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We are Stardust

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2016-08-01

Montag / Monday / Segunda-Feira

Ein weißes Band sprenkelt den Himmel von Horizont zu Horizont. Als ich nachts einmal aus dem Zelt muss, stolpere ich staunend unter der Milchstraße umher. Immer wieder löst sich einer aus dem Sternenfeld und verglüht zu Staub. Der August hat begonnen, die Perseiden grüßen.

Am nächsten Morgen gehe ich gleich schwimmen. Es ist nachts kalt in den Hügeln des Alentejo', der Badesee dampft im Morgenlicht. Ich habe ihn wieder für mich alleine und drehe eine langsame Runde. Auch das Frühstück auf der großen Terrasse ist reichhaltig, Müsli, verschiedene Sorten Brot, auch glutenfrei, selbstgemachte Aufstriche süß und herb, Melonen und Nektarinen oder Orangen, dazu Kaffee und Getreidekaffee, Kräutertee und heißes Wasser.

Ich schaue ich mir die Menschen um mich herum an. Das alte Spiel beginnt, den finde ich sympathisch, die sexy, die und den mag ich nicht. Unsere Gehirne sind so, dass sie alles und jeden sofort in Schubladen packen, auch wenn man nicht will und weiß, dass oft der erste Eindruck trügt, besteht der graue Klumpen im Schädel auf sein Bild. Dreieinhalb Millarden Jahre Evolution, kommt man nur schwer gegen an.

Um 9 Uhr dreißig beginnt unser Workshop in der Zelthalle. Fünfzig oder sechzig Menschen sitzen im Kreis und warten, was passiert. Oft werden solche Situationen beherrscht von diffusen Gefühlen der Unruhe, Nervosität oder Peinlichkeit wie im Wartezimmer beim Arzt. Hier ist die Stimmung aufgeräumt. Ich sitze neben Anabel, einer hübschen Brasilianerin. Mir gefallen die Sommersprossen auf ihrem Dekolleté.

Etwas Unerwartetes geschieht. Eine der Gruppenleiterinnen steht auf und tritt in die Mitte. Dort kniet sie vor einer Kerze und einer Schale mit Wasser nieder. Frei spricht sie ein Gebet, um diese beiden Elemente zu ehren und ihre Kraft einzuladen. Ich bin angenehm berührt. Oft fühlen wir uns allein und vielleicht sogar verlassen, aber wir sind es nicht. Wir sind umgeben von wundervollen Kräften. Wir können sie ignorieren und ein sachliches und nüchternes Leben führen oder wir lassen uns ein auf diese Kräfte, lassen uns unterstützen, lassen uns führen. Viel zu oft habe ich in meinem Leben auf die Macht des Gebetes verzichtet. Zwanzig Jahre Katholizismus haben gründliche Arbeit geleistet.

Im Anschluss stellen die Gruppenleiter sich gegenseitig vor: Janka und Eida, Johannes und Friedemann. Sie beschreiben ihre Fähigkeiten und Eigenschaften, ihr Alter und ob sie Kinder haben. Sie sprechen respektvoll von einander und das nicht weil sie PR vor der Gruppe machen wollen. In Tamera wirkt ein anderes Menschenbild.

Wie ist das Menschenbild in der sogenannten normalen Welt? Viele Jugendliche reden sich mit eh, du Missgeburt an und grinsen schief dabei. Man geht vom Schlechten aus. Oft herrscht ein doppelseitiges Bild vor. An der Oberfläche steht der Homo faber, der Macher, der souveräne Kunde, der liberale leistungsbereite Mensch, der es – wenn er nur will – vom Tellerwäscher zum Millionär schafft. Doch dahinter wird oft das Gegenteil spürbar. Gefühle der Unzulänglichkeit, der Einsamkeit, der Verletzlichkeit, Gefühle dass etwas fehlt, dass es nicht reicht, zeichnen einen insgesamt zerrissenen Menschen, der angesichts der vielfältigen Bedrohungen von Klimakatastrophe bis Terrorismus keine rechte Perspektive hat, weil er quasi alles allein aus seiner unsicheren Mitte heraus schaffen will oder soll. Wenn man den Menschen aber in seinem Potenzial sieht und seine Eigenschaften vielleicht sogar ein bisschen besser darstellt, als sie momentan entwickelt sind, so beginnt er hinein zu wachsen in seine Größe.

