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"Querverkehrt"

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I

Als er die Augen öffnete, war es bereits weit nach 14 Uhr. Ein Kontrollblick, durch die schräg stehenden Lamellen der Jalousie, ließ gleich ein erstes Knurren aus den Tiefen seines Inneren aufkommen.

Einer jener Tage also. Da sollte man gleich gar nicht aufstehen, oder vielleicht, besser noch, gar nicht erst versuchen aufzuwachen.

Der Himmel hing in einem blaugrauen, dicken Bauch tief über den Dächern der Stadt, leichter Sprühregen zeichnete quer verlaufende Rinnsale über sein Fenster.

Die Bäume, auf dem Friedhof schräg gegenüber, bogen sich alle nach links, als wollten sie sich, Soldaten gleich, in einer Linie ausrichten und verneigen.

Was war überhaupt für ein Tag heute? Ach ja, war nicht gerade Sonntag? Ja doch, es musste Sonntag sein; es war relativ still, die Bauarbeiten am Haus gegenüber ruhten. Sonst hätte er wahrscheinlich, wie an jedem anderen Wochentag, eher zu wenig geschlafen, wäre wieder mit tiefen Ringen unter den Augen, dumpfem Grollen und hilflosen Flüchen auf den Lippen erwacht. Geweckt von Pressluftbohrern, Hämmern, Schleifen, Sägen, Schreien, dem quietschenden Lastenaufzug und der restlichen Palette von Straßenlärm.

Na ja, wenigstens etwas! Ein ruhiger Nachmittag war auch schon was wert. Vielleicht schaffte er es ja, genügend Energie zusammenzuballen, um die dreihundert Meter zum "Ristorante Marina" zu gehen und sich einen "Calzone" zu genehmigen. Sein Lieblingsessen dicht vor dem geistigen Auge, lief ihm das Wasser schon im Mund zusammen. Andererseits, der Weg war weit, seine Küche hingegen lag so nah. Also doch nur zwei Spiegeleier in die Pfanne hauen. Es läutete es an der Tür; vorbei der Traum von Ruhe.

Frau Adler, die Hausmeisterin, klein und pummelig, etwa sechzig Jahre, mit Küchenschürze und gekünsteltem Lächeln um die Lippen, plusterte sich vor ihm auf.

"Grüß Gott, Herr..." Sie machte, wie immer, eine Pause, tat so, als suchte sie gerade wieder einmal angestrengt nach seinen Namen.

"Äh, Herr, äähh… Prinz... im Namen der Hausverwaltung", so begann üblicherweise jede ihrer Ansprachen, "muss ich Ihnen mitteilen, dass morgen die Zählerstandablesung Ihrer Heizkörper stattfindet; die Herren kommen, ja ich weiß schon, bei Ihnen immer erst möglichst spät, gegen 11 Uhr vormittags..."

Er quittierte ihre Ansprache mit einem gelangweilten Blick und leicht resigniertem Brummen. Tief sog sie Luft in ihre Lungen, ihr Gesicht deutlich gerötet - nun lief sie erst zur Hochform auf.

"Und außerdem sind da schon auch schon wieder Klagen aus dem Haus. Sind Sie das, der da immer wieder Abfälle in den Hof wirft? Yoghurtbecher, Fleischsalatschalen, Knabbergebäcktüten und so weiter?"

"Frau Adler, Sie wissen genau, dass ich weder Fleischsalat noch Knabbergebäck esse und meinen Abfall auch nicht in Ihren viel geliebten, hochverehrten Innenhof hinunterwerfe. Schon allein Ihnen zuliebe nicht. Aber das wissen Sie doch, oder ?"

"Ja, aber immer vor Ihrem Fenster und ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wer da sonst in Frage kommen könnte."

"Ich jedenfalls nicht und nun entschuldigen Sie mich, meine Spiegeleier brennen an. Kennen Sie übrigens Spiegeleier? Das ist, wenn einer so fett ist, dass er seine Eier nur mehr mithilfe eines Spiegels sehen kann, haha..."

Sie tat so, als ob sie sich schämte, aber in ihren Augen blitzte das pure Vergnügen, als sie einen Schritt Abstand von ihm nahm.

"Herr Prinz, was Sie immer für Sachen sagen! Das ist ja... richtig schweinisch ist das... ja!"

"Wie das Leben, Frau Adler, wie das Leben eben so ist. Stinkend, grauslich und schweinisch schön. Angenehmen Sonntag noch!"

Die Eier waren inzwischen angebrannt - verdammter Elektroherd - er kippte sie gleich in die Toilette und zog an der Spülung - sollten doch die Ratten auch was Gutes bekommen.

Eine heiße Dusche holte ihn wieder halbwegs auf den Boden der Tatsachen zurück. Abgesehen von der herunterknallenden Duschvorhangstange und seiner Faulheit, sie wieder aufzuhängen. Was zur Folge hatte, dass der Boden nun vollkommen überschwemmt war.

Schöne Bescherung. Er liebte solche Ereignisse geradezu. Sie waren geeignet, einem gleich den ganzen Tag zu versauen. Mühsam wischte er den Boden trocken, warf das triefnasse Tuch angewidert in die Ecke.

Mitten im Zähneputzen läutete es erneut an der Tür. Unwillig ging er, um zu öffnen, was war denn nun schon wieder los ?

"Hallo mein Prinz, wie geht's Deinem Rudolf?"

Die Frau trat an ihn heran, griff mit der linken Hand nach dem um seine Hüften geschlungenen Handtuch, zog es weg und fasste mit der rechten Hand nach. Aber was sie schüttelte, war nicht seine Hand.

Sein etwas aus der Fassung gebrachtes "Hey, hey!" wirkte nicht sehr überzeugend, weshalb sie auch gar nicht erst losließ, schnell über die Türschwelle trat und ihn einfach hinter sich her zog.

"Du musst hungrig sein, siehst zumindest ganz so aus."

"Prinz Rudolf, kommen Sie mit mir."

"Sag 'Hochwohlgeboren' zu ihm, wenn's schon unbedingt sein muss. Du kannst ihn ruhig küssen, da wird kein Frosch daraus."

Er protestierte nur schwach und folgte dem unwiderstehlichen Zug, stolperte hinter ihr drein, zur Couch, wo sie sich gemächlich, in aufreizender Pose, ohne ihn loszulassen, hinsinken ließ.

"Hier, oder bei mir oben, was meinst Du? - Ich hab' auf jeden Fall das bessere und breitere Bett..."

