sagte Erhard Köhler und seufzte. »Hatte ich schon für den Pritschenwagen fertig gemacht. Jetzt muss ich das Zeug natürlich umpacken. Dabei gehen die Lastwagenreifen so schwer von der Felge ab.«

»Da siehst du es mal wieder, blinder Eifer schadet nur. Bloß keine jüdische Hast.« Unvermittelt beugte sich Zander zu Erhard Köhler herab. »Und wie ist das mit den Diamanten ausgegangen?«, zischte er. »Los, ich will eine Erfolgsmeldung hören.«

»Bedaure.« Erhard hielt dem bohrenden Blick aus kalten blauen Augen stand. »Da ist uns einer zuvorgekommen. Muss deutlich höher geboten haben. Landsberg hat heimlich verkauft und mich hingehalten, bis er und seine Leute in Antwerpen waren. Außer Reichweite.«

»Verfluchte Inzucht!«, schimpfte Georg Zander. »Das passiert jetzt auch immer öfter. Sind mittlerweile viel zu viele Hechte unterwegs in diesem Karpfenteich. Müsste mal wieder richtig aufgeräumt werden. Wie damals 1934 mit dem fetten Röhm und seiner schwulen Bande. Zack, Genickschuss, fertig! Wer war das? Hast du den Namen?«

Erhard Köhler schüttelte den Kopf. »Nein. Angeblich war es einer aus Frankfurt, aber sicher weiß ich das nicht.«

»Das muss aufhören«, bekräftigte Georg Zander. »Sonst funken die uns als Nächstes noch bei den Immobilien rein. Läuft da wenigstens alles sauber mit?« Er unterbrach sich; Geräusche von der Eingangstür ließen ihn aufhorchen. Krachend schlug die Tür zu, schwere Schritte stampften über den Flur. Diesmal war es keine Frage, wer da kam.

»Heil Hitler, ihr Luschen!« Hasko Zander war kaum kleiner als sein Bruder, einen oder zwei Zentimeter vielleicht, und das bei identischer Schulterhöhe; auch Stirn und Hinterkopf waren gleichermaßen ausgeprägt. Der Unterschied lag im Gesicht. Haskos Augen waren schmal und von wulstigen Brauen überwölbt, seine Nase wirkte gestaucht, seine Oberlippe war kaum vorhanden; sein Mund war breit, sein Kinn kurz und vorspringend. Trotzdem war die Familienähnlichkeit unverkennbar. Hasko war ein gequetschtes Pendant seines Bruders.

Die Begrüßung fiel herb aus: ein Hieb auf die Schulter, ein Stoß vor die Brust. Für Erhard fiel ein beiläufiges Nicken ab. »Ihr seid beim Geschäft, was?«, stellte Hasko fest. »Sehr gut. Ich brauche Bares.«

»Andauernd brauchst du Geld.« Georg war wenig begeistert. »Neues Auto schon wieder? Das können wir doch über die Firma laufen lassen.«

»Nix Auto. Edelgard!«, rief Hasko. Tief in ihren Höhlen blitzten seine Augen. »Wird Zeit für den Antrag. Ich brauche Ringe! Erst einen, dann noch zwei.«

»Ringe?« Georg schmunzelte belustigt. »Kein Problem, Erhard muss sowieso noch mal an den Ersatzreifen ran. Aber wieso denn jetzt auf einmal? Hast du Edelgard etwa geschwängert, du Hengst? Keine Selbstbeherrschung, der Herr Sturmbannführer, was?«

»Blödsinn«, erwiderte Hasko. »Es ist ihr Vater. Macht Druck, der Herr Großkonfektionär. Will seine Nachfolge endlich geregelt wissen. Hat bloß Töchter, dieser Büchsenmacher. Also ran an den Feind. Heiraten, Enkel zeugen, schon stehe ich im Testament. Und im Grundbuch.«

»Klingt nach überfallartigem Angriff. Mit Stellungskrieg hast du es wohl nicht so, was? Davon hält unser Führer bekanntlich auch nichts.« Sie lachten grölend, wohl wissend, auf wie dünnem Eis sie sich bei dieser doppelten Anspielung auf Hitlers Weltkriegserfahrungen und seinen Familienstand bewegten. »Los, Kleiner, dann leg mal etwas vor!«

