Читать книгу Der Jahrhundertroman - Peter Henisch - Страница 11

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Drei Tage blieb Lisa dem Café Klee fern. Das schien ihr zum Auskurieren einer mittelschweren Verkühlung angemessen. Natürlich hätte sie auch eine Grippe vorschützen können, die auszukurieren mindestens eine, wenn nicht gar zwei Wochen dauerte – die Viren lagen um diese Jahreszeit angeblich in der Luft. Aber zu lang wegzubleiben wäre nicht nur der Chefin gegenüber unfair, sondern auch unklug gewesen – sie sollte nicht auf die Idee kommen, sich inzwischen um eine andere Aushilfe umzusehen.

Da war Lisa also wieder, am Vormittag des vierten Tages. Lassen Sie sich anschauen, sagte Frau Resch – na ja, ein bisschen blass sehen Sie noch aus! Sie brauchen Vitamine, mein Kind, Zitronen, Orangen, Kiwis! Warten Sie, ich mach Ihnen eine heiße Limonade.

Mit diesen Worten verschwand sie schon in der Küche. Um nicht bloß dumm hinter der Theke zu stehen, griff Lisa nach einem Tuch und polierte ein paar Gläser. Dann kam Frau Resch mit der Limonade zurück, in der sie mit einem langstieligen Löffel rührte. Ich hab auch Honig hineingetan, sagte sie, das ist gut für die Nerven.

Setzen Sie sich ruhig hin, sagte sie, und trinken Sie das in kleinen Schlucken. Sie sehen ja, das Lokal ist wieder einmal nicht überfüllt. Lisa fühlte sich angenehm bemuttert. Auch wenn sie sich beim Trinken ein bisschen schäbig vorkam, weil sie diese Fürsorge der Vortäuschung falscher Tatsachen verdankte.

Bis zehn kamen nur zwei oder drei Gäste, um elf, in ihrer großen Pause, kamen ein paar Lehrerinnen aus der Klosterschule um die Ecke. Da gab es dann einiges zu servieren und anschließend abzuräumen. Wer aber vorläufig nicht auftauchte, war Herr Roch. Lisa fragte sich, wo er blieb, aber Frau Resch wollte sie lieber nicht nach ihm fragen.

Am frühen Nachmittag wollte die Chefin auf die Post. Gut, dass Sie wieder da sind, Lisa, da kann ich das noch heute erledigen. Und anschließend würde sie noch einen Sprung auf den Markt machen. Roch erschien keine zehn Minuten, nachdem Frau Resch gegangen war.

Fräulein Lisa! sagte er. Was für eine Freude, dass Sie wieder da sind! Na, hoffentlich sind Sie jetzt wieder wohlauf und munter! Sie sind mir abgegangen, wissen Sie? Ohne Sie ist dieses Lokal einfach ein trauriger Ort.

So traurig, dass es ihn gar nicht mehr gereizt habe, schon früh am Vormittag hierherzukommen. Ehrlich gesagt, sei es ihm in den letzten beiden Tagen sogar schon fragwürdig erschienen, am Morgen überhaupt aufzustehen. Angesichts dieser trostlosen Finsternis vor dem Fenster. Ohne die Perspektive, im Café Klee durch Lisas Anblick und Gesellschaft aufgemuntert zu werden.

Etwa so redete er und war kaum zu bremsen. Und da merkte sie schon, dass es ihr nicht leichtfallen würde, ihm zu sagen, was sie sich zu sagen vorgenommen hatte. Merkte das schon, bevor er auf den Roman zu sprechen kam. Wie sollte sie ihm denn beibringen, dass sie ihm das Manuskript und die hundert Euro, die er ihr zugesteckt hatte, zurückgeben wollte, schlicht und einfach deshalb, weil sie es nicht lesen konnte, und dass sie sein Ansinnen, ein derartiges Manuskript nicht nur zu lesen, sondern auch noch abzutippen, eigentlich als Zumutung empfand, wenn nicht als schlechten Scherz.

Sag’s ihm kurz und bündig, hatte ihr Ronnie geraten, sag’s ihm klipp und klar. Aber Ronnie hatte leicht gute Ratschläge geben. Für ihn war Herr Roch ein Phantom, ein Freak, eine komische Figur. Sie aber hatte diesen alten Mann, mit dem sie doch, wenn sie ihren Job im Café Klee nicht aufgeben wollte, voraussichtlich noch längere Zeit irgendwie auskommen musste, nun wieder leibhaftig vor sich.

