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Spätsommer 1933

»Kohle! He, Kohle, wo bleibst du denn?«, brüllte jemand draußen über den Hof. Erhard Köhler schwante Böses. Vorsichtig lugte er aus dem Fenster.

Erich, sein älterer Bruder, schob sich rücklings unter dem Pritschenwagen hervor, Schmutz in den Augen, das ohnehin dunkle Gesicht dreckig von Öl, Rost und Ruß. »Wer schreit hier rum?«, blaffte er und blinzelte in die blendende Sonne. »Keine Zeit, ich muss fertig werden, gleich ist Fußball.«

»Kohle, bist du bekloppt?« Ein blonder Hüne im ausgebeulten Trainingsanzug baute sich neben Erich auf. »Von wegen gleich! Jetzt ist Fußball, du Idiot!«

Der Schatten des Hünen fiel auf das Gesicht des Liegenden. Der hatte seinen Mannschaftskameraden inzwischen an der Stimme erkannt. »Mensch, Georg, was sagst du da? Erhard wollte mir doch Bescheid geben.« Erich Köhler sprang auf und klopfte sich den Dreck von seinen Arbeitsklamotten. Eine rührende Geste, denn seine Sachen bestanden fast nur aus Dreck.

»Hat er wohl gepennt, der kleine Rotzlöffel!« Georg Zander gab dem deutlich kleineren Erich einen derben Schubs. »Los, wasch dich, zieh dein Jersey an und dann los! Sonst spielen die ohne uns. Hasko hält den Schiedsrichter hin, solange es geht, aber ewig wartet der sicher nicht. Die Meute tobt schon.« Noch ein Schubser. Erich Köhler, halb blind von dem Schmutz und den Tränen in seinen Augen, stieß sich den Fuß an einer alten Felge. Aufjaulend und hinkend eilte er ins Haus.

Eigentlich war es mehr eine Hütte, niedrig und grau, von dichtem Buschwerk umgeben, als wollte es sich vor der Welt verstecken. Ein aussichtsloser Versuch, denn die städtischen Behörden waren längst aufmerksam geworden auf den hölzernen Bau, den einer von Erich und Erhard Köhlers Onkeln vor Jahren in dieser ungenutzten Sandkuhle am Stadtrand von Oldenburg illegal errichtet hatte. Hinter der Hütte standen die Planwagen der Familie, mit denen sie bis vor wenigen Jahren als fahrende Händler unterwegs gewesen waren. Die Köhlers hielten sie gut in Schuss. Wenn der Räumungsbefehl kam, würde man die Wagen bitter nötig haben.

»Verletz dich nicht auch noch!«, brüllte Zander hinter Erich her. »Frisia braucht deine Tore. Dringend!« Etwas leiser knurrte er: »Und du brauchst sie auch. Vergiss das nicht.«

Schuldbewusst versteckte sich Erhard hinter dem hohen Garderobenschrank. Erich humpelte in die Küche, tastete sich zum Spülstein, stellte eine Emailleschüssel unter die kupferne Pumpe und betätigte den Schwengel. Mit Zisternenwasser und Kernseife reinigte er Gesicht und Hände, zog sich Hemd und wollenen Bostrock vom Leib und wusch sich den Hals und die Achselhöhlen. Das musste reichen. Von draußen tönte schon wieder Georg Zanders befehlsgewohnte Stimme. Der Mannschaftskapitän stand kurz vor einem Tobsuchtsanfall.

Einen Moment lang passte Erhard nicht auf; als Erich aus der Küche in den Flur stürzte, rasselte er mit ihm zusammen. Kommentarlos verpasste sein älterer Bruder ihm zwei saftige Ohrfeigen. Erhard taumelte gegen die Wand. Wie zur Abwehr hielt er die alte Taschenuhr ihres Vaters vor sein Gesicht. »Der Stundenzeiger ist wieder lose!«, rief er. »Der große Zeiger ist schon einmal öfter rum. Ich hab’s gerade erst gemerkt.«

»Eine Stunde zu spät«, schimpfte Erich. Er riss sein Jersey mit der Nummer 10 aus dem Wäscheschrank und zwängte sich hinein. »Draußen steht Georg und macht mich zur Sau. Alles nur deinetwegen. Wehe, wenn die ohne mich spielen, dann kannst du was erleben.« Er stürmte aus dem Haus, Erhard in seinem Kielwasser.