Hasko hob abwehrend die Hände: »Von wegen, nicht so ein Judenzeug! Etwas richtig Schickes, maßgefertigt, von dem arischen Goldschmied in der Achternstraße. Ein Ring zur Verlobung, mit Stein, und natürlich Eheringe. Alles schön verziert.«

»Seit wann gibt es einen arischen Goldschmied in der Achternstraße?« Georg Zander schaute Erhard Köhler fragend an. »Ich kann mich an keinen jüdischen Juwelier dort erinnern, den wir … du weißt schon.«

»Gab’s auch nicht«, sagte Hasko Zander. »In dem Haus war ein Klamottenjude. Ist letztes Jahr weg. Jetzt ist da ein Goldschmied drin.«

Sein älterer Bruder seufzte. »Na dann hol mal Bargeld raus, Erhard! Wie viel brauchst du denn, Hasko?«

»Sieben fünf«, sagte Hasko Zander in beiläufigem Ton.

»Bist du bekloppt?«, rief der Ältere entsetzt. »7.500 Reichsmark! Dafür kriegst du einen Mercedes Benz 230 Cabrio, brandneu und mit Küsschen auf den Arsch! So viel Geld willst du für ein paar Ringe ausgeben? Wo wir hier mehr als genug von dem Zeug haben? Und dann womöglich noch so ein kitschiges Zeug mit Hakenkreuz und Totenkopf?« Er ballte die Faust und präsentierte seinen SS-Ehrenring: »Für so was kenne ich eine billigere Bezugsquelle.«

»Vorsicht, Georg«, zischte Hasko Zander zurück, die Zähne gefletscht, die rechte Hand ebenfalls zur Faust geballt. »Darüber macht man keine Witze, nicht einmal dir lasse ich das durchgehen. Auch wenn du einen Rang über mir stehst.« Nase an Nase, Faust an Faust standen sie da, sekundenlang, der eine bebend vor Zorn, der andere vor Gier. Bis Georg Zander sich bewusst wurde, dass Erhard Köhler immer noch neben ihnen stand, in geduckter Haltung und mit wachsamem Blick. »Schon gut, hol das Geld!«, wies er ihn an. »Wir haben genug von dem Zeug.«

Erhard stieß die Tür zur Speisekammer auf. Der niedrige Raum war mit langen Regalen aus ungehobelten hölzernen Latten vollgestellt, und jedes dieser Regale war vollgepackt mit stabilen Pappkartons. Alle trugen den gleichen Aufdruck: »Natronseife«. Die Raumluft war geschwängert mit dem intensiven Geruch von Fett und Glyzerin. Erhard zählte die Kartons auf dem ganz rechts stehenden Regal ab und zog den fünften hervor, der genauso intensiv roch wie die anderen. Sein Inhalt bestand auch aus Seifenriegeln – jedenfalls die obersten beiden Schichten. Darunter befanden sich Geldscheine, ordentlich gebündelt und geschichtet. Erhard Köhler nahm eines davon heraus. »10.000«, stand auf der Banderole, mit Bleistift und in seiner Handschrift.

»Gib her.« Hasko Zander riss ihm das Bündel aus der Hand und steckte es in die Tasche seiner Uniformjacke. »Rest wird verrechnet. Ist sowieso bald wieder eine Ausschüttung fällig, stimmt’s? Das Haus in der Langen Straße. Glaubt nicht, ich hätte den Verkauf nicht mitgekriegt. Sauber getarnt übrigens. Wo kriegt ihr die Strohmänner bloß immer her?«

»Für Geld bekommst du alles«, gab Georg Zander knurrig zurück. »Strohmänner für die getarnten Verkäufe gehen jedes Mal vom Gewinn ab, vergiss das nicht! Von wegen Ausschüttung. Wir müssen liquide bleiben. In nächster Zeit wird es eine Menge Immobilienverkäufe geben. Das heißt für uns viele Ankäufe. Mit Nebenkosten. Ohne Bargeld geht nichts.«

»Ach Bruderherz, ihr macht das schon.« Hasko Zander klopfte sich auf die Jackentasche: »Du und deine zweibeinige Rechenmaschine. Fürs Erste bin ich abgefunden. Sorgt ihr nur dafür, dass die Kuh auch weiterhin so viel Milch gibt!« Er stampfte über den Flur davon, und Erhard registrierte, dass auch er das Horst-Wessel-Lied pfiff.

