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Es war schon spät, aber immer noch hell, als Olivia an diesem Abend zu Hause eintraf. Leise ächzend, stellte sie ihr Motorrad ab, riss sich den Helm vom Kopf und schüttelte ihre Mähne. Von wegen freier Nachmittag! Ein echter Maloche-Tag war das noch geworden. Aber immerhin hatte sie morgen mal wieder die Seite eins. Mord im Jachthafen, mit Augenzeugenbericht und Tatortfotos aus nächster Nähe! Natürlich mit Pixeln und Balken an den kritischen Stellen. Die Regionale Rundschau gab sich immer noch gerne als das seriöse Chronistenblatt, das sie vor vielen Jahren einmal gewesen war. Aber alle in der Redaktion wussten, dass die Zukunft auf dem Boulevard lag und ohne bluttriefende Schlagzeilen gar nicht erst stattfand. Die Konkurrenz der Blasen-Blogger und Verschwörungs-Fabulierer aus dem Netz war einfach zu groß.
Aus dem Nachbarhaus drangen rhythmische Geräusche. Hörte der alte Schulte etwa laut Musik? Nein, das Geräusch kam aus seiner Garage. Anscheinend bastelte der Rentner wieder an einem seiner Einzylinder herum. Für diese antiquierten Dinger hatte der Alte wirklich ein Faible, dachte Olivia. Und ein Händchen. Etwas Ablenkung würde ihr guttun, denn diese blicklosen blauen Augen waren hartnäckig und schwer zu verdrängen. Also ging sie hinüber und wollte an die Seitentür der Garage klopfen, aber ihr Nachbar kam ihr zuvor. »Hab’ dein Monster schon brüllen hören«, begrüßte er sie lächelnd. »Über euch sollte man mal einen Film drehen. Die Schöne und das Biest.« Er winkte sie herein.
»Alter Charmeur. Deine Sehstörungen sind vermutlich erste Vergiftungserscheinungen«, erwiderte Olivia. Die Schmeichelei tat ihr gut. »Ziemlich dicke Luft hier. Ist das deine Vorstellung von einem schönen Tod? Benebelt umfallen, während du an einer deiner Geliebten herumfummelst?«
Schultes Lachen ging in ein heftiges Husten über. Er schaltete die Zündung der kleinen schwarzen Maschine aus, die im Leerlauf vor sich hin getuckert hatte, und stemmte das Garagentor hoch, um frische Luft hereinzulassen. Olivia half ihm dabei. »Du weißt doch, die lärmempfindlichen Nachbarn«, sagte Schulte. »Ein paar Minuten lang macht mir der Qualm nichts aus. Da hab’ ich schon ganz andere Sachen erlebt. Meine Lunge ist von innen geteert, die hält was aus.«
»Ich weiß, ich weiß.« Olivia rollte mit den Augen. »Deine Generation ist durch den Scheuersack gegangen wie früher die armen Silberlöffel, und was euch nicht umgebracht hat, macht euch nur härter. Und so weiter. Tausendmal gehört. Ich war schon öfter bei dir zu Besuch, du erinnerst dich?«
»Freches Gör.« Der Alte zwinkerte ihr zu. »Kaltes Bierchen?«
Sie setzten sich auf die alte Bank neben der Auffahrt, genossen die letzten Strahlen der tief stehenden Sonne, die auch in die Garage fielen, wo sie die sorgfältig an der Wand aufgereihten Werkzeuge aufblitzen ließen und sich im Lack der alten Motorräder spiegelten. Eine Maico im Militär-Look, eine uralte Royal Enfield und eine Yamaha SR 500 aus den 80er-Jahren konnte Olivia identifizieren. Außerdem standen zwei undefinierbare Böcke mit Elchgeweih-Lenkern und ein Haufen Einzelteile im abziehenden Abgasdunst. Wann wollte der alte Herr das bloß alles noch fahren, fragte sich Olivia, sprach den Gedanken aber nicht aus. Albert Schulte war bemerkenswert fit für sein Alter – aber welches Alter? Zwischen 80 und 90 war alles möglich.