Draußen hatte Georg Zander seinen Wagen gewendet und wartete mit laufendem Motor. Auch er fuhr einen Leichtlastwagen, der aber von anderem Kaliber war als die alte Karre, an der Erich herumgeschraubt hatte. Ein Mercedes LO 2000 mit Dieselmotor, erst ein Jahr alt. Der braun lackierte Wagen beschleunigte schneller als mancher Personenwagen; Erich saß kaum auf dem Polster, als Georg Zander auch schon die Kupplung kommen ließ. Erhard konnte sich gerade noch mit ins Führerhaus ziehen. Er schlug die Beifahrertür hinter sich zu.

»Was will die kleine Kröte denn hier?« Zanders Stimme übertönte den aufbrüllenden Motor. »Du spielst noch nicht mit, dich können wir nicht gebrauchen. Verpiss dich. Unsere Anlage platzt sowieso schon aus allen Nähten.«

»Lass ihn doch.« Erich Köhler legte den Arm um seinen Bruder. Offenbar taten ihm die Ohrfeigen von vorhin schon wieder leid. So leicht er aufbrauste, so schnell beruhigte er sich auch wieder. »Er kann uns doch ein bisschen zur Hand gehen. Und nachher alle Schuhe putzen, was, Erhard?« Er knuffte dem 14-Jährigen in die ungedeckte Seite. »Dafür zeigen wir dir heute, wie man richtig Fußball spielt. Vielleicht lernst du es dann auch einmal.«

»Da sagst du was, Kohle«, rief Georg Zander, der sein unbeladenes Fahrzeug mit höchstmöglichem Tempo durch die Schlaglöcher rumpeln und über Bahngleise holpern ließ. Grüne Bäume und graue Fassaden flitzten vorbei. »Heute muss es klappen! Der roten Brut werden wir zeigen, wo der Hammer hängt. Wann, wenn nicht jetzt!«

Erich wackelte zweifelnd mit dem Kopf; ihm war eindeutig nicht wohl zumute. Auch Erhard hatte gehört, dass bei den Hamburgern aus dem verrufenen Stadtteil St. Pauli allerhand Hafenarbeiter mitspielten, handfeste Leute, mit denen nicht zu spaßen war. Vor Kurzem noch hatten viele von denen mit den Roten sympathisiert, mit den Sozis oder sogar mit den Kommunisten; die schreckten vor keiner Saal- oder Straßenschlacht zurück, prügelten sich bei jeder Gelegenheit mit der SA. Ob das immer noch so war? Seit Hitler Reichskanzler war, hatte sich einiges verändert. Selbst in Oldenburg-Osternburg, dem Arbeiterstadtteil, in dem Frisia zu Hause war. Auch hier hatte es früher eine Menge Rote gegeben. Was, wenn die sich mit den anrückenden Hamburgern verbündeten? Vor einer feindseligen Kulisse aufzulaufen, war alles andere als ein Spaß.

Je näher sie der Sportanlage kamen, desto stiller wurde es im Führerhaus des Leichtlastwagens. Verbissen umkrampften Georg Zanders Hände das Lenkrad, immer fester drückte Erich Köhler seinen Bruder an sich. Erhard spürte die zunehmende Spannung, aber bei ihm überwog trotzdem die Vorfreude, die seine Augen funkeln ließ.

Vor dem Stadiontor wurden sie schon erwartet. Vereinskameraden winkten den Laster auf ein freigehaltenes Stück Wiese, zerrten Georg und Erich förmlich aus der Kabine. »Nicht mehr in die Umkleide!«, schrie Hasko Zander, Georgs Bruder, ebenso hochgewachsen und blond wie der. »Gleich zum Platz, hinten über den Draht! Sie fangen an, sie fangen schon an!«

Fluchend riss Georg Zander sich den Trainingsanzug vom Leib, warf die Sachen hinter sich, zwängte seine Füße hüpfend in die Fußballschuhe, die Hasko ihm reichte, und rannte los, hinter Erich Köhler her, der bereits über den Drahtzaun flankte. Lautes Rufen ertönte: »Guck, da kommt Kohle! He, Kohle, zeig’s ihnen!« Hundertfach, tausendfach wurde der Ruf aufgenommen, dröhnte wie ein Donnerwetter über den Rasen: »Kohle! Kohle!«