Georg Zander fluchte leise vor sich hin. »Was der wohl glaubt, dieser Wichtigtuer! Keinen Finger rühren, aber abkassieren. Ewig geht das nicht mehr so weiter. Nichts geht ewig, gar nichts.«

Erhard Köhler merkte auf. »Hast du etwas gehört?«, fragte er leise. »Gibt es Untersuchungen?«

»Untersuchungen gibt es ständig«, erwiderte Georg Zander leise. »Sogar mit der Aufforderung, speziell auf Tarnverkäufe zu achten. Partei und Staat haben doch längst gemerkt, wie viel Beute ihnen durch die Finger rinnt. Die Juden werden nicht ohne Grund zur Emigration gedrängt. Deren Besitz ist längst verplant. Glaubst du, die ganzen Panzer, Flugzeuge und U-Boote gibt’s für lau?«

Erhard überlegte einen Moment. »Wie viel Zeit haben wir noch?«, fragte er dann.

»Zeit? Ein Jahr, vielleicht zwei, aber nur, wenn wir ganz vorsichtig sind.« Zander schaute seinen Kompagnon scharf an: »Mit unseren Geschäften. Oder was hast du gemeint?«

»Unsere Geschäfte, was sonst«, antwortete Erhard. »Was sonst.«

»Mach dir keinen Kopf«, sagte Georg Zander. »Kümmere du dich um den Schreibkram, wie immer, und um den Transport morgen. Ordentliche Papiere und so, kennst du ja. Ich kümmere mich ums große Ganze. Wenn es zu heiß wird, kriege ich das schon rechtzeitig mit.« Sein Blick, der forschend auf Erhard Köhlers Miene ruhte, nahm für ein paar Augenblicke eine freundschaftliche Verbindlichkeit an. »Dir wird schon nichts passieren. Nicht, solange ich meine Hand über dich halte, verstehst du?«

Er verabschiedete sich und verließ das Haus, ihre Basis, ihr wunderbar unauffälliges Versteck am kleinbäuerlichen Rand von Osternburg. Erhard Köhler sah ihm nach, bis er seinen an der nächsten Straßenecke abgestellten Wagen bestiegen hatte und davongefahren war. Dann machte er sich daran, auftragsgemäß die morgige Lieferung vorzubereiten. Solang er seine Hand über mich hält, dachte er dabei. Er spürte ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. Solang. Also nicht für immer. Es wird demnach brenzlig. Für die Juden, die Kommunisten, die Sozis und Gewerkschafter, die Bibelforscher, die Schwulen, soweit sie keine SS-Uniform tragen, natürlich auch für die Neger. Und für uns Zigeuner nicht? Mehr als unwahrscheinlich. Wir sind bloß noch nicht dran. Das wird aber kommen. Schritt für Schritt. Und was dann?

Dann, beantwortete Erhard seine eigene Frage, werde ich vorbereitet sein. Gute Vorbereitung hieß gutes Geld. Noch besser Gold und Edelsteine. Papierscheine galten nur etwas, wenn ein starker Staat dahinterstand, und wer konnte in diesen Zeiten sagen, welcher Staat wie lange stand? Und welcher welchem standhielt? Solange Georg Zander seine Hand über ihn hielt! Du falscher Hund, dachte Erhard. Wenn es eng wird, ist deine Hand doch schneller weg, als ich sie beißen kann. Ihm fühlte er sich nicht verpflichtet, von Anfang an nicht. Nur seiner Familie. So hatte er auch gehandelt. Bis heute unbemerkt. Genauso würde er weitermachen, solange das so blieb.

Also bestimmt nicht ewig.

Verrat verjährt nicht

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