"Trägst du eigentlich prinzipiell keine Unterhöschen mehr, oder ist das speziell für mich, ein Verführungsprogramm mit schweren Waffen?"

"Du, es macht mir einfach Spaß drunter nackt zu sein, gibt mir ein ganz anderes Körpergefühl, luftig und frei, auch beim Arbeiten, und wenn ich mal ganz gut drauf bin, dann zeig ich schon auch mal her, was ich da so in petto habe, ist ja nicht ohne, da steckt Musik drin!"

"Deinem Chef gefällt das sicher auch ganz gut, oder ?"

"Der… Nein, diese Schätze kriegt nicht jeder zu sehen!"

"Ich fühle mich bauchgepinselt !"

"Außer, du magst es anders… Willst Du, dass ich einen auf Hausfrau mache, auf spröde und prüde, unnahbar und moralisch gefestigt? Würde es Dir so mehr Spaß machen?"

In ihren Augen glänzte jenes Licht, das er nun schon des Öfteren bei ihr gesehen hatte und das ihm klar machte, dass es nun kein zurück mehr gab. Wobei es nicht so sicher war, ob er überhaupt noch zurück wollte.

"N-Nein, aber... Ich meine, ich bin ja gerade erst aufgewacht und aus der Dusche, bin noch gar nicht richtig da..."

"Dann shut up, gibt es einen besseren Weg, um seinen Kreislauf anzukurbeln?"

"Na gut... dann…will ich ja nicht so sein, ich helfe ja gern, wenn ich kann." Er grinste schief.

"Tu' nicht so gnädig, könnte Dir auch passieren, oder?"

"Mit vollem Mund spricht man nicht, haben wir mal gelernt!"

Er schloss die Augen, seine Knie wurden weich, langsam sank er neben sie auf die Couch.. Dann wurde nicht mehr gesprochen, zumindest für die nächsten Minuten. Und danach war er neuerlich reif für eine Dusche. Wo er jedoch auch wieder nicht lange allein bleiben sollte.

"Gutnachbarliche Beziehungen wollen gepflegt werden" sagte sie mit gurrender Stimme "Ich könnte dir auch beim Waschen helfen, oder so…".

Der in dem kleinen Raum herrschende Dampf verdichtete sich zum Nebel, aber man musste ja nicht immer sehen können.

Danach gab es nichts mehr zu sagen, es herrschte Ruhe, entspanntes Schweigen. Die Nachbarin sagte anschließend artig: "Danke" zog sich leise an, küsste ihn - Prinz Rudolf – und verschwand fast unhörbar aus der Wohnung. So sollte nachbarschaftliche Hilfe aussehen. Nun denn, dann ist vielleicht noch eine Runde Schlaf drin, dachte Rudolf. Wie schön, dass es Endorphine gab. Er drehte sich um, zog die Decke über den Kopf und versank neuerlich in den Untiefen seiner Träume. Aber der Schlaf kam nicht leicht, da ballte sich so einiges, Drohendes zusammen. Die schwarzgrauen Nebel, in die er versank, wurden zum dräuenden Unwetter, ließen ihn sich im Schlaf herumwerfen.

Das Laken unter ihm war zerwühlt und durchgeschwitzt, als er seinen Kopf wieder erhob. Zum dritten Mal duschen an diesem Tag, ohne Aussicht. Ohne Aussicht deshalb, weil er sich nun in aller Eile fertigmachen musste, um wieder seinem Gelderwerb nachzugehen. Morgen war die Miete fällig, und wenn er die nötige Summe nicht zusammenbrachte, war er selbst fällig. Die Hausverwaltung wartete geradezu sehnsüchtig auf einen guten Grund, ihn endlich loszuwerden.

Schon zu oft waren da Klagen über laute Partys, größere Gelage, "Orgien", wie man sie im Haus nannte, an den Besitzer gerichtet worden. Der Schriftverkehr dazu war schon einige Seiten lang. Einschließlich der finalen Drohung, ihn "beim nächsten begründeten Anlass aus der Hausgemeinschaft zu entlassen", wie man sich vornehm ausdrückte.

Er musste sich in nächster Zeit etwas gesitteter benehmen, um die Wogen sich wieder beruhigen zu lassen. Sein Ruf war ohnedies perdu, daran war nichts mehr zu ändern.

Aber deshalb wollte er denn doch nicht schon wieder umziehen. Zu oft hatte er schon seine Zelte abbrechen müssen, zu oft hatte man sich von ihm "gestört" gefühlt. Ganze Mietergemeinschaften hatten sich gegen ihn zusammengerottet und sogar Unterschriftenlisten zusammengestellt, nur um ihn loszuwerden. Dabei waren seine früheren Ausschweifungen noch moderat gewesen, im Vergleich zu dem, was er in diesem Haus schon angestellt hatte.

Mühsam zog er sich seine Stiefel an, kämmte seine wirren langen Haare, nahm seinen Geldbeutel - sein Arbeitsgerät, wie er es nannte, und bereitete sich wieder auf den Kampf um den schnöden Mammon vor. Man brauchte schon so etwas wie Vorbereitung, wenn man wieder eine Nacht auf dem Kutschbock jenes Gefährts verbringen wollte, das sich da - rund um die Welt - "Taxi" nannte. "Kraftdroschke", wie es im Gesetz stand, war da ein viel schöneres, plastischeres Wort, wie er fand. Man konnte es auch so wunderbar schön verächtlich aussprechen, es war in der Szene schon fast zu einem Schimpfwort geworden. Man saß auf dem "Kutschbock" war 'Droschkenkutscher'. Rudolf bevorzugte diese Bezeichnung, wenn er schlecht gelaunt war, an die Arbeit gehen sollte, aber eben heftig mit seinem Schicksal haderte. Dass ER diese Art von Arbeit verrichten musste, dass die Welt ihm das tatsächlich zumutete, in solchen Niederungen herumzukrauchen, missverstanden, erniedrigt, getreten, geknickt, geknechtet, verspottet... und überhaupt! Manchmal, wenn er sich also wieder einmal mies fühlte und sich am liebsten von der nächsten Brücke gestürzt hätte, dann nannte er sich 'Droschkenkutscher'. Das Geschäft lief dann logischerweise entsprechend schlecht. Und wehe, wenn ihm dann einer über die Grenze des Zumutbaren trat! Der machte unweigerlich nähere Bekanntschaft mit einer, nämlich seiner, Lokomotive und mit der wurden alle platt gewalzt. Er scheute dann keine Auseinandersetzung. Dienstleistung ja, aber nicht Unterwürfigkeit. Als Sklave taugte er gar nicht, ganz im Gegenteil, da wurde die Revolution geprobt, da sollte nur erst mal einer kommen.

