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Übergänge
Оглавление2016-07-31
Sonntag / Sunday / Domingo
Ryanair ist wohl so geizig, dass die Passagiere keine ordentliche Gangway bekommen. Also trotten wir unter einem schlecht gelaunten Himmel über das Rollfeld und klettern die Treppe hoch. Ich habe mir einen Platz am Fenster reserviert, die Welt von oben sehen, das mag ich. Neben mir sitzt ein drei- oder vierjähriges Mädchen, das mag ich auch. Mit Kindern ist es einfacher als mit den Erwachsenen, die gerne ihr Ego pflegen. Neben der Kleinen sitzt ihre Mutter, eine junge hübsche kleine Frau mit rundem Gesicht.
Wir sitzen und warten. Das Mädchen versucht die Icons für den Notfall auf dem Sitz vor ihr zu deuten. Mama erklärt brav. Als sie einmal nicht weiter weiß, mische ich mich behutsam ein und gebe meine Erklärung ab. Eine kleine Irritation bei beiden, aber der Kontakt ist gemacht.
Ich will nicht aufdringlich sein und vergrabe mich erst einmal in Buch 1, John Upledger, Gründer der kranio-sakralen Körpertherapie, Der innere Arzt.
„Habt ihr gestern bei Papa wieder Kino-Abend gemacht?“
„Ja, wir haben … geguckt“, höre ich von nebenan.
Endlich rollt die Maschine los, steht dann noch endlos lange vor der Rollbahn und wartet auf das Startzeichen. Dann will es die alte Boing noch einmal wissen und beginnt zu zittern, der Schub drückt uns in die Sitze und wir erobern die Wolken.
Kling, wir können die Gurte öffnen. Unter mir ist die Tragfläche, schade, aber die anderen Sitze waren schon reserviert. Bald legt das kleine Mädchen ihre Füße auf meine Beine. Das ist der Mutter peinlich. Ich beruhige sie und sage ihr, dass ich auch Kinder habe und seit Mai Großvater bin. Trotzdem gibt Mama ihrem Kind lieber das Tablet und die Kleine wählt ein wirres Spiel aus. Ich kann nicht hingucken und versenke mich tiefer in die Wunder, die John Upledger mit seinen Händen vollbrachte.
Erst über Südfrankreich klart der Himmel auf. Wir fliegen über die Biscaya und im Südwesten tauchen die Pyrenäen auf. Ich lade das Mädchen ein, auch mal aus dem Fenster zu gucken, was sie vorsichtig und sehr kurz annimmt.
„Fliegt die Kleine zum ersten Mal?“, frage ich die junge Mutter.
„Nein“, meint sie, holt ihr Handy raus und zeigt mir Fotos von einer Villa mit eigenem Pool am Meer.
„Gehört meinen Eltern, fahren wir oft hin.“
„Schön“, meine ich, aber möchte ich jetzt mit meinen Eltern, mit meiner Frau, mit meinen Kindern Familienurlaub machen?
Der Pilot geht tiefer und eine amphibische Landschaft wird sichtbar, kleine Inseln, Mäander, lange Brücken und eine weiße Stadt, Faro. Die Landung ist weich. Wieder verlassen wir den Flieger über eine Behelfstreppe. Ich verabschiede mich von den Beiden, nehme meine Tasche vom Band und trete hinaus in die portugiesische Sonne. Von Mai bis Oktober ist hier Sommer, ein Grund auszuwandern.
Nach ein paar Schritten werde ich auf Portugiesisch angesprochen. Das passiert in England, in Spanien, in Polen, in Griechenland … Ich kann hinfahren, wo ich will. Ich habe ein europäisches Gesicht.
Ich kann dem Mann nicht helfen und studiere den Busfahrplan. Dann stelle ich mich in den Schatten, puuh. Ich überlege, ob ich ein paar Mitwartende anspreche und wir uns ein Taxi in die City teilen. Soll nicht teuer sein. Da steigt der Mann in ein Taxi und ich möchte mitfahren und rufen:
„Senhor, Estação de comboios?“
Wie so oft halte ich meinen Mund. Ich wollte gegenwärtiger sein und kontaktfreudiger. Ich werde bestärkt in meinem Vorhaben, als ich in den Bus einsteige. Die Fahrt ins Zentrum kostet nur 2,22 Euro, aber der Bus ist hoffnungslos überfüllt. Schweiß bricht aus, aber die Fahrerin bleibt freundlich. Ich frage sie, wo der Busbahnhof ist. Sie bedeutet mir, eine Station weiterzufahren.
