Читать книгу Der Jahrhundertroman - Peter Henisch - Страница 13

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Sie hatte das Gefühl, jetzt gut unterwegs zu sein. So gut wie die ganze Zeit noch nicht, seit sie in Wien war. Durch Gedanken an ihre finanzielle Situation wollte sie sich nicht aus der Stimmung bringen lassen. Die schob sie beiseite – und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie dort bleiben können.

Doch Anfang Dezember rückten sie wieder ins Zentrum. Zwar kam noch ein Kuvert von ihrem Vater (worauf sie insgeheim gehofft hatte). Aber statt den beiden 500-Euro-Scheinen enthielt es diesmal nur zwei 200er. Womöglich wurde seine ehemalige Ordinationshilfe, die im südlichen Klima aufblühte, immer anspruchsvoller, da blieb logischerweise weniger Geld für die Tochter.

Ronnie bot ihr an, ihr etwas zu leihen, aber das lehnte sie ab. Er vergnügte sich ja schon wieder mit Tina. Lieber bat sie die Chefin um einen Vorschuss, den sie auch bekam. Doch zur Gewohnheit, sagte Frau Resch und seufzte, zur Gewohnheit dürfe das nicht werden.

Und da war immer noch Roch und sein Angebot. Im Café hatte er sie seit dem Tag, an dem er sie zur Straßenbahn begleitet hatte, nicht mehr auf das Romanprojekt angesprochen. Wenn er etwas bestellte und von ihr serviert bekam, war er freundlich zu ihr wie immer, und sie war freundlich zu ihm. Aber es war etwas Unerledigtes zwischen ihnen.

Deswegen wäre es ihr manchmal lieber gewesen, er wäre nicht mehr erschienen. Oder nein, wahrscheinlich wäre ihr das nicht lieber gewesen. Dann hätte sie echt ein schlechtes Gewissen gehabt. Das Manuskript, aus dem er ihr diktieren wollte, lag noch immer auf der Ablage in ihrem WG-Zimmer, manchmal hatte sie versehentlich (oder absichtlich?) etwas daraufgelegt, Zeitungen etwa und Bücher, aber es war nicht ganz darunter verschwunden.

Sie hatte den Zettel, auf den er ihr die Adresse seines Depots geschrieben hatte, in eine Innentasche ihres Rucksacks gesteckt. Manchmal, wenn sie dort etwas gesucht hatte, war er ihr unversehens in die Finger geraten. Einmal hatte sie ihn zusammengerollt, als ob sie eine kleine Zigarette drehen wollte, ein anderes Mal hatte sie ihn ganz winzig zusammengefaltet. Er sah also schon einigermaßen strapaziert aus, aber was darauf stand, war immer noch zu lesen.

Und dann kam ein Tag, an dem sie in ihrem WG-Zimmer saß und sich wieder einmal über einem der Skripten zur Einführung in die deutschsprachige Literaturwissenschaft langweilte. Schon dieser Titel ödete sie an, das wurde nicht besser. Und dann ging einem der Marker, mit dem sie Stellen aus dem knochentrockenen Text markierte, der Saft aus. Und als sie einen anderen suchte, eben in jener Innentasche ihres Rucksacks, hatte sie auf einmal wieder diesen Zettel in der Hand.

8. BEZIRK, FLORIANIGASSE 4A. Sie lebte jetzt schon einige Monate in Wien, konnte sich aber noch nicht ohne Weiteres orientieren. Sie fragte also ihr Smartphone nach dem Weg dorthin. Und war überrascht, wie schnell sie dort sein konnte.

Von der Straßenbahnstation, die sie zu Fuß in fünf Minuten erreichen würde, musste sie nur eine einzige Station bis zum Schottentor fahren. Und dann mit der U-Bahn ebenfalls eine Station bis zur Haltestelle Rathaus. Wenn sie dort ausstieg, waren es bis zur Florianigasse nur ein paar Schritte. Und Nummer 4A mußte im zweiten Häuserblock links sein.

So einfach war das. Gegebenenfalls. Aber war dieser Fall nicht gerade jetzt gegeben? Sie brauchte nur ihren Laptop und das Manuskript in den Rucksack zu packen, in die Strickweste und den Mantel zu schlüpfen, denn es war kalt draußen, und die Mütze aufzusetzen, die sie sich unlängst auf dem Flohmarkt gekauft hatte. Die rote Wollmütze, mit der sie, so Ronnie, aussah wie ein Schlumpf. Doch was ging das Ronnie an? Ihr Aussehen konnte ihm egal sein.

Blöderweise begegnete sie ihm noch im Flur:

Wo gehst du hin? fragte er.

Das geht dich nichts an, sagte sie.

Okay, sagte er. Und was machst du heut Abend?

Weiß ich noch nicht, sagte sie.

Siehst du, sagte er. Ich auch nicht.

Der Jahrhundertroman

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