"Die Zeit heilt alle Wunder!" - einer seiner gängigen Sprüche. Sprüche nur, jaja. Trotzdem; auch diese Sprüche hatten ihren Sinn. Irgendwie musste man sich ja über Wasser halten, anhalten können - Seele, wie auch Körper. Deshalb fuhr er ja denn auch nun Taxi. Weil man von irgendetwas leben musste. Und wenn es nicht anders ging, musste man eben schon auch mal in die Scheiße greifen können. Es war ja nicht für immer, man konnte ja nach einem Ausweg suchen, musste ja nicht in dieses Tal der Tränen absacken und dort dann versumpfen. Ohnedies: alles nur Selbstmitleid. Alles, alles nur Selbstmitleid, die gekränkte, verletzte, eitle Seele, jajaja! Manchmal konnte er sich noch selbst beim Schopf packen und aus dem Sumpf ziehen, sich gehörig den Kopf waschen, rütteln und schütteln, sich wieder geradebiegen, der Welt einigermaßen gefasst in die Augen blicken und ihr dann auch wieder trotzig begegnen. Doch das ging nicht immer und war abhängig von gerade herrschender Verfassung, dem finanziellen Druck und sonstigen Begleitumständen.

Klar, an anderen Tagen, wenn er sich über die Niederungen seines Daseins erhaben fühlte, die Sonne schien und er auch sonstige Kalamitäten nicht ernst zu nehmen gewillt war, ja dann, dann ging es ihm gut. Dann machte es ihm auch nichts aus, sich in die Karre zu schwingen und in der Gegend herumzugurken. Dann hatte er auch nie Schwierigkeiten mit irgendwelchen Fahrgästen, selbst wenn sie noch so übel drauf waren und es regelrecht darauf anlegten, einen Streit mit ihm vom Zaun zu brechen.

Ein Fahrgast, der ihm anfangs richtig blöd gekommen war, hatte sich glatt umpolen lassen, hatte entnervt aufgegeben, hatte in Rudolfs Lachen eingestimmt und anschließend zugegeben, mit der Absicht eingestiegen zu sein, jetzt einen Taxifahrer aufmischen zu wollen. Schöne liebreizende Welt, ein wahrer Garten Eden, in dem Leute in ein Taxi einstiegen, nicht um an einen anderen Ort zu gelangen, sondern um den Fahrer aufzumischen.

Aber so war es eben auf diesem Planeten. Soviel zur "Unerträglichen Leichtigkeit des Seins", in anderer Variation 'Sein' zu 'Schein' - und in Wahrheit hieß das andere Wort "Seichtigkeit". Womit man sich im Leben alles herumschlagen musste, es war zum Heulen und zum Lachen zugleich.

Aber, was konnte man schon machen... als Wurm unter Würmern! Keine Sau konnte da helfen. Jede Sau wäre froh, sich selbst helfen zu können. Man frage nach, im Schlachthof, Montagmorgen!

Im Büro seines Unternehmers war gerade Hochbetrieb, als Rudolf antanzte, um, wie alle anderen auch, die in der letzten Nacht verdienten Moneten zur Hälfte mit dem Chef zu teilen. Mit traurigen Gesichtern standen sie am Tresen, rechneten ab, die Geldscheine wechselten den Besitzer.

Ein Kollege mit stark gebräunter Gesichtshaut trat zu ihm. Rudolf hätte ihn fast nicht mehr erkannt. Karl-Heinz, drei Monate in Indien, erfolgreiche Flucht aus der Mühle, eine wenigstens temporäre Befreiung - nun wieder zurück in den Ketten der Galeeren. Ein Teilzeithippie mit Rückflugticket, an der langen Leine.

"Und, wie war’s in Indien, hat's dir gefallen ?"

Aber da kam nur ein müdes und trauriges Lächeln zurück.

"Schön war’s… nur, leider mir sind schon ersten Tag alle meine Brillen, drei an der Zahl, gestohlen worden und ich bin ja fast so blind wie ein Grottenolm, so ganz ohne Gläser."

An manchen Tagen habe er sich von einem Bekannten dessen Brille ausleihen können, als Notbehelf. Aber, alles hat ein Ende, dann sei dieser Bekannte irgendwann weitergereist, und er, allein am Strand, in Kerala, fast so blind wie ein Käuzchen im Tageslicht. Karl-Heinz grinste übers ganze Gesicht, er schien trotz aller Widrigkeiten begeistert über seine Reise. Aber, vielleicht verhielt es sich ja wie mit den Blinden, die, einmal sehend, von der Realität oft enttäuscht waren. Vielleicht hätte ihm das echte Indien, wenn er's denn gesehen hätte, ohnedies nicht so gut gefallen. Ein Vollchaot auf Reisen. Rudolf stand mit offenem Mund vor Karl-Heinz.

"Waaaas ?"

"Ich hab’ einfach nicht mehr genug Geld gehabt, um mir dort neue Brillen kaufen zu können…Ich habe Indien daher leider nur sehr verschwommen, eben nur unscharf wahrgenommen, ein bisschen so wie im Blindflug."

Rudolf wusste nicht, was er darauf noch sagen sollte, schüttelte nur mehr grinsend den Kopf, meinte dann im Weggehen lapidar, "Das kannst du mir ja dann heute Morgen, nach der Arbeit erzählen, ich find' das unheimlich spannend…"

Das war zu viel des Guten. Da fuhr dieser Narr nach Indien, um das Land dann letztlich doch nicht zu sehen. Diese Welt stand nicht mehr lange, so konnte es einfach nur in einem Fiasko enden!

Kaum in der "Kiste", wie er sein Gefährt nannte, gleich eine lange Wartepause, an einem der Stände in seiner Nähe. Zuerst war er noch gekreist, hatte nach irgendwelchen, auf der Straße stehenden, winkenden Fahrgästen Ausschau gehalten, sich schließlich aber doch an einem überfüllten Stand, als Fünfter in der Reihe angestellt. Was übersetzt nichts anderes hieß, als mindestens eine halbe, bis eine Stunde zu warten, bis der nächste Fahrgast für ihn selbst zu tragen käme.