Um Erhard kümmerte sich niemand. Er sammelte Georg Zanders Trainingssachen auf und machte sich auf den Weg zur Ersatzbank. Jedem, der ihn aufhalten wollte, zeigte er die Jacke mit dem eingestickten Namen des Mannschaftskapitäns. Alle ließen ihn passieren. Rund um den Platz standen die Menschen wie eine kompakte Masse. Diese Masse aber war in ständiger Bewegung, die Leute rieben sich aneinander, johlend und fluchend, Hälse und Fäuste reckend. Irgendwie schaffte es Erhard, sich bis zum inneren Zaun durchzuquetschen. Weil er schlank war, jung und beweglich, vor allem jedoch, weil er dazu entschlossen war. Scheitern war für ihn keine Option. Er tauchte unter dem Zaun hindurch und hockte sich neben der Ersatzbank ins Gras, wo schon ein paar kleinere Jungs saßen. Ganz außen auf der Bank saß ein Betreuer, der zugleich Übungsleiter von Erhards Jugendmannschaft war; er zwinkerte ihm gutmütig zu. »Leg die Sachen unter die Bank, Chabo«, rief er, dann wandte er sich wieder dem Spiel zu.

Von der ersten Minute an ging es hoch her. Irgendwie hatten es die Zander-Brüder geschafft, beim Schiedsrichter eine Aufstellungsänderung in letzter Minute durchzusetzen, jedenfalls standen Georg und Erich in der Startformation, Erich als Mittelstürmer, Georg als Turm in der Innenverteidigung neben seinem Bruder Hasko. Die Gäste aus Hamburg übernahmen mit dem Anpfiff das Kommando, und die Zanders hatten gut zu tun, das Leder ein ums andere Mal aus dem Strafraum herauszudreschen. St. Pauli spielte schnell und ging hart in die Zweikämpfe. Die Frisianer waren sichtlich beeindruckt.

»Kohle! Kohle!« Auf der Gegengerade wurden die Zuschauer wieder laut, wollten ihre Mannschaft unterstützen, in den Angriff peitschen. Die Rufe jedoch blieben dünn und verhallten nach kurzer Zeit. Frisia blieb in der eigenen Abwehr eingeschnürt, Erich Köhler wartete an der Mittellinie vergebens auf einen entlastenden Pass. Nur wenige Zuschauer hielten mit den Gästen, aber die wurden immer lauter. Und frecher. »Was ist denn nun mit eurem Wunderstürmer?«, höhnte einer; normalerweise wäre er sofort niedergebrüllt worden, aber der Spielverlauf drückte auf die Stimmung. »Was ist das für ein fetter Zwerg? Kann der Schwatte überhaupt rennen?«, schrie ein anderer Paulianer. »He, du Kohle! Ab in deinen Sack! Und dann nichts wie in den Ofen.«

Das laute Gelächter schmerzte Erhard mehr als erwartet. Klar, Erich war eher klein und breit gebaut, aber doch alles andere als dick; als Stürmer kam ihm seine Statur zugute, sein niedriger Schwerpunkt machte ihn wendig und durchsetzungsfähig. Erhard war schlanker als sein Bruder, schon jetzt genauso groß wie er, und seine Haut war sehr viel heller. So was kam vor, auch ihre Schwester hatte recht helle Haut, wenn auch nicht so hell wie Erhard. Ihr Bruder Erich wurde häufig als »der Schwatte« verspottet und verlacht. Erich nahm das locker, jedenfalls nach außen, Erhard jedoch war das peinlich. Dafür schämte er sich jetzt. Aber das Lachen der Leute machte ihm Angst. Zumal es bestimmt nicht nur Hamburger waren, die da lachten.

Die erste Viertelstunde war um, und Frisia stand immer noch unter Druck, die Gästeführung war nur eine Frage der Zeit. Gerade schien es so weit zu sein, denn der Oldenburger Torwart unterlief eine Flanke und irrte planlos im Strafraum umher. Zwei Paulianer zeigten einen bildschönen Doppelpass, schon lag das Tor der Gastgeber frei vor ihnen. Ein scharfer Flachschuss und … nein! Die gesamte Kulisse ächzte. Von der rechten Abwehrseite tauchte Hasko Zander auf wie aus dem Nichts, rannte quer vor dem Tor entlang und traf den Ball im letzten Moment mit voller Wucht, nur wenige Zentimeter vor der Torlinie. Das Leder stieg hoch wie von einem Katapult, Hasko stürzte von seinem Sprint entkräftet zu Boden, die beiden Paulianer fielen über ihn. Mehrere Sekunden lang herrschte Tumult im Frisia-Strafraum. Der Schiedsrichter aber signalisierte: kein Foul, weiterspielen! Und der Ball flog.