Ja, sie hatte das Manuskript in der großen, schwarzen Mappe wieder in ihren Stadtrucksack gezwängt, um es ihm zurückzugeben. Und den Geldschein, den er ihr als Vorschuss zugesteckt hatte, hatte sie auch dabei. Aber sie wollte Roch doch nicht mutwillig wehtun. Und beleidigen wollte sie ihn auch nicht.

Also sagte sie nicht, dass sie sein Manuskript nicht lesen konnte. Sondern nur, dass sie gewisse Schwierigkeiten mit seiner Schrift habe. Schwierigkeiten, die es ihr allerdings unmöglich machen würden, den Text abzutippen. Jedenfalls in einem halbwegs vernünftigen Tempo.

Ach so? sagte er. Ach ja. Das habe ich mir fast gedacht. Dass es nicht leicht für Sie sein wird, sich einzulesen. Also zuallererst, meine Schrift zu entziffern. Wenn es allerdings so schwer ist, werden wir uns eine andere Vorgangsweise einfallen lassen müssen.

Eine andere Verfahrensweise, sagte er und ließ das Wort wirken, während er die Brille abnahm und sie mit einem Brillenputztüchlein zu putzen begann. Mit so einem kleinen, dottergelben Rauledertüchlein. Einem sogenannten Rehhäutel (so hatte das jedenfalls ihr Großvater genannt). Wo ist denn mein Rehhäutel? Gegen Ende hatte der Opa dieses Brillenputztüchlein ständig gesucht.

Ständig gesucht hatte er es in den Taschen seiner Hausjacke. Linke Tasche, rechte Tasche, Brusttasche, und dann wieder von vorn. Linke Tasche, rechte Tasche, Brusttasche, ganze Nachmittage lang. Ich muss meine Brille putzen. Es ist so diesig.

Eine andere Verfahrensweise, sagte Roch, jedenfalls für die ersten Seiten des Romans. Bis Sie sich an meine Schrift gewöhnen, bis Sie, was das Lesen meiner Schrift betrifft, ein wenig in Schwung kommen. Ich werde Ihnen also für den Anfang ein bisschen Hilfe leisten. Gewissermaßen als Schrittmacher – verstehen Sie, was ich meine?

Wir werden doch, sagte er, nicht gleich den Mut verlieren, nicht wahr? Wir können die ersten Seiten des Romans doch gemeinsam dechiffrieren.

Faltete das Brillenputztuch sorgfältig zusammen, bettete es ins Brillenetui, setzte die dicke Brille wieder auf, lächelte.

Sie kommen zu mir und ich werde Ihnen diktieren.

So also stellte er sich das vor. Hatte er es von Anfang an darauf angelegt?

Ist das Ihr Ernst? sagte sie. Ich soll zu Ihnen in Ihre Wohnung kommen?

Ich beiße nicht, sagte er. Oder sehe ich so aus? Allerdings wollte ich Sie eigentlich nicht in meine Wohnung einladen, sondern in mein Depot.

Rochs Depot. Vage erinnerte sie sich nun, dass er schon früher davon gesprochen hatte. Von einem Raum, in dem er offenbar altes Zeug lagerte. Seine Wohnung sei klein, sagte er, im Depot aber habe er 250 Quadratmeter zur Verfügung. Dort lagere er einiges von den Materialien, die er beim Schreiben benötige.

Was denn für Materialien?

Bücher, Zeitungen, Fotos: Inspirationshilfen. Wenn Sie mich dort besuchen, werden Sie es ja sehen.

Ach so? dachte sie. Das werden wir erst sehen, ob ich das sehen werde!

Die Wegzeit, sagte Roch, können wir selbstverständlich zusätzlich verrechnen.

Pass auf, sagt Ronnie. Der Alte will dich entweder verarschen oder vernaschen.

Blödsinn, sage ich. Warum sollte er mich verarschen wollen …? Und vernaschen? – Der ist doch jenseits von Gut und Böse!

Ja, eben, sagt Ronnie. Das ist ein Zustand ungeahnter Freiheit.

Ronnie kann ganz schön fies lächeln, wenn er so drauf ist.

Wer weiß, was so einem Opa, der halt auch noch ein bisschen Spaß haben will, in diesem Zustand alles einfällt.

Was vor allem dir einfällt! sage ich. Du hast doch nichts als Sex im Schädel!

Du verkennst mich, sagt er. Ich bin ein romantischer Idealist.

Und will mich umarmen. Aber manchmal mag ich das gar nicht.