Schöne Scheiße, typisch Sonntagabend. Kein Arsch auf der Straße, keine Sau wollte irgendwohin, Scheiß-Bürger, Scheiß-Sonntag - morgen war Arbeitstag und alle Wochenendflipper dampften ihre Räusche vom Vortag aus, morgen musste man schließlich wieder in der Reihe stehen. Arsch in einem Arschgefüge. Zahnrad unter Zahnrädern, eines das andere vorantreibend, jeder hielt jeden bei der Stange.

Es lebe die Revolution! Selbst wenn es nichts nützte. Was für einen Sinn, außer für die Betreiber, konnte es haben, wenn alle auf dasselbe Signal hörten?

Auch er war einmal einer in der Masse gewesen, und das nicht nur auf einer der unteren Schienen, war zur Eigenverantwortlichkeit aufgestiegen. Er war ein Tüchtiger, ohne Tendenzen zur unfairen Überflügelung anderer, wertvoller Mitarbeiter jener Firma gewesen. "War gewesen", eine berüchtigte Zeitform; da waren einige, die schon mal was "gewesen" waren und was waren sie nun? Entweder abgefunden, "entschädigt", in die freie Wildbahn entlassen, oder tot.

Er hatte sich auf Kosten seines Stolzes für "freie Wildbahn" entschieden. Sein Fehler, mochten viele von außen sagen. Aber was die von außen sagten, hatte ihn noch nie besonders gejuckt. Wer waren die? Er war schließlich er...

Und so war es eben gekommen. Er mit dem Kopf durch die Wand - zumindest hatte er es versucht, verzweifelt gewollt, und war - ganz profan - gescheitert, wie schon so viele vor ihm, die ebenfalls mit dem Kopf durch die Wand gewollt hatten. Nun denn, hier war man also! Einer von vielen - eingeordnet in ein starres System, starrer als alle Systeme, die er vorher kennengelernt hatte, aber... des Menschen Wille ist sein Himmelreich - "Frei", wie er vermeinte zu sein. An jenem Abend reichte seine Freiheit nicht sehr weit. Genauer gesagt, bis zum nächsten Ruf an der Telefonsäule, an der er sich anstellte. Traumhaft!

Und der nächste Ruf an der Säule, nur die Stimme allein, reichte schon aus, um sein Barometer, ohnehin schon auf 'stürmisch', bis tief ins Minus sinken zu lassen. Der hätte nichts zu lachen. Wobei Schweigen noch das geringste, harmloseste Mittel war. Nun, man würde ja sehen! Das Weitere ergäbe sich dann schon von selbst. Allen Unwillen überwinden (am liebsten gleich wieder nach Hause fahren) starten, Gas geben, hinfahren und auf den Fahrgast warten.

Aber da gab es nicht viel abzuwarten, die Situation klärte sich sofort und unmissverständlich. Das "Arschloch" kam in schwarzem Anzug, mit wehendem weißen Schal um den Hals über die Straße getänzelt, stieg als Erstes gleich einmal grußlos ein, zündete sich die im Mundwinkel hängende Zigarette an. Er machte durch eine verächtliche Geste klar, dass Rudolf erst einmal losfahren solle. Was er auch noch widerspruchslos tat, obwohl er das schon von Grund auf nicht mochte. Zu viele Irrwege mit unklarem Ausgang hatten zu dieser empirischen Erkenntnis geführt.

Es dauerte auch nur einige Minuten, einige Kilometer weiter, als klar wurde, dass der Mann, trotz seines Seidenhemdes, seiner parfümierten Erscheinung, kein Geld hatte. Dass er, Rudolf, sich mit dem Fahrtgeld wohl auf morgen vertrösten lassen müsste, denn er, der Fahrgast, habe im Moment gerade nun wirklich nichts bei sich. Aber das wäre ja kein Problem, wenn man so verführe, wie er es gerade anbot, sich das Geld eben bei der Tussi, zu der er nun fahre, morgen früh, 'überraschend' abzuholen. Es bedürfe nur des richtigen Zeitpunktes - so etwa sechs Uhr dreißig. Um sieben müsse sie nämlich aus dem Haus, zur Arbeit, und da sei es am Besten.

Als die Ampel, etwa fünfzig Meter weiter, auf Rot schaltete, stieg Rudolf mit gelassener Mine aus, ging auf die andere Seite des Wagens, öffnete die Tür, lächelte den Seidenmann lieblich an, sprach dann in aller Seelenruhe.

"Endstation... raus hier, mit so was wie mit dir, Miesling, verschwende ich keine Zeit… raus jetzt, sofort, oder soll ich nachhelfen? Das macht mit Anfahrt einen Zehner bis hierher!"

"Komm, nicht aufregen. Ist ja alles gut... hol ich mir halt einen Anderen, okay? Ist ja gut, nur keine Gewalt, bitte!"

Der Mann zog ohne weiteren Widerspruch einen Geldschein aus der Tasche hielt ihn ihm wedelnd vor die Augen. Rudolf griff, ohne zu zögern nach dem Geldschein, ließ ihn seelenruhig in seiner Tasche verschwinden, bevor er sich nochmals seinem Fahrgast zuwandte.

"Mir tun nur die Weiber leid, die dir in die Falle gehen… aber du bist eh bereits bestraft genug, in deiner Haut zu stecken kann kein Spaß sein !"

"Ach geh, sag mal, was hast Du denn, ich meine, ich hab' Dir doch nichts getan, oder? Was iss denn los mit Dir? Iss doch alles o.k., oder?"

"Du würdest es nie verstehn und wenn ich dir's zehn Mal erkläre. Dir fehlt da was, im Gehirn und das ist irreparabel.- Tschüss Arschloch !"

"Und die Weiber, die kriegen ja schließlich auch alle eine 'Leistung' geboten, oder glaubst du das ist so einfach, ältere Damen zufriedenzustellen?"

"Ja, ein Witwentröster. Du kotzt mich an. Armseliger Wicht, ist das alles was du gelernt hast im Leben ?"

"Sag', was willst du eigentlich von mir ?"

"Du kostest mich 'ne ganze Stunde, jetzt gerade... und dafür kommst Du noch sehr billig weg. Aber wenn Du noch so ein paar 'Weisheiten' von dir gibst, dann kriegst du vom Fahrpreis sogar noch was raus… Zwei, drei Maulschellen hätte ich gerade parat, wie wär's ?"

Der Seidenmann öffnete nur noch einmal kurz und wortlos seinen Mund drehte sich abrupt um und verschwand schnell aus Rudolfs unmittelbarer Nähe. Ein paar Schritte weiter drehte er sich nochmals um, tippte sich auf die Stirn, deutete auf Rudolf. Rudolf sah nicht einmal in seine Richtung, als er auf das Gaspedal trat. Das konnte ja noch heiter werden, wenn das schon so begann. Die Nacht war noch lang, wer wusste, was da noch seiner harrte. Da war alles drin! Da gab es solche und solche - aber mehr solche als solche...

