Читать книгу Der Jahrhundertroman - Peter Henisch - Страница 8

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Entschuldigung, sagte der Herr Roch, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten … Ob Sie schreiben oder nicht schreiben, das ist natürlich Ihre Angelegenheit … Und erst recht, was Sie schreiben. Gar keine Frage! … Ich hab nur gedacht, wenn Sie womöglich selbst schreiben, nur einmal angenommen …

Als ob er sie mit diesen Floskeln einkreisen wollte.

Also nur einmal angenommen, sagte er, gesetzt den Fall … Dann wären Sie für den Job, den ich Ihnen anbiete, ganz besonders qualifiziert. Um nicht zu sagen – und vor diesem Wort ließ er eine effektvolle Pause – prädestiniert.

Jetzt hören Sie aber auf! sagte sie.

Aber das meine ich ernst! sagte er. Sie sind die Person, die mir helfen kann, den Jahrhundertroman endlich in den Griff zu bekommen. Eine Person, die nicht nur flott auf dem Laptop tippt, sondern …

Sondern was?

Sie sind auch eine Person, die dieses Projekt interessiert.

So, sagte sie.

Ja, sagte er. Oder interessiert es Sie etwa nicht?

Was sollte sie sagen? Sie wollte nicht unhöflich sein.

Ja klar, sagte er, bevor ihr eine ausweichende Antwort einfiel. Sie können sich halt noch zu wenig darunter vorstellen.

Von da an versuchte er ihr zu erklären, was es mit dem Jahrhundertroman auf sich habe. Das war allerdings nicht so einfach, denn er holte recht weit aus. Und das führte dazu, dass er manchmal unterbrochen wurde. Das Café Klee hatte nach wie vor nicht viele Gäste, aber einige, um die sie sich zu kümmern hatte, kamen doch.

Dass Herr Roch dann nicht weiterredete, lag aber nicht nur daran, dass sie sich vorübergehend von seinem Tisch entfernen musste. Er verstummte, so kam es ihr vor, durch jede dieser Unterbrechungen verstimmt. Als ob es eigentlich eine Zumutung wäre, dass Personen, die das, was da zwischen ihm und ihr zu besprechen war, nichts anging, einfach in ihr Gespräch hereinplatzten. Vielleicht war es aber auch so, dass er, wenn er in seinen Ausführungen gestört wurde, irritiert war und vergaß, was er gerade zuvor hatte sagen wollen.

So viel bekam sie trotzdem mit, dass er die Idee des Jahrhundertromans schon lang mit sich herumtrug. Eigentlich, sagte er, seit dem Jahr 1999. Am 1. Jänner 2000 habe er sich hinsetzen und mit dem Jahrhundertroman anfangen wollen. Und das habe er auch tatsächlich getan, aber dann sei ihm Verschiedenes dazwischengekommen.

Zwar habe er sich, sagte Roch, nicht entmutigen lassen. In immer neuen Anläufen habe er versucht, den Jahrhundertroman in Schwung zu bringen. Aber da habe es nicht nur Probleme gegeben, die mit seinem persönlichen, in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts ein wenig entgleisten Leben zusammenhingen (einmal ganz abgesehen von den Problemen, die sich durch seine, wie er es nannte, kleine Behinderung ergaben). Es gab auch Probleme, die, wie er betonte, im Wesen des Projekts lagen.

Das Wesen seines Projekts! Wenn er so redete, ging er ihr wieder recht auf den Geist. Vor allem weil er nie klarmachen konnte, worin dieses Wesen eigentlich bestand. Ach was, dachte sie dann, warum hör ich mir das überhaupt an? Und trotzdem schaffte er es, sie immer wieder an seinen Tisch zu locken.