Was glaubt er denn? Dass er nur die richtige Taste drücken muss, und ich funktioniere? Nur die richtige Zone am Touchscreen berühren? Das kann er vielleicht mit Tina machen. Aber mit mir nicht!

Na schön, wie du glaubst, sagt er und wirkt ein bisschen verärgert. Rennt in meinem Zimmer hin und her, in dem er eigentlich nach wie vor nichts verloren hat. Erinnert mich mit diesem Hin- und Her-Gerenne noch ganz überflüssigerweise an meinen Vater.

Also ich an deiner Stelle, sagt er, würde dort nicht hingehen.

Sollte sie hingehen oder sollte sie nicht? Zwar ärgerte sie Ronnies Gerede, aber vielleicht hatte er trotzdem nicht ganz unrecht. Frau Resch brauchte sie gar nicht zu fragen, was sie davon hielt. An deren heftige Reaktion auf Rochs erste Versuche, sie für seinen Roman zu interessieren, konnte sie sich noch gut genug erinnern.

Roch hatte ihr die Adresse seines Depots auf einen Kassablock geschrieben. In etwas verwackelten, aber immerhin leserlichen Großbuchstaben. WIEN 8, FLORIANIGASSE NR. 4A. Das ist leicht zu finden, hatte er gesagt: die kleine, grüne Tür neben dem großen Haustor.

Wann können wir anfangen? Morgen? Oder übermorgen? Ich diktiere, Fräulein Lisa, und Sie tippen. Ich bin sicher, wir sind ein gutes Gespann. Wenn wir in Fahrt kommen, schaffen wir pro Sitzung zwanzig Seiten.

Ich weiß nicht, sagte sie. Sehen Sie, ich muss zuerst einmal meine Proseminararbeit fertig schreiben.

Er legte den Kopf schief. Wirklich? Bereits so früh? … Zwei Euro pro Seite. Scheint Ihnen das zu wenig? … Meinetwegen kann es auch etwas mehr sein.

Und das war, zugegeben, eine Versuchung. Aber Lisa musste ihr nicht gleich nachgeben. Den Vorsatz, kein Geld von ihrem Vater anzunehmen, hatte sie schon gebrochen – den ersten der beiden Fünfhundert-Euro-Scheine, die er ihr geschickt hatte (sie würde immer seine Tochter bleiben, hatte er auf die Rückseite eines beigelegten Fotos geschrieben, eines Fotos, auf dem sie, im Alter von sieben oder acht, neben ihm am Bug eines Segelboots zu sehen war, braungebrannt wie er, mit im Wind wehendem Haar), den ersten dieser beiden Fünfhunderter hatte sie sich schon wechseln lassen. Da würde es auf den zweiten auch nicht mehr ankommen.

Aber dann? Wenn dieses Geld verbraucht war? Wie viel Verlass war auf Papas schlechtes Gewissen? Was ihr zustand, war die Kinderbeihilfe, die er ihr, wenn sie studierte, bis zum vierundzwanzigsten Lebensjahr überweisen musste. Darüberhinaus war er zu nichts verpflichtet.

Und Mama? – O weh, die arme Mama! Sie gab ihr Geld nach wie vor für den Anwalt aus, der mit Papas Anwälten im Clinch lag. Und für die Psychotherapeutin, die ihr über all den Frust hinweghelfen sollte. Wenn es nach ihr ging, musste Lisa nicht studieren: Sie kannte seit einiger Zeit einen netten Zahnarzt, der ihre Tochter ohne Weiteres als Assistentin einstellen würde.

Blieb also das Geld, das Lisa als Kellnerin verdiente. Das würde gerade reichen, um die Studiengebühr und die Miete für das WG-Zimmer zu bezahlen. Übrigens eine unverschämt teure Miete. Grund genug also, sich Herrn Roch warmzuhalten.

Manchmal ertappte sie sich jetzt beim Kopfrechnen. Wenn sie Roch beim Wort nahm und – ohne unverschämt zu sein – sagen wir zwei fünfzig pro Seite verlangte, machte das 50 Euro pro Nachmittag. Angenommen, sie besuchte ihn Dienstag und Donnerstag – wofür sie zwar eine oder zwei Vorlesungen ausfallen lassen musste, aber irgendwelche Mitschriften würde sie schon bekommen -, ergab das 100 Euro pro Woche. Die sprachen dafür, Rochs Angebot anzunehmen.

Aber drängen durfte er sie nicht.