Er flog bis in den Mittelkreis, zum wartenden Erich. Der nahm ihn aus der Luft an und trieb ihn nach vorne, so eng am Fuß, als sei der Ball festgeleimt. Zwei Paulianer liefen hinter ihm her, rannten aus Leibeskräften, nahmen ihn in V-Formation in die Zange, bereit, ihm die Knochen unter dem Körper wegzutreten. Mit einem einzigen Schlenker ließ Erich sie ins Leere treten und ineinander krachen. Der Gästetorwart lief ihm entgegen, duckte sich, machte sich so breit wie er konnte. Erich schlug einen Haken, verlockte ihn zum Sprung, spielte ihm den Ball unterm Körper hindurch und sprang über den liegenden Torwart hinweg. Der Rest war Formsache. Ein Innenrist-Schuss wie im Training und das Leder zappelte im Netz. Das Stadion explodierte. Aus dem erlösenden, lang gezogenen Torschrei wurde nach und nach ein skandiertes »Kohle, Kohle!« Diesmal höhnte keiner. Jedenfalls keiner, den man gehört hätte. Auch Erhard brüllte und hüpfte in Ekstase, tanzte vor der Trainerbank herum, bis sein Jugendtrainer ihn am Hemd zurück auf den Rasen zog. »Benimm dich, sonst fliegst du doch noch raus!«, tadelte er ihn gutmütig. »Außerdem ist die Messe hier noch lange nicht gesungen.«

Tatsächlich gaben sich die Paulianer keineswegs geschlagen, griffen immer wieder aufs Neue an und bedrängten das Tor der Gastgeber. Der Führungstreffer aber hatte den Oldenburgern frischen Mut verliehen. Immer stärker hielten sie dagegen, befreiten sich aus der Umklammerung der körperlich überlegenen Gäste und trugen selbst schnelle Angriffe vor. Auch der lange Georg Zander schaltete sich in die Offensive ein, versuchte mit genauen Pässen, Erich Köhler in Torschussposition zu bringen. Erich wurde ständig von zwei Gegenspielern bewacht, konnte sich aber immer wieder mit schnellen Körpertäuschungen der Bewachung entziehen. Nach 40 Spielminuten war es dann so weit. Zander schlug den Ball von halblinks diagonal in den Strafraum, »Kohle« lief sich blitzartig frei, versetzte einen weiteren Abwehrspieler durch eine geschickte Körperdrehung und schob den Ball zentimetergenau ins lange Eck. Das Freudengebrüll der Zuschauer musste bis nach Eversten zu hören sein, dachte Erhard, der beide Hände auf seine Ohren presste, um nicht taub zu werden.

Es kam sogar noch besser. Unmittelbar vor der Pause versuchte Georg Zander den Diagonalpass von halblinks noch einmal. Wieder verlud Erich Köhler seine Bewacher und schickte sich an, den herauslaufenden Torwart zu umdribbeln. Der aber versuchte gar nicht erst, nach dem Ball zu greifen, sondern packte Erich am Knöchel und brachte ihn zu Fall. Schreie der Wut dröhnten durchs Stadion, wilde Flüche schallten über den Platz, und die Ordner hatten alle Hände voll zu tun, um die aufgebrachtesten Zuschauer daran zu hindern, den Platz zu stürmen. Der Schiedsrichter pfiff Elfmeter, ohne eine Sekunde zu zögern, und so legte sich die Aufregung, auch wenn der unfaire Torwart mit einer Verwarnung davonkam. Erich selbst trat zur Vollstreckung des Strafstoßes an, täuschte den Schlussmann gekonnt und erhöhte auf 3:0. Das Spiel gegen die favorisierten Hamburger war schon zur Pause so gut wie entschieden.

Während die Spieler zu den Umkleideräumen marschierten, trieb sich Erhard am Spielfeldrand herum und lauschte begeisterten Zuschauern, die sich gegenseitig die entscheidenden Szenen der gerade beendeten Spielhälfte in glühenden Farben schilderten, ein ums andere Mal, bis aus den Spielern göttergleiche Übermenschen geworden waren. Natürlich waren es vor allem Erich Köhler und Georg Zander, denen die größte Anerkennung galt. »Der Herrenmensch und sein Schwatter« nannte einer das spielentscheidende Duo und stieß damit auf allgemeine Zustimmung.