Und dann, eines Nachmittags, kam es zum Eklat. Das war an einem Mittwoch, als die Chefin früher als erwartet aus dem Sonnenstudio zurückkam. Für gewöhnlich briet sie dort bis 17 Uhr. Aber da hatte es einen Stromausfall gegeben, der zum Frust der Kunden an diesem Abend nicht mehr behoben werden konnte, und so war die Frau Resch, als sie die Tür öffnete und auf einmal im Raum stand, in dem Roch und Lisa bis dahin zu zweit gewesen waren, ohnehin schon ziemlich geladen. Diesen Zusammenhang begriff Lisa allerdings erst später. Im Moment überraschte sie die Heftigkeit der Reaktion. Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie haben sich nicht zu den Gästen zu gesellen, rief ihre Arbeitgeberin erstaunlich schrill, augenblicklich kommen Sie mit mir in die Küche! Und wenn Sie, Herr Roch, mir die Lisa nicht in Ruhe lassen, kriegen Sie Lokalverbot!

Ich weiß schon, sagte Roch, als Frau Resch das nächste Mal weg war, Ihre Chefin will nicht, dass Sie sich mit mir abgeben. (Das war an einem Monatsersten. Vormittags. Da musste sie auf die Bank.) Sie ist mir nicht wirklich gewogen, die Madam. Sie hält mich für einen Scharlatan oder weiß der Teufel, wofür sie mich hält.

Er schnaubte empört, suchte in seinen Sakkotaschen nach einem Taschentuch und schnäuzte sich.

Oder sie bildet sich ein, ich mach Sie ihr abspenstig. Aber das fällt mir doch überhaupt nicht ein! Ich will mich doch nicht um das Vergnügen bringen, von Ihnen meine Melange und mein Frühstücksei serviert zu bekommen.

Er trank einen Schluck Kaffee und begann sein Ei aufzuklopfen.

Aber damit, sagte er, muss es doch nicht sein Bewenden haben. Lisa! Sie sind doch eine sensible Person. Sie sind die, die mir helfen kann, das habe ich Ihnen gleich angesehen.

Angesehen? sagte sie. Und wie sehen Sie so was?

Er nahm die Brille ab und putzte sie. Sie meinen: Mit diesen schlechten Augen?

Nein, entschuldigung, sagte sie. So habe ich es nicht gemeint.

Schon recht, sagte er, Sie müssen das nicht zurücknehmen. Ich bin nicht ganz so heikel, wie Sie glauben.

Er setzte die Brille wieder auf. So viel ist wahr: Ich würde Sie gerne besser sehen. Aber vielleicht ist es so: Manche Defekte, mit denen man leben muss, kann man mit der Zeit ein bisschen ausgleichen. Wenn man weniger sieht, spürt man vielleicht mehr. Also vielleicht hab ich es eher gespürt als gesehen, dass Sie, liebes Fräulein Lisa, etwas anders sind – ja, besser kann ich es nicht sagen – etwas anders.

Anders als wer? fragte sie.

Nun, sagte er, anders als die meisten Leute, die hier hereinkommen.

Und wahrscheinlich auch anders als die meisten, die draußen vorbeigehen.

Draußen war Nebel, die Leute, die vorbeigingen, waren auch für jemanden, der überhaupt keine Brille brauchte, nur schemenhaft zu sehen. Lisa fühlte sich verpflichtet, zumindest diese Unbekannten in Schutz zu nehmen.

Aber woher wollen Sie denn das wissen, sagte sie, wie all diese Menschen gestrickt sind? – Doch insgeheim, das heißt auf eine Art, die sie sich vorerst nur halb und halb eingestand, fühlte sie sich durch seine Worte bestätigt. Oder durchschaut? Sowohl das eine wie auch das andere. Durchschaut und bestätigt in ihrem Selbstgefühl.

Durchschaut und erkannt in ihrem Anderssein. Denn das war es doch, was sie seit Langem empfand. Nicht erst seit sie, mit elf oder zwölf, Harry Potter gelesen hatte. Eingebildetes Anderssein. Oder war es Anderssein als Einbildung?