Schon zuhause habe ich entschieden statt mit dem Zug nach Funcheira zu fahren, lieber den Fernbus nach Ourique zu nehmen. Das ist zwar weiter weg von Tamera, aber ich brauche nicht so lange auf den Zug zu warten.
Es ist noch genügend Zeit, so setze ich mich in ein kleines Café gegenüber dem Busbahnhof. Ich bin froh, da zu sein und bestelle einen Salat und eine kalte Cola. Manchmal schmeckt auch ein kapitalistischer Imperialisten-Saft. Auch der Salat ist vorzüglich, besonders die Nüsse und der Schafskäse haben Aroma. An den Nebentisch setzt sich ein junger Mann und wir kommen ins Gespräch. Er ist Engländer und verbringt den ganzen Sommer in Portugal. Er ist frustriert, weil er die Nacht draußen verbracht hat. Man habe ihm ein Bett in einem Achter-Zimmer für 35 Euro angeboten. Faro sei völlig überlaufen, er wolle weiter nach Lissabon. Er sitzt zusammen gekrümmt da und spricht so leise, dass ich oft nachfragen muss. Wir rauchen noch eine und gehen dann zum Busbahnhof, der wie so oft in Portugal in einer engen und stickigen Halle unterbracht ist, in der die Busse umständlich rangieren müssen.
Mein neuer Freund nickt mir zu und verschwindet im Gedränge. Ich reibe dem Fahrer mein Busticket unter die Nase. Er nickt und zeigt mir, wo ich meine Tasche verstauen soll. Ich habe das Ticket in Deutschland gekauft und auch Platz eins ganz vorne reserviert. Neben mir sitzt eine attraktive Portugiesin, die Augen hinter reflektieren Gläsern verborgen. Die Ekzeme an ihren Händen fallen auf. Will sie etwas nicht berühren oder arbeitet sie mit giftigen Stoffen? Dieses ewige Rumpsychologisieren!
„Is this Ourique?“
„No, still one hour driving“, sagt sie vorsichtig lächelnd.
Die Portugiesen gefallen mir. Oft sind sie klein und stämmig wie ich. Sie sind nicht so dunkel wie die Spanier, oft sieht man braunes, teilweise blondes Haar und helle Augen. Man sieht sich und nimmt Rücksicht. Nimmt im Straßenverkehr jemand einem die Vorfahrt, reckt er sofort entschuldigend die Hand aus dem Fenster.
Für die Landschaft finde ich keinen Vergleich. Die Hügel der Toskana sind größer, majestätischer. Im Sauerland, wo ich lebe, sind die Hänge schroffer. Der Alentejo – eine braune Landschaft, von der Sonne verbrannt – was so viel heißt wie jenseits des Tejo, Portugals großem Fluss, der durch Lissabon fließt.
Obwohl der Alentejo fast ein Drittel des portugiesischen Staatsgebietes ausmacht, leben dort nur etwa eine halbe Million Menschen. Er gilt als das Armenhaus Europas. Früher war das Land mit Eichenwäldern bedeckt. Dann kam der Kolonialismus und der Schiffsbau. Übrig bleibt die nackte Erde und Korkeichen, Olivenbäume und Eukalyptus. In den regenreichen Wintermonaten spült das Wasser die Erde ab und mit der Erde gehen die Menschen den Bach runter. In der Landwirtschaft ist nichts mehr zu verdienen. Vor allem die jungen Menschen bieten in den großen Städten ihre Arbeitskraft an. So entsteht die Jugendarbeitslosigkeit und zurück bleibt eine leere Landschaft mit einem stillen Traum.
Beim Aussteigen in Ourique berühre ich unabsichtlich absichtlich eine Hand meiner Beifahrerin. Draußen gibt mir der junge Chauffeur meine Tasche und ich bedanke mich bei ihm:
„Thank you for good driving.“
Am Rande des Busbahnhofs empfängt mich Daniel, um mich die restlichen Kilometer nach Tamera zu bringen. Er wuchtet mein Gepäck in den alten Benz und sagt, dass wir noch eine dreiviertel Stunde fahren. Ich bin taub von der ganzen Fahrerei und Fliegerei und lasse mich auf den staubigen Vordersitz fallen. Die Häuser werden weniger, die Straßen schlechter, bis wir schließlich über Schotterpisten rumpeln und eine Staubwolke hinter uns herziehen. Ich unterbreche unser Schweigen und spreche Daniel auf die vielen A Venda-Schilder an.