»Scheiß-Zigeuner!«, schimpfte unvermittelt eine Stimme direkt neben Erhard. »Dass wir es nötig haben, so einen spielen zu lassen! Man schämt sich direkt, dass so was immer noch möglich ist.«

Zwei Männer, von der Menschenmenge eingekeilt, standen an den Zaun gepresst. Den Sprecher hatte Erhard schon einmal bei einem Jugendspiel gesehen, vermutlich gehörte er zum Verein. Der andere trug eine Uniform, schwarz, mit SS-Runen an den Kragenspiegeln. »Nur keine jüdische Hast«, erwiderte er. »Schritt für Schritt, eins nach dem anderen. Immer mit Blick auf das Ausland. Deutschland ist noch nicht so weit. Aber das kommt schon, nur Geduld.« Sein Blick erfasste Erhard, der stehen geblieben war und die beiden anstarrte. »Was ist los, Bengel?«, schnauzte der Uniformierte. »Weitergehen, aber zackig! Hier werden keine langen Ohren gemacht.« Erhard machte sich davon, mit brennenden Ohrmuscheln und eingezogenem Kopf. »Auch einer von denen, sieht man bloß nicht gleich«, bekam er noch mit, ehe er außer Hörweite war.

Erhard machte, dass er wegkam. Seine Wangen brannten. Zigeuner! Er hasste dieses Wort, er hasste es, so genannt zu werden. Herumziehende Gauner hieß das, was für eine Gemeinheit, das waren sie doch längst nicht mehr. Sein Vater gab sich alle Mühe, genauso deutsch zu sein wie alle anderen um sie herum. Penibel hielten sie sich an die Gesetze, und zu Hause wurde nur Hochdeutsch gesprochen, auch wenn ihrer Mutter immer wieder ein paar Sätze auf Romanes herausrutschten. Ihr sah der Babo das nach, aber die Kinder durften sich das nie erlauben. Einmal hatte er seine Schwester Chaia gerufen, Mädchen – schon hatte es eine schallende Ohrfeige gesetzt. Dafür musste Vater nicht aus der Rolle fallen, Erziehung durch Schläge war bei Deutschen wie bei Sinti oder Roma gleichermaßen üblich. Ihre Mutter dagegen war der Farbklecks in der Familie. Im Haus kleidete sie sich kunterbunt, trug riesige Ohrringe und glitzernden Schmuck. Bei jeder Gelegenheit sang oder tanzte sie. »Den Flamenco haben unsere Leute erfunden«, rief sie dann, schnippte mit den Fingern und stampfte rhythmisch, dass die Dielenbretter dröhnten und die Tassen im Schrank klirrten. Der Babo lachte dann, und die Kinder klatschten dazu. Sowie ihre Mutter jedoch einen Fuß aus dem Haus setzte, war es damit vorbei, das hatte Vater ihr eingeschärft. Nur nicht auffallen, immer anpassen! Waschechte Roma waren sie nur privat, zum Beispiel, wenn es etwas zu entscheiden oder einen Streit zu schlichten galt. Dann hielt man sich an uralte Überlieferungen. Nach außen aber waren die Köhlers deutscher als deutsch. Und trotzdem bekamen sie es bei jeder Gelegenheit zu hören: »Zigeunerpack!«

Verspätet bemerkte Erhard, dass Regen eingesetzt hatte, ganz leicht zunächst, aber stetig zunehmend. Beim Anpfiff zur zweiten Spielhälfte fiel schon ein solider Landregen, der stärker wurde. Frisias Übungsleiter hatte seine Mannschaft umgestellt, Erich Köhler und Georg Zander blieben draußen, dafür verstärkten zwei echte Eisenfüße die Oldenburger Abwehr. Wieder rannte Pauli an, kam aber nicht mehr bis vors Tor. Der Boden wurde schnell weich und tief, die Stollen der matschverklebten Schuhe boten keinen Halt mehr, Furchen durchzogen den Rasen wie Narben, der Lederball sog sich mit Nässe voll, wurde schwerer und sprang unberechenbar. Das Spiel verlor seine Klasse, verkam zu einer plumpen Bolzerei. Der Schiedsrichter hatte alle Hände voll zu tun, stellte nach einer Keilerei je einen Hamburger und Oldenburger vom Platz und pfiff sich die Lunge aus dem Leib. Die Minuten aber verstrichen, der Sieg rückte für Frisia näher.