Langsam fuhr er die Straße entlang, beobachtete alle Fußgänger. Aber da war nichts und niemand!

Seine Leerkilometer nahmen bereits eine spürbare Dimension an. An manchen Tagen konnte man tun, was man wollte, es ging einfach buchstäblich nichts. Es war wie verhext, als wenn sich alle Mächte gegen die Taxifahrer verschworen hätten. Nicht einmal streunende Hunde waren zu sehen, in diesem Kaff der toten Hunde.

Und so sollte es auch für die nächsten Stunden bleiben. Er fuhr und fuhr - ohne Fahrgäste - auf der Jagd durch die Straßen, vereinzelt nur eine Hand, die sich nach seinen Diensten erhob, meist nur Kleinvieh und das machte zwar Mist, aber eben viel zu wenig Mist. Das Wetter war schuld, die meisten blieben da gleich von vorneherein zu Hause und die wenigen, die sich trotzdem hinausbegaben, gingen nur zur Kneipe nebenan.

So konnte er seine Miete morgen nicht bezahlen. Er fluchte laut vor sich hin. Es war und blieb eine beschissene Nacht. Er hätte gleich zu Hause bleiben sollen. Vielleicht Anna noch mal besuchen gehen. Wozu in die Ferne schweifen, wo das Gute doch so nahe lag. Ja die... das war schon so eine Nummer. Schon am Tag, als sie einzog, sie trafen einander zufällig im Treppenhaus, wedelte sie mit ihrem kurzberockten Hintern vor ihm die Treppe hinauf. Dieser Abend hatte gleich bei ihm in der Wohnung geendet, sie war gar nicht mehr gegangen, hatte auch nie die Absicht gehabt wieder zu gehen, wie sie nachher, am darauffolgenden Morgen lachend gestand.

Klassischer Fall - unterversorgt, etwas desillusioniert, zu lange allein, nicht unbedingt gerade schön, aber doch auch nicht unattraktiv, in Spiellaune - er wusste genau, wie er sich anstellen musste, schickte brennende Blicke ab, er kannte die Wirkung seiner slawisch, leicht schräg stehenden Augen, sagte die richtigen Sachen, zum richtigen Zeitpunkt, ein wenig Alkohol, Musik, seine Lebensgeschichte (da lagen die meisten dann flach), ein wenig Laszives und dann... Attacke!

Es wäre einfacher auch gegangen, wie sie später dann klipp und klar gesagt hatte. Nun ja. Und seitdem nutzte man gegenseitig die bestehenden Möglichkeiten. Bequem und nahe, nur ein Stockwerk, je nach vor allem Lust und Laune. Ohne Druck wohlgemerkt. Keine Eifersüchteleien, keine Ansprüche, keine Verpflichtungen, keine Sicherheiten. Alles bestens, zur beiderseitigen Zufriedenheit.

Eine "Sexbeziehung", wie man es so nannte. Rudolf wischte sich den imaginären Schweiß von der Stirn, gab einen fauchenden Laut von sich, grinste seinem Spiegelbild zu. Das war schon ein Exemplar, da konnte Mann schon schwach werden, wie er sich eingestand. Sehr interessant, auf allen Ebenen. Dass es dann beiden Parteien auch noch zusätzlich Spaß machte, eben wegen der vorherrschenden Ungebundenheit, war wohl auch die Voraussetzung für die Fortsetzung der gegenseitigen Annehmlichkeiten. Klar war ja auch, dass da keine Ausschließlichkeit gefordert war, beide wussten von des anderen Affären oder Zufälligkeiten auf diesem Gebiet. Erst unlängst hatte Anna von einer Begegnung mit einem "Monster" erzählt, einem "Unding", in einer Größenordnung, die sie regelrecht ängstigte. Sie habe dann aber doch zugegriffen, wie sie lachend erzählte, weil, wenn da ein Kinderkopf durchkäme, dann hätte das Ding auch Platz.

"Gut ist's gegangen, nix ist g'schehn !"

Sie grinste übers ganze Gesicht. Woraufhin er kurz geschluckt und gefragt hatte, ob sie denn danach überhaupt noch mit normalen Dimensionen "könne". Aber sie hatte abgewunken, nicht die Größe, die Leistungsfähigkeit, das Durchhaltevermögen, die Bereitschaft einen Langstreckenlauf, als auch, bei Bedarf, einen Schnell-Sprint zu absolvieren, sei das Kriterium. Derjenige jedenfalls, der mit dem Großen, sei nie richtig "konsistent" geworden, nie ganz "erwachsen", obwohl sie alles getan hatte, ihm und der "Blutwurst" zu helfen, wie sie sich ausdrückte. Außerdem habe es sie ständig beschäftigt, ob bei solchen Füllungen, nicht doch das Gehirn ganz eklatant unterversorgt bleibe, mit möglichem Dauerschaden. So, wie ja zum Beispiel beim Verdauungsvorgang, der Magen auch alles Blut für sich beanspruchte.

"Und was mache ich, wenn der Kerl plötzlich auf mir in Ohnmacht fällt? Ich weiß ja nicht... vielleicht hat der auch 'nen Infarkt oder einen Gehirnschlag oder so... ?"

Rudolf hatte sich, bei den Details der Geschichte, sprichwörtlich den Bauch vor Lachen gehalten und es hatte fast einer Stunde Pause bedurft, bevor man sich ernsthaft einer neuerlichen Runde Körperkontakt widmen hatte können.

Ja, er hätte wohl besser gleich gar nicht erst in die "Kiste" steigen sollen an diesem Sonntag, diesem "Totensonntag", Scheiß-Kirche, die war sowieso an allem Schuld. Eine einzige Fahrt außerhalb der Stadtgrenze und auf jeden anderen Stich in der Stadt mindestens dreißig Minuten Wartezeit. Das konnte ja nichts werden. Er sah sich schon wieder einen Canossagang antreten, Geld ausleihen - die einzige Möglichkeit, um die Miete doch bezahlen zu können.

Ein Scheiß-Loch diese Stadt, voller Scheiß-Bürger, alle unheimlich ehrbar und integer, vorne heraus entkam denen keinerlei Entgleisung. Aber er kannte seine Pappenheimer; unter dem Mäntelchen da dampfte es heimlich und wohlgehütet.