Bei der zweiten Flasche Bier erzählte Olivia, was sie am Nachmittag erlebt hatte. Schulte hörte aufmerksam und teilnahmsvoll zu, als sie von dem Toten im Jachthafen berichtete. Dabei zeigte er keine Spur von Entsetzen. Na klar, abgebrühte Kriegsgeneration, dachte Olivia und erzählte, wie sie den tumben Kriminalbeamten aus Ostfriesland ausgetrickst und heimlich Tatortfotos an die Redaktion geschickt hatte. Schulte grinste. »Wenn der das wirklich nicht gemerkt hat, ist er keinen Schuss Pulver wert«, sagte er. »Ich glaube eher, er hat dich machen lassen. Schließlich will er doch den Toten identifizieren, sagst du. Und je mehr Wirbel du in der Zeitung machst, desto schneller geht das.«
So hatte Olivia das noch nicht gesehen. Hatte der stoppelhaarige Klotz sie wirklich benutzt? So etwas machte keiner mit ihr. Jedenfalls nicht ungestraft. Na, dieser Stahnke lief ihr bestimmt irgendwann noch mal über den Weg. Ach ja, fiel ihr ein, gleich morgen Mittag!
»Auf jeden Fall war das ziemlich gruselig«, nahm sie das Hauptthema wieder auf. »Dass der Tote ausgerechnet an meinem Liegeplatz hing. Und dass er angeblich auch dort gestorben sein soll. Ertrunken, mit einer Stahlfelge um den Hals.«
»Mit einer Felge um den Hals? Von einem Auto?«
»Klar von einem Auto«, schnappte Olivia. »Fahrradfelgen sind ja wohl …« Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie viele Motorradfelgen sich in der offenen Garage befanden. »Ja, eine Autofelge«, wiederholte sie. »Altes Ding, schwer, aus Stahl. Fabrikat soll noch ermittelt werden.«
»Und das ist beim Jachtklub passiert?« Jetzt zeigte der vom Leben abgehärtete Mann doch Wirkung. »An deinem Liegeplatz? Ungeheuerlich.«
»Nicht wahr? Ich frage mich ernsthaft, ob die Aktion auf mich gemünzt war.« Sie leerte ihre Bierflasche in zwei durstigen Zügen. »Als ich meine Arisierungsserie geschrieben habe, du weißt schon, über die früher jüdischen Geschäftshäuser und Villen, da haben mich einige Leute gewarnt. Keine schlafenden Hunde wecken und so. Kann das heute die Quittung gewesen sein? Oder eine Warnung, künftig die Finger von solchen Themen zu lassen?«
Schulte schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn du den Toten gar nicht kennst«, sagte er. »Wenn jemand dir schaden wollte, würde er doch etwas gegen dich selbst unternehmen. Oder gegen dein Haus, dein Boot, dein Motorrad. Ganz zu schweigen von deinen Angehörigen.«
»Nach Angehörigen können die lange suchen.« Olivia machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber was ist mit der Warnung? Wenn ich so weitermache, könnte es mir auch so ergehen? Diese Aussicht gefällt mir gar nicht.«
»Deine Serie war doch letztes Jahr«, sagte Schulte. »Ich weiß es genau, denn ich habe alle Folgen gesammelt.« Er zeigte in den Hintergrund der ungewöhnlich geräumigen Garage; in einer Ecke war dort eine Art Büro eingerichtet, mit Schreibtisch und Regalen voller Aktenordner. »Es war nie die Rede davon, dass die Reihe fortgesetzt werden sollte. Ist das geplant? Dann könnte etwas durchgesickert sein.«
»Nein, nichts in der Richtung geplant, die Sache ist durch.« Jetzt schüttelte Olivia den Kopf. »Momentan bin ich mit der Ostfriesland-Ausweitung der Rundschau voll und ganz ausgelastet. Und falls in nächster Zeit wieder ein Wechsel ansteht, dann geht es für mich in Richtung Sportredaktion, das habe ich mit der Chefetage längst abgekaspert.«
»Stimmt, du willst ja unbedingt über stramme Fußballerwaden schreiben.« Schulte grinste schelmisch. »Dann fang doch gleich mit mir an, ich war mal ein sehr hoffnungsvoller Jugendspieler.« Er krempelte eines seiner Hosenbeine hoch; seine Wade war noch erstaunlich muskulös, allerdings auch bleich, knotig und voller Besenreiser.
