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5.

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Heute

Stahnke warf die Zeitung vor sich auf den Konferenztisch. Am anderen Tischende tat Venema das Gleiche, nur ungleich heftiger. »Hat die Spottdrossel uns wieder ausgetrickst«, schimpfte der Oberkommissar. »Tatortfotos mit allen Details! Aus nächster Nähe! Das kann nur sie gewesen sein. Der Dame ist einfach nicht zu trauen. Klimpert einen treuherzig an mit ihren blauen Augen, und dann haut sie uns hinterrücks doch in die Pfanne.«

»Mit den Wimpern«, korrigierte Stahnke. »Man klimpert mit den Wimpern. Augen klimpern nicht.«

Venema erstarrte. Alle Gespräche im Raum erstarben. Es war plötzlich so still, dass das Gespräch zweier Kollegen unten auf dem Hof durchs offene Fenster Wort für Wort zu verstehen war. Oberkommissar Venema presste seine Lippen aufeinander, stampfte durch den Besprechungsraum und knallte das Fenster zu. Als er seinen Platz einnahm, hatte sich sein Gesicht gerötet.

»Moin zusammen.« Stahnke setzte sich und blickte in die Runde. »Ich begrüße alle Mitglieder der Mordkommission Jachthafen zur ersten offiziellen Dienstbesprechung. Die meisten von uns sind schon seit gestern am Ball; bringen wir uns also gegenseitig auf den aktuellen Stand. Aktenführung macht Frau Wiemken.« Er nickte der grauhaarigen Beamtin zu, die gleich rechts von ihm saß. Nach ihm war sie die älteste Person in diesem Zimmer. Dienstrang Oberkommissarin, Vorname Sibylle. Hoffentlich bietet sie jetzt nicht das Du an, dachte Stahnke. Kollegin Wiemken aber beließ es bei einem Lächeln.

Außer ihr, Stahnke und Venema umfasste die neue Mordkommission zwei weitere Mitglieder, die junge Kommissarin Manuela Schönborn und Hauptkommissar Berthold Seifert vom Wasserschutz. Fünf Leute, das war normal. Ob die MK aufgestockt wurde, hing davon ab, wie sich die Ermittlungen entwickelten. Stahnke wusste, dass er den Vergleich mit seinem Amtsvorgänger nicht zu scheuen brauchte; der hatte keine gute Aufklärungsquote erreicht, viele Fälle waren ungeklärt in die Ablage gewandert. Wenn er hier unter Druck stand, dann nur, weil er von sich selbst mehr erwartete. Deutlich mehr.

Mit Seifert war Stahnke schon in Leer zusammengetroffen; damals war der Glatzenträger mit dem überbreiten Schnurrbart noch bei der Autobahnpolizei. Jetzt also Wasserschutz. Ob es da beschaulicher zuging als auf der Autobahn? Sicher, aber jedes Ding hatte seine zwei Seiten. Längst nicht alle Wasserleichen waren so frisch wie die von gestern. »Hat der Tauchereinsatz noch etwas ergeben?«, fragte Stahnke.

Seifert schüttelte den Kopf. »Leider nein. Es wurden zwar ein paar Kleinteile gefunden, die dürften aber eher im Zusammenhang mit den Bootsliegeplätzen dort stehen als mit unserem Fall. Ein Wantenspanner, ein paar größere Schrauben und Muttern, eine Bratpfanne ohne Stiel. Nichts, was zu den Wunden des Toten passt. Trotzdem haben wir natürlich alles in die Kriminaltechnik gegeben.«

»Danke.« Stahnke legte seine Hände flach auf den Tisch. »Dann gehen wir also unsere Hauptfrage an. Identität des Toten. Wer war dieser Mann? Haben wir diesbezüglich schon etwas? Kollege Venema, was ist mit Gebiss und Fingerabdrücken?«

»Fingerabdrücke negativ«, antwortete der Oberkommissar, dessen Wangen immer noch rötlich getönt waren. »Wir haben ihn nicht in unserer Datenbank. Zahnstatus ist noch offen; Aufnahmen sind angefertigt, aber noch nicht ausgewertet. Ich schlage vor, wir veröffentlichen als Nächstes ein Porträtfoto und bitten die Öffentlichkeit um Mithilfe.« Er hielt den Abzug einer Nahaufnahme in die Höhe.

