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1. Kapitel Apophenia – Einführung

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Der Begriff „Physik“ bezeichnet zunächst nicht mehr als eine Ideensammlung darüber, wie die Welt funktioniert. Jeder Mensch besitzt irgendeine Theorie über die Physik, ob sie nun auf einfacher Erfahrung und Intuition beruht oder auf hochkomplexen Experimenten und Hypothesen.

Da Magie – zumindest gelegentlich – funktioniert, muss sie fester Bestandteil jeder Theorie sein, die vollständig erklären will, wie die Welt funktioniert.

Ich betrachte Physik als jene Teilmenge der Magie, die mit ziemlicher Zuverlässigkeit funktioniert. Die Magie im klassischen Sinn betrachte ich als eine Art Physik, die wir immer genauer zu verstehen und in immer verlässlicherer Form zu betreiben versuchen. So läuft alles auf denselben Versuch hinaus, die Welt mithilfe einer schlüssigen und widerspruchsfreien Theorie zu verstehen und zu beherrschen.

Magie impliziert eine Erweiterung der „gewöhnlichen“ Physik, wodurch sie uns mehr darüber berichten sollte, wie das Universum funktioniert und vielleicht auch Vorschläge machen kann, wie wir die Theorie und die Praxis von Magie verfeinern können.

Zu Beginn des dritten Jahrtausends beginnen die meisten Sicherheiten, die das Denken der beiden vorangegangenen Jahrtausende mitbestimmt haben, zunehmend zweifelhaft zu erscheinen. Im 20. Jahrhundert hat durch das Aufkommen der Relativitätstheorie und der Quantenphysik sowie durch die Geburt einer völlig neuen esoterischen Theorie, dem Chaoismus, eine Revolution zu keimen begonnen.

Dieses Buch vertritt die These, dass diese drei Arbeitsfelder derzeit miteinander verschmelzen und dabei mit dem Großteil der Vorstellungen aufräumen, die Jahrhunderte lang die Menschheit geleitet haben.

Willkommen zum Aufeinanderprall der Paradigmen des dritten Jahrtausends!

Magie und Wissenschaft sind im Begriff, praktisch alles über den Haufen zu werfen, was wir über das Leben, die Realität, den Verstand, das Bewusstsein, die Religion, die Kausalität und das Universum sicher zu wissen glaubten. Wem das Wort „Magie“ zu verrückt klingt, ersetze es durch die Bezeichnung „psychologische und parapsychologische Technologie“.

Natürlich wird der Paradigmenwechsel für jene 93% der Menschheit, die vor abstraktem Denken zurückscheuen, erst dann langsam deutlich werden, wenn die neuen Erkenntnisse via der Illuminaten, die sie für praktische Zwecke einsetzen, zu ihnen durchsickern.

Jedes der folgenden Kapitel in diesem Buch beginnt mit dem Attentat auf eine Idee, die seit Jahrzehnten, Jahrhunderten oder sogar schon Jahrtausenden Bestand hatte. Und jedes Kapitel trachtet anschließend nach einer Apophenia, hin zu einer Alternative für die zerstörte Idee.

Apophenia bedeutet das Auffinden von Mustern oder Bedeutungen an Stellen, an denen andere nichts sehen. Sie wird meist von Offenbarungs- oder Ekstaseerlebnissen begleitet. In der psychologischen Terminologie gibt es einige negative Konnotationen, dann nämlich, wenn das Auffinden von Bedeutungen oder Mustern auch dort stattfindet, wo keine existieren. Sie ist jedoch dort positiv konnotiert, wo sie das Aufspüren von etwas Wichtigem, Nützlichem oder Schönen hervorbringt. So verbindet sie Kreativität und Psychose, Genie und Wahnsinn.