Aber es hatte keinen Sinn sich weiter aufzuregen, sich weiter in die Spirale der Frustration einzubringen. Dieses Geschäft funktionierte nach ganz eigenen Gesetzen, hinzu kam noch die Glückskomponente, vollkommen unkalkulierbar. An manchen Tagen, an denen die Stadt aus allen Nähten platzte, erwischte man nur die schlechten Stiche, alles in der Innenstadt, ohne Trinkgeld; und an anderen Tagen, wo der letzte Hund begraben schien, kam dann plötzlich der unerwartete Lichtstrahl, der Gott aller "Droschkenkutscher" schüttete über ihm sein Füllhorn aus. Bei noch mehr Glück fuhr man auch noch angenehme Menschen in der Gegend herum, was aber äußerst selten war. Die meisten blieben farb- und blutlos, viel wahrscheinlicher war es da schon, dass man auf eine Zusammenballung von unangenehmen Kunden traf.

Heute wäre ihm sogar auch noch diese Kategorie recht gekommen, es herrschte schlichtweg Todesstille. Wenn man durch die Straßen fuhr, fiel einem unweigerlich die große Anzahl von Wagen mit gelben leuchtenden Schildern auf den Dächern auf, manchmal begegneten einem richtige kleine Herden. Vielleicht sollte man einander gegenseitig durch die Gegend kutschieren, wenigstens so tun als ob. Da könnte man die Hälfte der Fahrzeuge abstellen, sparte Treibstoff und Reifenabrieb und außerdem brauchte auch nur die Hälfte der Leute hinter dem Steuerrad zu sitzen, man könnte miteinander schwatzen, oder sonst was machen; nach zwei Stunden könnte man wieder wechseln, sowohl Auto, als auch Fahrer, dann durfte der andere sich kutschieren lassen. Eine schöne Idee, wie er fand und kicherte leise vor sich hin. Es eröffnete noch unzählige Möglichkeiten des Zeitvertreibes...

Aber mit Zeitvertreiben hatte er ohnedies nie Schwierigkeiten gehabt. Es gab nur eindeutig bessere Orte um dies zu tun, als in der "Kraftdroschke". Eigentlich sollte er besser zu Hause, am Computer sitzen, um endlich an seinem Buch weiterzuschreiben.

Es war erst knapp zwei Monate her, dass er die Idee geboren hatte einen Roman zu schreiben, hatte mitten in der Nacht - es war Halbdrei gewesen - das Gerät eingeschaltet und gleich, in einem durchgehenden Fluss, neun Seiten geschrieben. Innerhalb einer Woche hatte er, trotz Nachtarbeit in der Kiste, weitere zehn Seiten zustande gebracht. Nach einigen Durchhängern war das Ding jetzt bereits auf rund fünfzig Seiten angewachsen. Einige Freunde hatten Teile des Buches auch schon gelesen, und durchaus positives Echo gezeitigt. Es war die Geschichte eines Musikers (natürlich er selbst, aber halt anders verpackt) der seinen Job im Orchester verloren hatte und nun steuerlos umhertrieb, bis die Dinge sich verdichteten und er sich mit einem Mal als Teilnehmer in einem Krimi wieder fand.

Und wenn da nicht diese beschissene Miete zu zahlen wäre, könnte er zu Hause sitzen und weiterschreiben. Aber - nein, er saß hier auf dem Bock, mitten in der Nacht, mitten in der Flaute.

Selber schuld, verdammter Narr. Was warst Du auch so blöd gewesen, in dieser stumpfsinnigen Betätigung irgendeine Art von Reiz zu sehen. Autofahren konnte schließlich jeder Trottel und die Stadt auswendig lernen auch.

Diese vermeintliche Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstständigkeit, da war nicht viel herzumachen damit. Na gut man konnte arbeiten, wann man wollte, auch wie lange man wollte. Man konnte sich auch, wenn man wollte, die ganze Nacht in irgendeine Kneipe setzen. Aber dann blieb halt der Geldbeutel leer. Wunderbare Freiheit. Wer zahlte dann seine Miete? Also war er gezwungen, wie jeder andere auch, seine zehn bis zwölf Stunden im Wagen zu verbringen, ansonsten stimmte die Kasse nie. Was wieder zum Effekt hatte, dass man Kreuzschmerzen bekam und den folgenden Tag nur mehr im Tran zur Kenntnis nehmen konnte. Müdigkeit war einer seiner neuen Dauerzustände, lähmte ihn zumeist bis am Abend. Dann erst kam sein Motor wieder auf Touren. Sein Rhythmus hatte sich schon vollkommen umgekehrt. Die Nacht zum Tage zu machen, hieß die Losung, tagsüber fuhr er ein Taxi. Er hatte das versucht, aber das ständige "Stop and Go", das Stoßstange an Stoßstange, Schritttempo, quälender Stau, stinkende Luft, entnervte Fahrgäste, immer zu spät, zu lange, zu weit, zu langsam, zuviel zuviel. Tagsüber in der Kiste und ein Monat später in der Klapsmühle oder gegen die Wand gefahren.

Ja, er hasste sich dafür, so blöd gewesen zu sein und sich auf dieses beschissene Dasein als Taxifahrer eingelassen zu haben. Auf der anderen Seite war es natürlich nicht immer so schlimm. Es gab da durchaus auch Tage, an denen er sogar Spaß hatte, durch die Stadt zu gondeln. Manchmal ergab es sich einfach, dass der Abend schon gut begann, seine Stimmung deshalb auch gehobener Natur war, dieses pflanzte sich dann auch weiter fort, strahlte auf seine Gäste, welche dann natürlich auch zurückstrahlten, was übersetzt dann auch mehr Trinkgeld hieß.

Aber meistens war es eher umgekehrt; der Abend begann beschissen und diese Linie zog sich durch, bis er endlich den Motor wieder abdrehte und ausstieg.

Heute, wie schon angedeutet, wünschte er sich nur mehr den Schlüssel aus dem Fenster werfen zu können. Leider nur ein frommer Wunsch, der auch nicht nur in die Nähe von Erfüllbarkeit geriet. Hoffentlich blieben ihm wenigstens die ärgsten Unbilden erspart, was aber auch nur ein frommer Wunsch war.

Dann, überraschenderweise, er hatte die Person gar nicht kommen sehen, öffnete sich rechts hinten die Tür, eine Frau, soviel konnte er gerade erkennen, sprang förmlich in das Wageninnere. Ihre Stimme klang etwas nervös und gehetzt, man konnte die Angst darin mitschwingen hören, sie zitterte, war einer Panik nahe.