Eines Nachmittags, als sie ihre Kellnerinnenstunden hinter sich gebracht hatte und auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle war, ging er plötzlich neben ihr her. Ja, so etwas, sagte er, was für eine hübsche Überraschung. Dass wir einander zufällig über den Weg laufen!

Wohin gehen Sie, Fräulein Lisa? Darf Sie ein Oldie wie ich ein Stück begleiten? Ich hoffe, mein Hinken bringt Sie nicht aus dem Takt.

Tatsächlich hatte sein Hinken so nah neben ihr etwas Irritierendes: Sie musste sich zusammennehmen, um nicht ebenfalls zu hinken.

Wahrscheinlich hatte er sich vorgestellt, hier draußen ungestörter auf sie einreden zu können als im Café. Aber diese Rechnung ging nicht ganz auf. Da war erstens der Verkehrslärm, durch den sie ohnehin nicht alles verstand, was er ihr sagen wollte, und zweitens ihre Neigung, eine gewisse Distanz zwischen ihm und sich zu wahren, auch wenn das auf dem schmalen Gehsteig, auf dem sie gingen, nicht leicht war.

Er versuchte, darüber hinwegzureden. Sie sind unterwegs zur Uni, sagte er, nicht wahr? Sie sind ja bewundernswert fleißig, Fräulein Lisa! Was macht denn übrigens Ihre Proseminararbeit, kommen Sie damit voran?

Sie antwortete nur unwillig. Mit dieser Arbeit sei sie noch nicht fertig. Außerdem müsse sie noch eine weitere schreiben.

Was Sie nicht sagen! gab sich Roch verwundert. Die Anforderungen, die heutzutage schon im ersten Semester an die Studierenden gestellt werden, sind ja geradezu unwahrscheinlich!

Er hinkte neben ihr her. Sie sah ihn nicht an, sie schaute geradeaus. Doch sie spürte sein unverschämt schiefes Lächeln. Aber Kopf hoch, Fräulein Lisa, Sie werden das schon schaffen. Und dann werden Sie doch ein bisschen Zeit für mich und mein Projekt haben?

Dann würde sie zu ihm in sein Depot kommen und er würde ihr diktieren … Und das sollte sie doch interessieren … Sie werde dabei vielleicht einiges erfahren, das sie auf der Uni nicht erfahren würde … Also – einmal abgesehen von materiellen Fragen – auch in intellektueller Hinsicht werde es ihr Schaden nicht sein.

Und dann war die Straßenbahnhaltestelle bereits in Sichtweite. Und je näher sie ihr kamen, desto bedrängender redete er. Sie werden mich doch nicht hängen lassen, Lisa! (Bei diesen Worten fasste er sie sogar am Arm.)

Vergessen Sie bitteschön nicht, worum es geht!

Und ja, das wusste sie doch: Es ging um den Roman.

Seinen Roman, der nicht irgendein Roman war … Sondern – Doppelpunkt – ein Jahrhundert roman …

Das wusste sie ja. Das hatte er ihr doch schon hundertmal erzählt.

Dass er es als Verpflichtung empfunden habe, diesen Roman zu schreiben … Aus Dankbarkeit den Autoren und Autorinnen gegenüber, von deren Büchern er mehr als ein halbes Leben lang umgeben gewesen sei … Diesen Roman zu schreiben, an der Schwelle zu einem Jahrhundert, in dem Literatur oder zumindest Literatur, wie die in seinem Jahrhundert geschriebene, vielleicht, ja wahrscheinlich, in Vergessenheit … und so fort.

Und jetzt war die Straßenbahn da und sie stieg rasch ein.

Und die Falttür schloss sich hinter ihr und Roch blieb draußen. Er stand auf dem Gehsteig, sehr klein, und winkte ihr. Und sie atmete auf, erleichert darüber, dass er nicht mit eingestiegen war.

Und auf der Fahrt, auf dieser eine knappe Viertelstunde langen Straßenbahnfahrt bis zur Haltestelle Schottenring, wuchs ein Widerwille in ihr. Ein Widerwille und ein Trotz gegen Roch und seinen dubiosen Roman. Einmal vorausgesetzt, dass er wirklich nichts anderes von ihr wollte, als dass sie die unleserlichen Seiten seines Manuskripts nach seinem Diktat tippte (und einmal davon abgesehen, dass er ihr dafür, wenn sie ihn lang genug zappeln ließ, wahrscheinlich auch drei Euro pro Seite bieten würde): Warum sollte sie wer weiß wie viel Zeit und Energie auf die fixe Idee eines alten Mannes verschwenden, statt sich endlich ihren eigenen Texten zuzuwenden?