Mit einem Bild von einem Schiff laden uns die Gruppenleiter auf die eigentliche Reise der Gruppe ein. Es geht darum eine fühlende, vertrauende und arbeitende Gruppe zu werden. In der folgenden Vorstellungsrunde steht jeder einmal auf, geht in die Mitte, sagt seinen Namen und nennt drei Begriffe, die er auf die Reise mitnimmt. Dieses in die Mitte gehen ist wichtig, es ist dieses Sich-dem-Universum-zeigen, der Beginn einer jeden Geschichte. Die meisten nennen Begriffe wie joy, love, community, relationship, inspiration. Destruction höre ich einmal zwischendurch. Als die Reihe an mir ist, gehe ich nickend in die Mitte und sage hope, question and fear. Chuck aus Kanada brüllt masculin wilderness in den Raum. Wie das alles zusammen gehen soll?

Anschließend spielen wir noch dieses Eigenschaften-Spiel: Wer Kinder hat, geht in die Mitte! Ich bin sogar bei der Frage nach Enkeln dabei. Meine Altersgruppe, fünfzig bis sechzig ist schwach vertreten, stelle ich fest. Dafür nehme ich zum ersten Mal Sigrid bewusst wahr, über achtzig, Respekt! Dann wird weiter eingeteilt: Wer liest gar nicht, wer ein Buch im Jahr, im Monat, in der Woche? Ich bin ganz vorne mit dabei. Neben mir steht als Einziger Dustin aus London, pechwarzes Harr, strahlende Zähne, sieht eher wie ein Playboy aus. Immer diese Schubladen.

How bad is my english! Beim Mittagessen sitze ich mit Richard und Elvira am Tisch. Normalerweise fremdel ich gerne bei unbekannten Menschen und jede Platzwahl ist eine kleine Überwindung, aber mein neuer Freund Elmar sitzt neben mir. Was soll passieren? Mir gegenüber taucht ein sympathischer Kerl auf, er stellt sich gleich vor: Hi, I'm Rick. – Rick from New York, begrüße ich ihn. Verblufft setzt er sich hin und sagt, dass er zwar jetzt in Kalifornien leben würde, aber aus New York stamme. Angesichts seiner rotblonden Haaren, dem knalligen T-Shirt und dem Hut mit der kurzen Krempe war das keine große Wahrsagekunst.

Von dem folgenden Gespräch verstehe ich nur Bruchstücke. Elmar spricht fließend englisch und überflügelt mein Schulenglisch mit links. Ich kriege mit, dass die Frau an seiner Seite seine Frau ist und Emily heißt, sie haben zwei Kinder, die jetzt bei den Großeltern sind. Mit anderen zusammen haben sie Land nördlich von San Francisco gekauft und dort eine Community gegründet. Sie sind noch in der Anfangszeit, vieles ist noch unklar. Sie träumen davon, das Silicon Valley in ihre Pläne einzubeziehen. Ich spüre Stress, aber die Kartoffeln grounden mich.

In der Mittagspause dümpel ich noch ein bisschen am und im Badesee herum. Dann um drei ist Chor. Nach den Aufwärm- und Stimmbildungsübungen geht es los, ein Lied aus Brasilien, der Canto do tres raças. Tabea singt super, kann uns schwierige Stellen im Lied erklären und motiviert uns mit ihrer Power.

Dieser kraftvolle und traurige Gesang, der das Leiden der drei Rassen – Indios, Schwarze und Weiße – in der Geschichte des Landes zum Ausdruck bringt. Musikalisch ein anspruchsvolles Lied mit unterschiedlichen Verslängen, Melodie- und Tempowechseln, aber auch ein Gelegenheit die portugiesische Sprache etwas näher kennenzulernen. Allerdings hat das brasilianische Portugiesisch deutliche Abweichungen, was mir Anabel bestätigt. Sie hätte einen Tag gebraucht, um die Menschen hier zu verstehen. Wir dürfen im Sitzen singen, doch als wir abschlaffen, meint Tabea auf Englisch, dass sie uns am Stehen machen würde, wenn wir uns nicht konzentrieren.