„Überall das gleiche“, meint er, „niemand will die schwere Arbeit mehr machen.“
Eine Art Tor, zwei hohe künstlerisch gestaltete Platten, auf denen Wu wei, Tao und andere Hinweise stehen, begrüßt uns. Wir rollen an dem großen See, See 1, lang. Hier, wo nur Steppe war, liegt nun ein See, der ganzjährig Wasser führt. Mit dem Wasser sind auch die Pflanzen und Tiere zurückgekommen. Rund um den See ist es grün, während die höheren Hügel braun in der Sonne braten. Daniel stoppt vor der Rezeption und lädt meine Tasche aus. Es ist sieben Uhr abends, genau zwölf Stunden war unterwegs. Eine Frau in meinem Alter mit langem Haar rät mir, mein Gepäck stehen zu lassen und erst einmal zu Abend zu essen und mich zu verbinden. Sie erklärt mir das Prinzip:
„Es geht um Gemeinschaft. Also deckt man einen der Tische und gründet eine Tischgemeinschaft.“
Da ich spät dran bin, setze ich mich zu zwei Männern und einer Frau. Der Jüngere mir gegenüber, Manuel, erinnert mich an einen meiner besten Freunde, vielleicht habe ich deshalb den Platz gewählt. Dietmar neben mir hat eine ähnliche Energie wie ich. Wir wechseln ein paar Worte. Er ist in einem anderen Kurs, in der Denkschule. Er wohnt in Süddeutschland in einer Gemeinschaft, die er selbst gegründet hat.
Das Essen ist vegan und abwechslungsreich. Es hat immer mindestens vier Komponenten, einen Salat, Gemüse, Getreide und/ oder Kartoffeln und Bohnen oder Kichererbsen. Das meiste stammt aus eigenem Anbau oder befreundeten Bauern. Fleisch kommt nicht auf den Tisch, auch kein ökologisch erzeugtes. Tiere sind Mitgeschöpfe. Sie haben Augen, sie sind gekommen, um selbst zu sehen.
Schräg gegenüber sitzt Yvonne, eine kleine gut aussehende Frau. Als ich sie ansehe, gerate ich ins Stocken. Sie schaut mich wirklich an. Wann hat mich jemand zuletzt so angesehen? Sie will wirklich wissen, wer ich bin.
Nach dem Essen erledigt Clara die Formalitäten an der Rezeption. Danach zeigt sie mir beiläufig den großen Platz, den Campus, die Zelthalle, wo meine Gruppe sich morgen trifft und den Zeltplatz. Die Rede ist von einem Ritual oben im Steinkreis. Ich entscheide mich, erst einmal in Ruhe anzukommen, mein Zelt aufzubauen und danach im Badesee die 2.400 Kilometer abzuwaschen. Als ich mein Zelt entrolle, stößt mich jemand von hinten sanft an. Ein Kater, rotweiß genau wie unser daheim, heißt mich willkommen.
Zehn Meter weiter steht das Zelt von Elmar. Mit seinem rotblonden Vollbart sieht er aus wie ein Hamburger Kapitän. Er kommt aber aus Köln und wird in den nächsten zwei Wochen mein bester Freund sein. Nachher habe ich den Badesee für mich allein, warmes, samtiges Wasser, Fische und eine vielfältige Ufervegetation. Die Sonne ist hinter den Hügeln verschwunden und letztes Licht taucht den Himmel in einen zarten Schimmer und der Himmel spiegelt ihn wider auf die Erde.
Die Temperatur sinkt merklich. Ich wühle noch ein bisschen in meinen Sachen und rolle mich dann in meinen Schlafsack. Ich bin in Tamera.
҉
Die Geschichte von Tamera beginnt wie so vieles 68. Der promovierte Soziologe, Kunsthistoriker und Psychoanalytiker Dieter Duhm war einer der führenden Köpfe der Studentenbewegung in Deutschland. Allerdings musste er mit ansehen, wie seine Wegbegleiter ab 69 in den Institutionen verschwanden und die Bewegung versandete. Duhm hatte das Buch Angst im Kapitalismus geschrieben, was zu einem vielgelesenen Buch bei den deutschen Linken wurde. Als er allerdings erklärte, dass es keine neue Gesellschaft geben könne ohne einen neuen Menschen, wurde er dort zur persona non grata.
In den 70er Jahren besuchte Duhm mehrmals die Aktionsanalytische Organisation (AAO) in Österreich und griff deren Impuls zur Veränderung gerne auf, fühlte sich aber von dem despotischen Otto Muehl, der sich wie ein Monarch gebärdete, abgestoßen.
So ziemlich zwischen allen Stühlen – Duhm hatte auch mehrere Professurangebote abgelehnt – zog er sich zunächst auf einen einsamen Bauernhof zurück, um seine Studien der Biologie, Kybernetik, Psychoanalyse, Mathematik, Kunst, Geschichte und Theologie voranzutreiben und seine Vision von einer Gemeinschaft zu verdichten.