Seifert lachte. »Foto veröffentlichen? Nach all dem, was heute schon in der Regionalen Rundschau steht? Text und illegale Fotos von Spottdrossel Dressel? Das hat sich wohl erübrigt. Eigentlich müssten unsere Telefone schon Sturm klingeln.«

»Das tun sie natürlich nicht, weil dieser Bericht keine Telefonnummer für sachdienliche Hinweise enthält«, fauchte Venema den Höherrangigen an. »Außerdem ist die Nahaufnahme vom Gesicht der Leiche verpixelt. So viel Anstand hatte die Redaktion gerade noch. Also werden wir das noch mal ganz ordentlich … ja, was ist denn?«

Manuela Schönborn hatte schüchtern die Hand gehoben. Allem Anschein nach war dies die erste Sonderkommission, der sie angehörte. Entsprechend unsicher klang sie, als sie fragte: »Wir suchen den Namen des Toten? Seine Identität ist noch nicht bekannt?«

»Natürlich suchen wir seine Identität«, polterte Venema los. »Wie sollen wir denn wohl den Täter ermitteln, wenn wir nicht einmal wissen, wie der Tote heißt?«

»Ich weiß, wie er heißt«, sagte Manuela Schönborn. Thorsten Venema verstummte augenblicklich, nur sein Mund klappte ein paarmal auf und zu.

»Warum sagst du das nicht gleich?«, fragte Sibylle Wiemken milde tadelnd. »Wer ist es denn?«

»Ich wusste ja nicht … bin doch erst heute früh hierher abgestellt worden.« Sie gab sich einen Ruck. »Der Tote ist Heino Zander. Er hat mit meiner Mutter zusammen an der Uni Oldenburg studiert. Damals hat er im Studentenwohnheim am Johann-Justus-Weg gewohnt. Meine Mutter auch. Es gibt Fotos aus dieser Zeit. Ist lange her, aber ich habe ihn gleich wiedererkannt. Das ist Heino Zander.«

»Gibt es die Fotos noch? Die müssen wir haben.« Fordernd streckte Stahnke seine Hand aus. »Können Sie Ihre Mutter fragen? Am besten jetzt gleich, telefonisch?«

Die junge Kommissarin schlug die Augen nieder. »Die Kartons stehen bei mir auf dem Dachboden«, sagte sie leise, aber mit fester Stimme. »Der ganze Papierkram aus ihrem Nachlass. Ich schaue gerne gleich nach, sobald ich hier abkömmlich bin.«

»Aber sofort, wenn ich bitten darf!«, schnauzte Venema. Als seine junge Kollegin nicht gleich darauf reagierte, fiel ihm auf, was er falsch gemacht hatte. Er schaute Stahnke an und stammelte: »Ich meine, natürlich nur, wenn Sie … wenn Ihnen das recht ist, Herr Erster … Herr Hauptkommissar.«

Seifert, zurückgelehnt in seinem Stuhl, lachte schon wieder. Klar, was Venema da trieb, war unmöglich, dachte Stahnke. Benahm sich wie ein unreifer Polizeischüler. Trotzdem sollte Seifert nur nicht glauben, er könnte den amüsierten Beobachter spielen. Entweder diese Kommission wurde schnellstens ein vernünftiges Team, oder sie konnten es gleich vergessen. Also widmete er Seifert einen Blick, der ihn schlagartig in eine angemessene Sitzposition aufrichtete, ignorierte Venema und sagte freundlich zu Manuela Schönborn: »Wäre nett, wenn Sie das gleich erledigen könnten. Kollegin Wiemken sorgt dafür, dass Ihnen nichts entgeht.«

Die junge Kommissarin nickte, erhob sich und eilte aus dem Raum. Es sah nach Flucht aus.

»Reden wir über diese Frau Dressel«, sagte Stahnke, als die Tür zugefallen war. »Die Erste am Tatort, hat uns sofort informiert, sagt sie. Kein Motiv erkennbar, trotzdem, die Gelegenheit hätte sie gehabt. Behauptet, der Mord könnte irgendwie auf sie bezogen sein, ohne erklären zu können, inwiefern. Kommt heute Mittag zur Befragung. Was muss ich über sie wissen?«

»Ihre Angaben zu ihren Aktivitäten vor der Tat stimmen«, sagte Seifert. »Das Foto, weswegen sie nachmittags nach Völlen gefahren ist, steht heute im Ostfrieslandteil der Zeitung. Beschmierter Gedenkstein vor der Kirche. Zeitpunkt ihres Eintreffens beim Jachthafen des OYC wurde auch bestätigt, von mehreren älteren Klubmitgliedern, die ansonsten nichts Verdächtiges wahrgenommen haben wollen.«

»Außer Frau Dressel hätte demnach keiner das Vereinsgelände während dieser Zeit betreten?«, fragte Stahnke.

»Die Befragten sagen, sie hätten niemanden gesehen«, erwiderte Seifert. »Allerdings haben die sich nach der Inspektion der Slipanlage überwiegend im Vereinsheim am Tresen aufgehalten. Hundertprozentig sicher ist das also nicht.«

»Und was war mit diesem Ticket, das Frau Dressel kassiert haben will? Kam das von euch?«

Seifert schmunzelte. »Genau. Von mir persönlich. War schon witzig, dass ausgerechnet sie uns in die Falle getappt ist. Unter der Eisenbahnbrücke durchgehuscht, ohne das grüne Licht abzuwarten. Typisch für diese wilde Hummel.«

»Also Spottdrossel und wilde Hummel.« Stahnke zählte an den Fingern seiner linken Hand ab: »Was noch? Die Frau scheint viele Namen zu haben.«

»Zigeunerbraut«, platzte Sibylle Wiemken heraus. Erschrocken presste sie sich die flache Hand auf den Mund.