Nicht erst den Texten, die sie getippt hatte, seit sie in Wien war, im Café Klee oder in der WG oder – solange das Wetter warm genug gewesen war –, auf einer der kalten Bänke im Hof der Uni. Nein, auch jenen, die sie noch in Linz geschrieben hatte, schon viel früher. Texten, die doch noch in ihrem Smartphone gespeichert sein mussten, manche verschlüsselt, aber sie hatte das Passwort, das sie damals verwendet hatte, notiert. Genau: Statt sich in Rochs zwielichtiges Depot verschleppen zu lassen, sollte sie sich lieber in ihrem WG-Zimmer hinsetzen und zusammensuchen, vielleicht in einem neuen Dokument zusammenfassen, was sich da alles fand.

Zum Beispiel das:

einmal, als ich aufwachte mitten in der Nacht

da hing der Mond ganz schief vor dem Fenster und ich dachte, die Erdachse muss gekippt sein, während ich geschlafen habe.

draußen im Garten piepste ein Vogel ganz kläglich, aber der Hund schlief friedlich.

meine Eltern, an deren Tür ich horchte, offenbar auch, mein Bruder Jakob schnarchte sogar ein wenig.

die Katze war allerdings nicht zu finden, das Küchenfenster stand offen, sie war also unterwegs.

ich öffnete den Kühlschrank und trank kalte Milch aus der Flasche, damals mein Lieblingsgetränk.

dann hörte ich, wie die Katze, hinter meinem Rücken, durchs Fenster hereinsprang.

ich drehte mich um, sie war auf dem Tisch gelandet, ein kleiner Tiger, mit weichen Pfoten, aber scharfen Zähnen, dazwischen der Vogel, den legte sie mir hin, neben die Obstschüssel mit den rotbackigen Äpfeln:

ein Geschenk.

ich rührte das Frühstück nicht an.

was hast du? fragte die Mama.

nichts, sagte ich. Bloß keinen Appetit.

aber Kind, sagte die Mama.

ich bin kein Kind, sagte ich.

lauter gute Sachen, sagte der Papa. Das Müsli heute mit Waldbeeren.

und der Beinschinken ist super, sagte Jakob. Und die Senfeier sind echt geil.

und der Marmorkuchen, sagte die Mama mit Rufzeichen.

alles sah schön aus und roch gut. Und der Kaffee aus der neuen Moccamaschine duftete. Aber ich wollte lieber nichts davon. Nein, danke.

stand auf und ging Richtung Toilette, noch möglichst beherrscht.

kam aber keinen Moment zu spät dort an.

kotzte gut fünf Minuten lang, wenn nicht mehr.

danach war das Handwaschbecken voll mit Federn.

Jakob klopfte an die Tür. Andere Menschen haben auch ihre Bedürfnisse.

geh aufs Klo im Oberstock, rief ich, das hier dauert noch eine Weile.

ich fragte mich, ob ich die Federn einfach hinunterspülen konnte oder ob sie den Abfluss verstopfen würden.

die größeren erwischte ich mit Hygienepapier, aber die Flaumfedern waren widerspenstig.

was ist denn los mit dir? fragte mein Vater, als ich dann neben ihm im Auto saß.

wenn er am Vormittag in die Ordination musste, nahm er mich meist mit und ließ mich an der Ecke zur Schulstraße aussteigen.

Achselzucken.

schnall dich an, sagte er. War dir schlecht?

du hast doch hoffentlich nichts angestellt?

ich kapierte gar nicht gleich, was er meinte.

angestellt! Was für ein peinliches Wort in diesem Zusammenhang.

ich bin doch dein Papa, sagte er, mit mir kannst du über alles reden.

ich meine, auf so einer Party wie der, von der ich dich unlängst abgeholt hab, kann ja vielleicht dies und das passieren.

die Party, von der er mich, statt wie ausgemacht um zwölf, schon um halb zwölf abgeholt hatte.

statt draußen vor dem Lokal zu warten, wie ausgemacht.

urpeinlich. ich wollte gar nicht daran erinnert werden.

ich hab mit keinem meiner Mitschüler geschlafen, sagte ich, falls du das meinst.

okay, sagte er. Umso besser. Nichts für ungut.

von meinen Mitschülern kam doch keiner in Frage!

inzwischen waren wir in den Morgenstau geraten.

nur stockend kamen wir weiter. An fast jeder Ampel kamen wir bei Rot an.