"Ich möchte Sie bitten sofort loszufahren, fahren Sie einfach los, ich muss weg hier, bitte...! Ich sage Ihnen dann schon Weiteres... bitte machen Sie."

Sie bemühte sich offensichtlich verzweifelt keine Panik aufkommen zu lassen, gefasst zu bleiben, schaffte dies aber nur sehr mühsam, kniff ihre Lippen zusammen. Rudolf drehte sich kurz um, sah in ihre flackernden Augen, während seine Hand schon den Zündschlüssel drehte, sein Fuß bereits den Gashebel durchtrat, der Wagen mit einem quietschenden Laut vorwärts schoss. Als er an der Ampel stehen bleiben musste, kam wieder die dunkle Stimme von hinten.

"Wenden Sie sich nicht um, sehen Sie nur in Ihren Rückspiegel. Ist da ein dunkelblauer BMW hinter Ihnen?"

Er tat, was sie sagte, konnte den beschriebenen Wagen aber nicht sehen. Dann jedoch, gerade als die Ampel wieder auf Grün schaltete, war da tatsächlich der BMW, kam schnell aus einer Seitenstraße herausgeprescht und war schon hinter ihm. Er stieß einen Überraschungslaut aus, konnte gerade noch "Los runter, da ist er!" sagen und gab auch schon Gas, fuhr davon, der dunkelblaue Wagen knapp hinter ihm. Zügig aber nicht zu schnell bog Rudolf nun ganz gezielt einige Male unvermittelt ab, der BMW blieb hartnäckig hinter ihm, die Frau lag mehr als sie saß auf seinem Rücksitz, duckte sich ganz nach unten. Es bedurfte eines besonderen Tricks, um diesen Verfolger loszuwerden. Von der Leistung her war das Fahrzeug hinter ihm eindeutig stärker, da konnte er mit seinem nicht gerade neuen Diesel nicht mithalten.

Die Idee kam ganz plötzlich. Er wollte, ganz normal, als wäre er frei, den nächsten Stand anfahren, sich ganz gemächlich in der Reihe anstellen. Der Typ hinter ihm fuhr auch ganz brav und folgsam hinter ihm her, musste also auch anhalten. Vielleicht konnte er ihn bluffen?

Er tat, was er sich ausgedacht hatte, sagte zu der Frau, dass sie Vertrauen haben solle, fuhr zum Taxistand, rollte langsam an das vor ihm stehende Auto heran, blieb ordnungsgemäß stehen. Sein Verfolger blieb ebenfalls, einige Meter hinter ihm stehen, stieg aus und kam mit wiegenden Schritten, wahrscheinlich trug der Mann Stiefel und hatte zu viele Western gesehen, zu ihm nach vor. Als er fast bei seiner Tür war, startete Rudolf unvermittelt, fuhr mit Vollgas aus der Parklücke. Der Mann hatte noch versuchen wollen eine der Türen zu öffnen, aber dank der Zentralverriegelung blieb es nur bei dem Versuch. Er machte sogar noch einige Schritte, als wolle er nun die Verfolgung zu Fuß aufnehmen, machte dann aber schnell kehrt, lief zu seinem Wagen zurück und stieg ebenfalls ein.

Soviel konnte Rudolf gerade noch im Rückspiegel sehen, dann war er schon um die Ecke, in eine kurze enge Seitenstraße eingebogen, stieg nochmals kurz auf das Gaspedal. Etwa fünfzig Meter weiter bog er dann, schon mit abgeschalteten Lichtern, schnell in eine Toreinfahrt, fuhr gleich hinter das Haus, sodass er von der Straße aus nicht mehr gesehen werden konnte, stellte auch den Motor ab.

Er hörte den BMW kommen, an der Einfahrt vorbeibrausen und danach um die nächste Ecke verschwinden. Sofort schob Rudolf aus der Einfahrt, fuhr die kleine Einbahnstraße rückwärts wieder heraus, um die Ecke, legte den Vorwärtsgang ein, bog etwa hundert Meter weiter in die nächste Straße ab, diesmal aber in die andere Richtung.

Vom BMW war nichts mehr zu sehen, sie fuhren gemächlich davon. Erst einige Kilometer weiter, auf dem Parkplatz vor einer der großen Diskotheken, hielt er inmitten des Pulks von abgestellten Fahrzeugen an, löschte die Lichter, ließ den Motor verstummen, drehte sich um. Er hatte die Frau, die da noch immer geduckt auf den Sitzen lag, noch nicht einmal richtig in Augenschein genommen.

Sie war blond, schlank, mit großen aufgerissenen Augen und ihr nicht unerheblicher Busen hob und senkte sich rhythmisch mit jedem nervösen Atemzug. Erst beim zweiten Blick sah er, dass ihr linkes Auge blau und leicht geschwollen war, am Kinn ein kleiner Riss, an dem einige schon eingetrocknete Blutstropfen klebten. Ihre Kleidung und auch das etwas zu dick aufgetragene Make-up ließen ihn erkennen, was sie war, ein typisches Exemplar von Dame aus dem "Gewerbe". Sie schniefte, blies in ihr Taschentuch, zog einen Spiegel hervor, prüfte ihr Gesicht, wischte leicht stöhnend das Blut von ihrem Kinn.

"Keine Angst mehr, hier sind wir relativ sicher... ich würde nur gerne erfahren, wofür ich gerade meine Gesichtsknochen und sonst noch werweiswas riskiert habe? Was war da los mit dem...?"

"Danke erst mal, dass Sie mich da so gut und heil aus dieser Situation befreit haben... Es, es... keine Sorge ich werde Sie gut bezahlen. Wenn mein Freund dieses Schwein erwischt, sollte er sich schon besser vorher bei einem Gesichtschirurgen angemeldet haben... und am besten einen Zettel mit dessen Adresse in der Hosentasche tragen... damit man ihn gleich direkt dorthin verfrachtet, wenn er wieder zu sich kommt. Dieser Drecksack..."

"Ganz ruhig, beruhigen Sie sich erst mal, hier eine Zigarette... Was wollte der Kerl denn eigentlich?"

"Ach nur ein Ex-Lover. Ist schon seit einiger Zeit vorbei. Nur er will's nicht wahrhaben, stellt noch immer Ansprüche an mich... und vor allem auch an meine Geldbörse... Dem ist's zu gut gegangen, bei mir!"