»Zigeuner?« Stahnke runzelte sie Stirn. »Ist sie von der Abstammung her Roma oder Sinti? Oder wie heißt die weibliche Form, Sinta? Das würde zu dem Buchstaben Z aus der Tätowierung des Toten passen.«

»Sintezza«, sagte Venema.

»Gesundheit!«, sagte Seifert und grinste über seinen flachen Witz.

Irritiert guckte Stahnke von einem zum anderen. »Wie war das?«

»Sintezza«, wiederholte der Oberkommissar und schaute Seifert missbilligend an. »Weibliche Form von Sinto. Sinti ist Plural.« Er verschränkte seine Arme vor der Brust.

»Aber nein«, rief Sibylle Wiemken. »Ist sie gar nicht wirklich, das sagt man nur so. Weil sie doch so aussieht. Braune Lockenmähne, rassiges Gesicht, großer roter Mund, sehr weibliche Formen – eine Klischee-Carmen sozusagen. Soll auch einen entsprechenden Männerverbrauch haben.« Sie kicherte albern wie ein Teenager.

»Olé«, knurrte Stahnke. »Also keine Zigeuner-Abstammung? Überprüfen Sie das doch mal. Überhaupt könnte ich ein paar Hintergrundinformationen über die Frau gebrauchen, wie schon gesagt. Ebenso wie über unseren Toten, wie heißt er gleich – richtig, Heino Zander. Universität anfragen, Studentenwohnheim, vielleicht finden wir dort einen Ansatz. Kollege Seifert, wie sieht’s aus?«

Der Glatzkopf verzog missmutig Mund und Schnauzbart. »Die Uni ist nicht gerade meine Welt«, maulte er. »Außerdem haben wir bisher etwas Wichtiges vergessen. Nämlich das Wasser.«

»Nicht vergessen.« Stahnke schüttelte den Kopf. »Nur hintangestellt. Mir ist klar, dass der Täter auch auf dem Wasserweg zum Jachtanleger gekommen sein kann. Mitsamt seinem Opfer, über das wir dringend mehr wissen müssen. Eins nach dem anderen, Schritt für Schritt. Aber bitte, wir können die Schrittfolge auch ändern.«

»Ich bin für paralleles Vorgehen«, sagte Hauptkommissar Seifert. »Der Schleusenwärter weiß, welche Schiffe und Boote gestern bei ihm durchgekommen sind, das wird aufgezeichnet. Mit etwas Glück hat er darüber hinaus vielleicht beobachtet, was sich sonst noch im Huntebecken vor dem Schleusentor getan hat. Ich möchte ihn gerne befragen, solange die Erinnerungen frisch sind.«

»Alles klar, von mir aus«, stimmte Stahnke zu. »Und wer übernimmt die Uni samt Wohnheim?«

»Das mache ich.« Venema hob eifrig die Hand. »Ich kenne mich da ein bisschen aus, bin früher öfter dort gewesen.«

»Klar, früher, als die Uni-Feten noch wilder waren.« Seifert erhob sich. »Melde mich, wenn ich etwas habe«, sagte er und verließ den Raum, Sibylle Wiemken in seinem Kielwasser.

Thorsten Venema blieb noch sitzen, Stahnke gegenüber, an der entfernten Schmalseite des Tisches. Der Hauptkommissar hob den Blick: »Ja, Kollege, was gibt es noch?« Er hatte das diffuse Gefühl, sich entschuldigen zu müssen, wusste aber nicht, wofür.

»Ich wollte noch …« Venema schluckte. »Ich wollte noch gratulieren. Erster Hauptkommissar, das ist schon etwas. Wirklich verdient nach all den Jahren. Was man so gehört hat, die vielen erfolgreichen Ermittlungen …« Der Oberkommissar schien auf eine Erwiderung zu warten, aber Stahnke ließ ihn zappeln. Endlich stieß Venema hervor: »War das der Grund für Ihre Rückkehr? Der Karrieresprung nach all den Jahren?«

Stahnke fixierte ihn mit seinen wasserblauen Augen, und es schien ewig zu dauern, ehe er antwortete: »Bleiben wir doch bei der Anrede Hauptkommissar, wie gestern schon gesagt, in Ordnung? Ansonsten bin ich wieder hier, das ist alles, was ich dazu sage. Höchstens noch, dass Ihre Fragetechnik lausig ist. Daran werden wir arbeiten. Aber vor allem haben wir einen Fall zu lösen.«

Leise ächzend erhob er sich aus seinem Stuhl. Als er sich anschickte, den Raum zu verlassen, war Thorsten Venema schon draußen auf dem Gang.

Verrat verjährt nicht

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