Das Talent für Apophenia ist ein häufiges Merkmal von Magiern, Mystikern und Okkultisten. Im besten Fall kann sie der Menschheit völlig neue Betätigungsfelder eröffnen. Sie ist eng verwandt mit Pareidolia, die sich im Verwechseln von Seilen mit Schlangen, im Erkennen von Steinböcken, Stieren und Jungfrauen in den Gestirnkonstellationen sowie in der Persönlichkeit von Menschen zeigt, die hanebüchene Verschwörungstheorien und Theologien über himmlische Fabelwesen konstruieren. Dennoch spielt Pareidolia durchaus eine Rolle in der Entwicklung von Kunst und Religion.

Aufgrund von Konventionen stellen wir uns Inspiration als weiblich vor, weil sie eher mit der rechten, holistischen Gehirnhälfte in Zusammenhang gebracht wird als mit dem linearen Denken der linken Gehirnhälfte. Apophenia ist nicht auf Abruf zur Stelle; sie weist unser Werben und Verführen hin und wieder ab. Manchmal meldet sie sich, wenn wir geistig abwesend (oder weggetreten) sind, manchmal auch nicht. Manchmal erscheint an ihrer Stelle ihre verrückte Schwester Pareidolia.

Der Chaoismus erforscht den inneren Reichtum und kultiviert den inneren Mythos, das Pantheon innerer Kräfte. Jahrzehntelang bin ich dem Mythos von Ouranos gefolgt, dem Mythos der Magier-Identität, die jenseits der Seifenopern der sieben klassischen Motivationen von Sex und Tod, Angst und Begierde, Liebe und Krieg sowie dem Ego liegt. In letzter Zeit ist mir bewusst geworden, dass ich Apophenia, den weiblichen Aspekt des ouranischen Kraftstroms, über alles liebe.

(Uranus-Ouranos liegt jenseits der klassischen sieben Planeten und jenseits der ihnen fantasievoll zugeordneten Motivationskräfte. Er bietet damit einen nützlichen Gegenpol zur „gewöhnlichen“ solaren Identität oder dem Ego.)

Was Gottheiten angeht, bin ich genügsam. Das übertrieben aufgeblasene Selbstbild aller monotheistischen Gottheiten lehne ich strikt ab.

Manche Menschen glauben, irgendjemand hätte ein Universum erschaffen, mit einem Umfang von wenigstens einer Billion Billionen Kubik-Lichtjahren, in dem es für jedes menschliche Leben mindestens eine Billion Sterne gibt und das in ein von Strahlungen durchzogenes Vakuum gesetzt wurde. Sie glauben außerdem, dass diese „Person“ mit ihnen persönlich zufrieden ist oder ärgerlich wird, je nachdem, ob sie freitags Schweinefleisch essen, sonntags masturbieren, mittwochs die Glaubensfeinde massakrieren oder was ihre jeweils gerade aktuelle, unfehlbare Theologie sonst noch diktieren mag. Das klingt nach einer ernsthaften Geisteskrankheit, einer Art Größenwahn in Stellvertretung.

Ich ziehe Hausgottheiten vor, wie ich sie in meinem eigenen Kopf und manchmal auch in den Köpfen anderer finden kann.

Und mehr als alles andere habe ich Apophenia zu lieben gelernt, jene Göttin, die mir gezeigt hat, wie man Bedeutung an Orten finden kann, an denen ich sie am allerwenigsten erwartet hätte: in einem Universum, das auf dem einzigen wirklich fairen und unparteiischen System basiert, nämlich Chancengleichheit, Zufälligkeit und Chaos.

Ich würde für sie töten und tatsächlich habe ich ihr zu Ehren schon viele Male zu morden versucht – die nachfolgenden Kapitel zeigen das. Sein, Selbst, Gott, Kausalität und Singularität; ihnen allen wird auf ihrem Altar das Fell abgezogen, um zu erkennen, welche Illuminationen und welche magischen Möglichkeiten jenseits davon liegen.

Stokastikos,

Peter J. Carroll. Südwestliches Albion. 2008.

Das Apophenion

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