Einige Minuten vor Schluss suchte Erhard nach seinem Bruder, um ihn zu beglückwünschen – in der Hoffnung, dass Erich die Sache mit dem Schuheputzen vergessen haben könnte. Er fand ihn unter dem Dachvorsprung der Umkleidebaracke, im Gespräch mit Georg Zander. Beide waren geduscht und umgezogen, Zander trug seine SS-Uniform, in der er noch imposanter aussah. Dem Spiel schenkten beide keine Aufmerksamkeit. Etwas anderes beschäftigte sie anscheinend weitaus mehr.

»Da ist Geld zu holen«, beschwor Zander den kleinen Stürmer, der sich den Rollkragen seines Pullovers übers Kinn gezogen hatte. »Und es wird mehr. Die ganz Schlauen sind schon letztes Jahr weg, aber die anderen merken erst so nach und nach, was die Uhr geschlagen hat. Jetzt wollen sie verkaufen, aber natürlich bekommen sie keine vernünftigen Angebote mehr. Ist klar, warum sollte man den Itzigs das Geld auch hinterhertragen, was? Und da kommen wir ins Spiel.«

Erich schüttelte den Kopf. »Das ist nichts für mich«, lehnte er ab. »Ich halte den Kopf lieber unten. Du weißt doch, meine Leute und ich gehören zu den Unbeliebten. Ich will auf keinen Fall mit unter die Räder kommen.«

So unauffällig wie möglich drückte sich Erhard neben seinem Bruder an die Holzwand. Das belauschte Gespräch von vorhin fiel ihm ein. Schritt für Schritt, eins nach dem anderen.

»Erich, du brauchst dir doch keine Sorgen zu machen!« Georg Zander schlug seinem Mannschaftskameraden wuchtig auf die Schulter. »Ihr habt doch alle den reichsdeutschen Pass, oder? Na also! Juden seid ihr auch keine, das weiß ich, weil ich dich und deine Sippschaft schon in der Kirche gesehen habe. Was soll also passieren?« Er legte Erich den Arm um die Schulter, halb vertraulich, halb Schwitzkasten: »Außerdem, solange ich auf dich aufpasse, kann dir sowieso keiner etwas anhaben. Wer Arier ist, bestimmen wir, verstanden?«

»Ist gut, Georg, ihr seid die Besten, ich weiß Bescheid.« Erich entwand sich dem Größeren, deutete spielerisch ein paar Boxhiebe an. »Und wenn schon. Von diesem Herbst an ziehen wir über die Jahrmärkte, meine Familie und ich, mein Vater mit seiner Schießbude, meine Mutter als Wahrsagerin. Vater sagt, ich soll den Zugwagen fahren. Bin der Einzige von uns, der das kann. Außerdem muss ich die Karre immer wieder zusammenflicken.« Bedauernd breitete er die Arme aus: »Du siehst, es geht nicht. Vater ist der Chef, und was der sagt, ist Befehl. Kennst du doch, kannste nichts machen.«

»Mensch, Erich! Was kannst du denn dabei verdienen? Pfennige! Bei uns machst du das große Geld. Und als Mechaniker können wir dich auch sehr gut gebrauchen. Der Mercedes ist zwar neu, aber was wir sonst noch so im Fuhrpark haben …« Er rollte mit den Augen.

»Einen Mechaniker wirst du doch wohl anderswo finden«, erwiderte Erich. »Beliebter Beruf heutzutage. Hier, guck dir Erhard an, der bastelt gerne an unserem Laster herum. Hat er richtig Begabung dafür.« Sein Blick huschte zwischen seinem Bruder und Georg Zander hin und her. »Rechnen kann er übrigens auch, besser als ich. Überhaupt ist er viel flinker im Kopf, ich hab’s mehr in den Beinen. Und guck mal, wie groß er schon ist. Also, wenn du jemanden suchst für dein Geschäft, wie wär’s denn mit ihm?«

»Mit dem?« Georg Zander betrachtete den Jungen, als sähe er ihn zum ersten Mal. »Mit der kleinen Kröte hier?« Abschätzig starrte er Erhard Köhler aus eisblauen Augen an. Erhard stellte sich kerzengerade hin und starrte zurück.

Verrat verjährt nicht

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