bis zur Schule fehlten zwar nur mehr zwei Kreuzungen, aber ich wollte einfach raus.

die Luft behagte mir nicht mehr in Papas Volvo.

der Geruch der Ledersitze, auf die er so stolz war, der Geruch seines Rasierwassers …

lässt du mich bitte schon hier aussteigen? sagte ich. Die paar Schritte geh ich zu Fuß.

wie ich dann aber abbiege: Statt auf der Hauptstraße zur Schule zu bleiben, schlüpfe ich in eine der Nebengassen. Ich brauch einfach noch ein wenig Luft, muss durchatmen nach dieser Nacht, diesem Morgen. Auch wenn die Luft gar nicht gut ist, hier, in der Nähe der Fabrik, in der sie irgendeinen Kunststoff erzeugen. Aber das Gehen tut gut, und es ist ja erst zwanzig vor acht, ein kleiner Umweg muss drin sein. An einem Plankenzaun entlang, dann ein Stück zwischen Schrebergärten. Und an den Glashäusern vorbei, deren Dächer schon in der Sonne glitzern. Der Mond, den ich heute Nacht gesehen habe, ist schon untergegangen. Kein Wunder, er hat ja auch ausgeschaut wie ein kenternder Kahn (eine kenternde Gondel?).

jetzt ist es schon zehn vor acht, wenn ich noch rechtzeitig zur ersten Stunde in die Schule kommen will, muss ich rennen. Aber will ich das wirklich? Zahlt sich das aus? Die erste Stunde haben wir Chemie, o Gott! Die Chemie zwischen dem Chemielehrer und mir stimmt ohnehin nicht.

da ist es gescheiter, erst in der Pause zu kommen. Genau. Bis dahin kann ich mich noch ins Espresso setzen. Und einen Cappuccino trinken und einen Toast essen. Schließlich habe ich heute noch gar nichts im Magen.

Und dann sitze ich wirklich im Espresso, Rialto heißt es, da hängen Fotos von Venedig an der Wand. Und erinnere mich an ein Foto, auf dem ich, mit fünf oder sechs, auf dem Markusplatz steh, umgeben, ja sogar umflattert von allzu vielen Tauben. Und ich hab eine Tüte mit irgendwelchen Körnern in der Hand und soll diese distanzlosen Vögel füttern und dabei auch noch lieb dreinschauen. Was mir nicht recht gelingt, ich bin offenbar nicht überzeugt, dass sie mir nichts tun, und vielleicht werde ich gleich weinen.

und ich reiße ein paar Seiten aus der Mitte des Chemiehefts, denn das will ich mir notieren. Und es wird halb neun und es wird viertel vor neun und um zehn vor neun beginnt die Pause. Und jetzt müsste ich mich beeilen, um wenigstens zur zweiten Stunde zurechtzukommen. Aber da bin ich gerade so schön im Schreiben.

So hatte es angefangen. Und so ging es dann weiter. Sie war immer öfter schon etwas zu spät dran am Morgen. Zu spät, um zur ersten Stunde zurechtzukommen. Sodass sie sich lieber ins Espresso setzte und schrieb.

Sie schrieb Gedichte, sie schrieb Geschichten, sie schrieb Entschuldigungen in der Handschrift ihres Vaters. Meine Tochter war heute morgen unpässlich, ich ersuche daher, ihr Zuspätkommen zu entschuldigen. Manchmal schrieb sie statt Zuspätkommen gleich Fernbleiben. Das waren sehr produktive Vormittage.

Hi, Semira. Ich habe alte Texte von mir gefunden. Texte, die ich mit fünfzehn oder sechzehn geschrieben hab. Als du noch nicht in unserer Klasse warst. Sind ein paar ganz interessante Sachen darunter.

Jedenfalls hat mir das Wiederlesen Freude gemacht. Und hat mir Lust gemacht, etwas Neues zu schreiben. Ich mail dir drei Gedichte, die in den letzten Tagen entstanden sind. Die sind von den Graffiti inspiriert, die ich hier fotografiert hab.

Hey!Könntest nicht auch du die Graffiti in deiner Umgebung fotografieren? Die mailst du mir dann. Und ich mail dir wieder die meinen. In einer Geschichte, die ich geträumt habe, haben wir eine gemeinsame Reise per Interrail unternommen, aber ich weiß nicht mehr, wohin. Ich werde versuchen, diese Geschichte zu schreiben, vielleicht wird es sich dann herausstellen.

Der Jahrhundertroman

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