Ihre Finger zitterten stark, als sie die Zigarette hob, um sich Feuer geben zu lassen, die Zigarette zitterte in ihrem Mundwinkel weiter, als sie ihn tapfer anzulächelte.

"Wart' mal, ich hab' da auch noch was Anderes, Besseres !"

Sie kramte in ihrer Handtasche herum, wühlte nervös darin, bis sie fand, was sie gesucht hatte, zog schließlich eine selbst gedrehte Zigarette hervor, zündete sie an und sog den Rauch tief in ihre Lungen, stöhnte wie erlöst. Sie zog noch einmal, fast schon verzweifelt an dem Glimmstängel, reichte ihn dann, mit einem neuerlichen Versuch von Lächeln, an ihn weiter. Würziger Duft und dichte Schwaden Rauch im Wagen, Rudolf zog auch an, öffnete das Schiebedach.

"Schmeckt gut das Zeug... Genau so was hat mir gefehlt... Ist auch nicht unbedingt gerade mein bester Tag heute... Scheiß-Stadt!"

"Kannst Du laut sagen... gehörte zugeschissen, dieses Kaff."

"Naja... wenn's nicht wegen des Geldes wär', säßen wir wahrscheinlich beide nicht hier, aber... es ist schon o.k. so, sonst hätten wir einander ja auch nicht getroffen... und Spaß hat es mir allemal gemacht, diesen Macker auszutricksen. War bis jetzt ohnedies stinklangweilig heute Nacht!"

"Ja, jetzt geht's mir auch schon wieder gut, bis auf mein Auge... na der soll mir noch einmal kommen... Du bist in Ordnung. Weißt Du das... ich meine nicht mehr heute, aber an irgendeinem Tag, wann immer Du willst, kommst einfach zu mir, ja? Hast Dir eine Belohnung verdient… Magst du?"

Ihre Hand kam zwischen den Sitzen nach vor, fasste zielsicher zwischen seine Beine und massierte ihn einige Sekunden lang, bis er nicht mehr anders konnte, als genussvoll zu stöhnen und auf seinem Sitz hin- und herzurutschen.

"Hör auf, hör auf, sonst überfalle ich Dich gleich hier und jetzt... nein, hör nicht gleich auf... nein hör doch auf. Ich muss ja noch arbeiten heute, meine Miete... bis morgen, nein, heute. Und ich hab' erst einen "Hunnie"..."

Nach kurzem Schweigen, der Joint war fertiggeraucht, man lauschte gerade Whitney Hustons 'I will always love you", kam ihre Stimme neuerlich ganz dunkel und rauh aus dem Fond des Wagens, er beobachtete sie im Rückspiegel.

"Du bist ein ganz Lieber... schade, dass mir alles wehtut, heute, sonst hätte ich Dich noch zu Dir begleitet."

Ohre Stimme war eine Mischung aus einer Art samtigen Gurren und der schneidenden Schärfe eines fauchenden Raubtieres, mit glühenden Augen und einer animalisch, urtümlichen Kraft. Sie war personifizierter Sex. Sanft und doch mit Krallen, die sie wie ihre Zähne bleckte - brand-gefährlich heiß.

"Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Komm einfach, wann du willst. Ich bin immer da unten, in der "Mademoiselle-Bar", außer montags. Wie wär's mit übermorgen?"

Rudolf drehte sich wieder um, sah sie direkt an, lächelte und zwinkerte ihr verschmitzt zu.

"Doch, könnte ich mir schon vorstellen, ich weiß nur noch nicht, ob ich die Kohle dann schon beisammenhabe. Ich bin momentan ganz schön unter Druck. Und in diesem Job weiß man nie so genau..."

"Wie viel brauchst Du denn?"

"Naja, noch so runde zweihundert. Und das heißt beim momentanen Geschäftsgang, noch etwa zwei Nächte hier auf diesem Bock."

Sie lächelte, schwieg eine Sekunde, griff nach ihrer Handtasche, kramte kurz darin, zog zwei Hunderter hervor.

"Hier, ein, ein Geschenk von mir, dafür fährst Du mich aber noch nach Hause."

"Nein, nein das kommt gar nicht in Frage, das kann ich nicht annehmen. Und nach Hause hätte ich Dich auch ohne Geld gefahren. Ich rette doch nicht die Prinzessin aus den Klauen des Drachens, um sie dann irgendwo in der Prärie einfach stehen zu lassen... Ich, ein direkter Nachkomme von Robin Hood. Großherzig, edel, ehrlich, offen, frank und frei, "Held" aller Unterdrückten!"

Er startete den Wagen, fuhr los, brauste mit hohem Tempo durch die Stadt in Richtung Osten, hin zu den neu erbauten Betonburgen, die da in den letzten Jahren aus dem Boden gestampft worden waren.

Vor dem Haus, in dem sie wohnte, stieg sie aus, beugte sich nochmals ins Wageninnere und küsste ihn zart auf den Mund.

"Weißt Du was, dann nimm es einfach als ein vorausbezahltes Honorar, für eine noch zu erbringende Leistung. Dafür musst Du aber ganz sicher übermorgen kommen. So um vier Uhr höre ich auf. Warte mit Deinem Auto am besten gleich vor der Tür, o.k.?"

Bevor er noch antworten konnte, war sie schon verschwunden. Die zwei Scheine lagen unschuldig auf dem Rücksitz, lachten ihn an.

Was konnte er tun. Schnell griff er nach den Scheinen, brachte sie in seiner Geldtasche in Sicherheit.

Damit war wenigstens der Druck von ihm gewichen. Die Miete gesichert, das war zumindest etwas. Nun fuhr es sich gleich viel leichter durch die Nacht. Und wie es er Zufall so wollte, sprang wenig später ein Mann auf die Fahrbahn, hielt ihn an. Eine Fahrt ins Umland, ein etwas betrunkener Handwerker, mit Werkzeugkoffer. Er schlief, bis Rudolf sein Taxi vor dem Ziel anhielt. Der Mann bezahlte wortlos, stieg wortlos aus, winkte nochmals freundlich und verschwand im Haus.

Rudolf gondelte die Strecke zurück in die Stadt, es war fünf Uhr morgens, die Straßen waren leer, er trank genüsslich eine Dose Bier, die er sich an einer Tankstelle noch besorgt hatte. Die kühle Luft wehte durch alle Fenster herein, das Radio spielte einen seiner Lieblings-Songs, der Horizont färbte sich blutrot. Bald ging die Sonne auf, Zeit das Weite zu suchen. Mit diesen Tag-Menschen wollte er partout nicht konfrontiert werden.

Querverkehrt

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