Dieses Outsiderfeeling, etwas zwischen Unsicherheit und – ja, doch: Stolz.

Schon im Kindergarten hatte sie das empfunden, schon in der Volksschule. Dieses Gefühl, nicht ganz dazuzugehören. Manchmal war sie sich vorgekommen wie von einem anderen Stern.

Und so ging es ihr ja auch jetzt wieder. In der WG war sie immer noch eine Fremde. Am liebsten zog sie sich in ihr Zimmer zurück. Aber das grenzt an Kommunikationsverweigerung, sagte Ronnie, dafür, dass man kaum zwei Worte mit den anderen redet und dann die Tür hinter sich zumacht, zieht man nicht in eine WG.

Was ist denn das für ein schräger Typ? fragte Ronnie.

Weiß ich nicht, sagte sie. Ich werde nicht recht schlau aus ihm. Wenn ich es richtig mitgekriegt hab, war er früher Buchhändler. Oder er hat in einer Bücherei gearbeitet.

Und jetzt?

Jetzt ist er anscheinend schon längere Zeit in Pension. Und schreibt etwas. Oder hat etwas geschrieben. Oder will etwas schreiben.

Was denn?

Irgend so einen Roman, sagte sie.

Es war wahrscheinlich besser, Ronnie nicht ganz einzuweihen.

Das Wort Jahrhundertroman kam ihr jedenfalls nicht über die Lippen.

Sie wollte sich nicht lächerlich machen. Oder sie wollte Roch nicht lächerlich machen.

Und du willst etwas von diesem Roman abtippen?

Vielleicht, sagte sie.

Na, gratuliere! sagte Ronnie. Lass dich bloß nicht auf was Verrücktes ein!

Wahrscheinlich hatte auch das eine Rolle gespielt. Was sie tat oder ließ, war doch ihre Sache! Ronnie hatte ihr gar nichts mehr dreinzureden! Womöglich ließ Tina sich das gefallen. Sie nicht.

Und Roch ließ nicht locker. Er arbeitete weiter daran, Lisa die von ihm behauptete geistige Verwandtschaft zwischen ihm und ihr zu suggerieren. Sehen Sie, sagte er, als ich so jung war wie Sie, da habe ich auch Gedichte geschrieben.

Aber ich habe Ihnen doch gesagt …, sagte sie.

Ja, ja, sagte er. Ich weiß schon. Aber vor mir brauchen Sie das doch nicht zu verleugnen.

Ein paar von meinen Gedichten, sagte er, sind sogar veröffentlicht worden. In Literaturzeitschriften. Von denen es damals noch viele gegeben hat. Viel mehr als jetzt, kommt mir vor, damals war vieles im Aufbruch. Aber das war im inzwischen vergangenen Jahrhundert.

In meinem Jahrhundert, sagte er. Er lachte und musste husten. Dass so ein Jahrhundert, aus dem man kommt, auf einmal vergangen ist! Und jetzt bald seit zwei Jahrzehnten! Das ist schon komisch, wissen Sie. Manchmal erschrickt man darüber, aber das ist erst recht komisch.

Dass man auf einmal so etwas wie ein Fossil ist …

Er hustete noch immer, offenbar war ihm etwas in die falsche Kehle gekommen.

Diese aufgebackenen Semmeln, nichts als Bröseln … In meinem Jahrhundert hat es noch anständige Semmeln gegeben.

Sie klopfte ihm auf den Rücken.

Danke, sagte er, lieb von Ihnen. Dafür, Fräulein Lisa, haben Sie sich ein Gedicht verdient:

Ich bin / es hat nichts zu sagen / wer

Ich komme / ich soll mich nicht fragen / woher

Ich gehe / man wird mir schon schaffen / wohin

Man legt darauf Wert / dass ich pausenlos fröhlich bin.

Kennen Sie das?