1978 trafen sich der Physiker und Musiker Charly Ehrenpreis und die Theologie-Studentin Sabine Lichtenfels. Letztere träumte, seit sie ein Teenager war, davon eine Künstlerkolonie, ein Dorf zu gründen. In Süddeutschland begann 1983 ein erstes Gemeinschaftsexperiment mit fünfzig Menschen, die sich verpflichteten für drei Jahre zusammenzubleiben. Die Gruppe forschte in vielen Bereichen: „im Bauen, in der Ernährung, in der Ökonomie, der Kunst, den Entscheidungsstrukturen einer Gemeinschaft, der Heilung, dem Gartenbau, dem Umgang mit Tieren, dem Umgang mit Wasser und dem Umgang mit Fehlern...“1
Bei aller Aufbruchstimmung musste man anerkennen, wie tief „normale“ Eigenschaften wie Eifersucht, Pedanterie, Rechthaberei usw. in den Individuen verwurzelt waren und trotz bester Absichten die Gemeinschaft immer wieder belasteten.
Als nach drei Jahren die Gruppe ein solides Wissen erarbeitet hatte, wie Gemeinschaft, wie Partnerschaft und Liebe zusammengehen konnten, begannen die Anfeindungen und Verleumdungen von außen. Eines Morgens brachte eine Lokalzeitung einen ganzseitigen Artikel über die „Sex-Sekte“, der von über 40 anderen Zeitungen bis nach Berlin kolportiert wurde. Dem Projekt wurde die Gemeinnützigkeit aberkannt, das Finanzamt forderte überzogene Steuerzahlungen, der Bau einer biologischen Pflanzenkläranlage wurde untersagt, Mitglieder erhielten Berufsverbot, selbst die Kinder der Gemeinschaft wurden von Mitschülern drangsaliert.
Die Gruppe hatte, so Duhm, „... die wunden Punkte in unserer Gesellschaft, echte Schmerzstellen, zu heftig berührt.“2 Die Fortsetzung des Projektes war in Deutschland unmöglich, so teilte die Gruppe sich. Ein Teil ging später nach Belzig in die Nähe von Berlin und gründete das Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG). Ein anderer Teil zog sich nach Lanzarote, teilweise auf das Delphin-Forschungsschiff Kairos zurück, um weiter Gemeinschaft zu leben.
Die Suche nach einem geeigneten Projektstandort blieb. Sabine Lichtenfels hatte im Rahmen ihrer Friedensarbeit Wüstencamps in verschiedenen Ländern veranstaltet, eins davon im Alentejo. So kam Portugal in die engere Auswahl, zumal Sabine die Atmosphäre dort besser gefiel als im macho-geprägten Spanien.
1994 besuchte sie eher zufällig den prähistorischen Steinkreis in Evora, einer Stadt im nördlichen Alentejo. Für die medial erfahrene Frau wurde der Steinkreis zu mehr als einem Symbol für eine archaischen matriachalen, gewaltfreien Gesellschaft. In zahlreichen Trancen fand sie eine Vision einer urgeschichtlichen Utopie, ja eines Paradieses, welches in ihrem Buch Traumsteine niedergeschrieben ist. Diese Informationen haben ihre Schritte später beim Aufbau von Tamera entscheidend mitgeprägt.
Nachdem Sabine eine klare Eingebung erhalten hatte, dass die Zeit des Sesshaftwerdens bevorstand, ging alles sehr schnell. Von einem Bekannten erfuhr sie, dass in der Nähe ein 134 Hektar großes Gelände verkauft werden sollte. Allerdings musste der Kauf innerhalb von einer Woche perfekt gemacht werden, weil sonst das Areal an die Bank fallen würde. Als Sabine das Gelände zum ersten Mal besuchte, traf sie auf einen freundlichen Schäfer, der sie gleich zu einer Quelle führte – der heutigen Orakelquelle.
„Boa água“, betonte der Schäfer immer wieder, „gutes Wasser“.
Eine Palme, eine Feige und eine Rose umstanden die Quelle. Kein Zweifel, hier wohnte eine Göttin. Wie sich später herausstellte, liegt Tamera auf einem geomantisch wichtigen Punkt, wo sich Kraftlinien der Erde und Energielinien alter Kulturzentren treffen. Sabine Lichtenfels unterschrieb den Kaufvertrag, ohne über das notwendige Geld zu verfügen. Einen Namen für den Ort hatte sie schon, Tamera, was am Urquell heißt.