In gespieltem Entsetzen hob Olivia beide Hände vor die Augen. »Verschone mich, ich erblinde«, stöhnte sie. »Sag mir lieber, ob du noch irgendwo Bier versteckt hast.«
»Ich hol dir eins.« Schulte erhob sich und ging mit rutschendem Hosenbein in die Garage, wo neben dem Schreibtisch auch ein alter Kühlschrank stand. Die Garage war nicht nur ungewöhnlich breit, sie musste auch ein Stück ins Haus hineinreichen, so lang war sie. Platz genug für noch mehr Bikes aus dem vergangenen Jahrtausend, dachte Olivia, während sie dem kleinen, untersetzten Mann zuschaute, der mit geübten Griffen zwei Bierflaschen aus dem Kühlschrank holte, die Kronkorken am Rand der Deckplatte abschlug und zu seiner Besucherin zurückkehrte. Er schlurfte, aber seine Schritte waren flink.
Sie prosteten sich zu; Olivia nahm einen langen Zug, Schulte nippte nur. »Und?«, fragte er dann. »Glaubst du immer noch, dass dieser Mord irgendwas mit dir zu tun hat? Vielleicht hat der Mörder nur die Gelegenheit genutzt, dass dein Liegeplatz gerade frei war. Wochentags sind doch die meisten Stegplätze besetzt.«
»Ich stelle mir gerade vor, wie er sein Opfer den ganzen Steg entlang geschleppt hat.« Olivia verzog zweifelnd den Mund. »Ich glaube nicht, dass der Mann zu diesem Zeitpunkt gehen konnte, so wie er zugerichtet war. Und der Täter wäre gesehen worden. An der Slipanlage hingen zu der Zeit nämlich ein paar von unseren Grufties rum. Nach dem, was dieser Oberkommissar Venema als offizielles Statement rausgegeben hat, wollen die aber nichts bemerkt haben.«
»Grufties, ja? Solche wie ich?« Schulte drohte ihr scherzhaft mit dem Zeigefinger. »Wie auch immer, es war dein Liegeplatz, und der Täter hat sich die Mühe gemacht, den Ertrinkenden an deinem Poller anzuleinen. Hätte ihn einfach ins Wasser stoßen können, dann wäre er auch gestorben und die Strömung hätte seine Leiche mitgenommen. Wäre vielleicht entdeckt worden, aber viel später. Absicht steckte also wirklich dahinter. Bloß welche? Gab es denn keinen Hinweis?«
»Es gab das hier.« Olivia aktivierte ihr Smartphone, öffnete die Bildgalerie und präsentierte ihrem Nachbarn ein Foto von der Tätowierung des Toten. »Hier, hab’ ich aufgenommen, als gerade keiner hingeguckt hat. Soll eine KZ-Nummer sein. Z 3030, Zigeunerlager Auschwitz.«
Schulte beugte sich vor. Seine Miene verhärtete sich. »Diese Nummer trägt der Tote auf dem Arm?«, fragte er heiser.
Olivia nickte. »Kommt aber nicht hin, sagt der Gerichtsmediziner, weil das Opfer gar nicht das Alter hat, um jemals in einem KZ gesessen zu haben. Eindeutig nach dem Weltkrieg geboren. Er trägt die Nummer eines anderen. Die Frage ist, von wem?« Mit gelenkigem Daumen wischte sie durch die Bilder, die sie am Tatort gemacht hatte. »Ich habe mal gelesen, dass die Nazis über ihre Opfer akribisch Buch geführt haben. Gibt es vielleicht heute noch Verzeichnisse dieser Nummern? Kann man rauskriegen, welcher Name zu welcher Nummer gehörte?«
»Gibt es«, sagte Schulte mit belegter Stimme. »Und kann man sicher.« Er räusperte sich. »Wenn du willst, höre ich mich mal um.«