Kommt mir irgendwie bekannt vor, sagte sie.

Ja, sagte er. Eine kleine Variation.

Von Ihnen? fragte sie.

Nein, sagte er. Nicht von mir. Aber es gefällt mir. Darum habe ich es mir gemerkt und kann es auswendig.

Schön, sagte sie.

Ja, sagte er. Und wahr … Denn genau das, liebes Fräulein Lisa, genau das ist es ja.

Was? fragte sie.

Was wir uns nicht gefallen lassen dürfen! Diese Erinnerungslosigkeit. Diese Geschichtslosigkeit. Diese erbärmliche Gesichtslosigkeit.

Fällt Ihnen das nicht auf, wenn Sie zum Beispiel in der Straßenbahn fahren, Fräulein Lisa? Diese Leere in den Blicken der meisten Leute? Aus der Leere in ihren Köpfen schauen sie hinaus ins Leere … Oder sie starren auf die Bildschirme ihrer Handys, dieser verführerischen Spielzeuge, die von der Welt drinnen und draußen ablenken.

Ganz selten liest jemand noch ein Buch, hab ich recht? Wenn Sie von hier stadteinwärts fahren, zum Schottentor, wo Sie, nehme ich an, aussteigen, um an die Uni zu gehen, wie viele Leute sehen Sie da, die ein Buch lesen? Vielleicht irgendwelche frommen Muslime, die den Koran lesen, oder irgendwelche bildungsbeflissenen Chinesen! Aber die Hiesigen, unsere Landsleute, unsere Zeitgenossen, die noch ein Buch lesen – und nicht, wenn sie sich schon der anachronistischen Anstrengung unterziehen, mit den Augen gedruckten Zeilen zu folgen, eine dieser elenden Gratiszeitungen, in denen bis auf ein paar idiotische Schlagzeilen nichts drinsteht, nichts und wieder nichts, sodass man es, wenn man aussteigt, auch gleich wieder vergessen kann und das bunte Blatt, in dem man, ohne irgendwas wahrzunehmen, geblättert hat, in den Papierkorb wirft, wo es hingehört – die Menschen dieser angeblichen Kulturnation, die heutzutage in den öffentlichen Verkehrsmitteln noch ein richtiges Buch lesen, sind eine aussterbende Spezies.

Sie haben recht, sagte Roch, manchmal spreche ich ziemlich lange Sätze. Auch das sei ein Anachronismus in Zeiten wie diesen. Aber dazu bekenne er sich, darauf sei er stolz. Denn was sind denn das für Zeiten, bitteschön, in denen ein Satz über mehr als zwei Zeilen, ein Satz mit mehr als bloß Satzgegenstand und Satzaussage, also mit Ergänzungen, Beifügungen, fallweise sogar mit Umständen der Art und Weise, des Ortes und vor allem der Zeit, die Geduld und das Fassungsvermögen dieser an geistiges Fastfood gewöhnten Menschen schon überfordert?

Ja, sagte Roch, das ist doch die traurige Wahrheit. Wir leben in Fastfoodzeiten, Fräulein Lisa. Und die meisten Leute finden das ganz normal, wenn nicht sogar gut. Kurz angebunden an den Pflock des Augenblicks.

Und deswegen schreibe er den Jahrhundertroman. Deswegen und dagegen. Das heißt, er habe begonnen, ihn zu schreiben. Dann habe sich zwar einiges ergeben, das die Verwirklichung dieses Projekts erschwerte, manchmal sei er schon drauf und dran gewesen, zu verzagen. Doch jetzt, seit Lisa erschienen sei, habe er neuen Mut gefasst.

Er sagte tatsächlich: Seit Sie erschienen sind. Sie sind die Person, die mir wirklich helfen könnte. Ja, Fräulein Lisa, geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß! Darf ich Sie auf etwas einladen? Es wäre mir eine Freude.

Der Jahrhundertroman

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