Gut dass wir schon in der großen und kühlen Aula sind. Um sechzehn Uhr beginnt hier der Vortrag von Benjamin. Die Aula ist ein großer Hallenbau. Sein Fachwerk ist mit Strohballen aufgefüllt und mit Lehm verputzt, eine ideale Kombination für das heiße mediterrane Klima, die sich auch für erdbebengefährdete Gebiete eignet, weil im Katastrophenfall die Strohballen und der Lehm heraus purzeln, während der Ständerbau stehen bleibt.

In der Aula finden die großen Veranstaltungen mit 300 bis 400 Teilnehmern statt. Vorne ist eine geräumige Bühne, hinten ein Bereich, wo sich die Kinder aufhalten und spielen können. Mir fallen die quälenden Gottesdienste aus meiner Kindheit ein. Die Stunde auf der harten Kirchenbank kam mir wie eine Vorbereitung auf die Ewigkeit vor und ich wartete sehnsüchtig auf die Worte Gehet in Frieden. Ich ging gerne, aber Frieden fühlte ich nicht, sondern eher Erlösung dieser menschengemachten Vorhölle entronnen zu sein. Später, als ich alt genug war den Gottesdienst alleine zu besuchen, schwänzte ich gerne dieses demütigende Ritual und ging einfach spazieren. Einmal traf ich Bekannte meiner Eltern. Der Schreck fuhr mir in die Glieder. Nie schlief er, der strafende Gott.

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Benjamin spricht frei und es ist schön zu sehen, wie er sich von unserer Gegenwart und seinen Eingebungen inspirieren lässt. Es liegt Hoffnung in seinen Augen und seinen Worten. Zuhause habe ich immer ängstlich die Nachrichten verfolgt. Man spürte, da spitzt sich etwas zu und niemand bot eine glaubwürdige Perspektive an. Dieses Wir schaffen das! ohne eigentlichen Kurswechsel klang in meinen Ohren wie eine Durchhalteparole. Dieser Mann hier steckt mich an mit seinem Optimismus.

Wo ist der eigentliche Unterschied zwischen einem Audi, einem BMW und einem Mercedes oder Coco Chanel und Calvin Klein? Ausdruck eines verzweifelten Individualismus', alles Surrogate, die uns darüber hinwegtrösten, dass wir das Wesentliche nicht haben. Und von diesem Wesentlichen spricht Benjamin, von einer neuen Welt, die am Entstehen ist. Überall auf der Welt haben Menschen aufgehört, darauf zu warten, dass ihnen die Regierungen helfen. Sie haben Gemeinschaften gegründet, sich Ökologie und Permakultur zugewandt und eine natürliche Spiritualität entwickelt. Mittlerweile sind diese Gemeinschaften dabei, sich weltweit zu vernetzen. Es lohnt nicht, die alten Diktatoren und Oligarchen zu bekämpfen, das festigt nur ihre Macht. Wir lassen sie einfach links liegen und bauen unsere eigene Welt, Terra Nova.

Nach dem Abendessen gehe ich noch spazieren. Diese karge Landschaft mit den sanft geschwungenen Hügeln, von den derben Pflanzen abgesehen, wirkt sie wie ausgestorben, wie von einem anderen Planeten. Nur selten hört oder sieht man einen Vogel, die eigenen Schritte knirschen hart im staubigen Schotter. In der ersten Nacht habe ich ein großes Tier nahe dem Zelt gehört. Ein Wildschwein habe ich gedacht und richtig gelegen. Die gibt es also hier. Später sehe ich ihre Spuren und sogar die von einem Otter. Durch die Anlage der Seen sind die Tiere zurückgekehrt. Ihre Fährten führen immer nach Tamera hinein, niemals hinaus.

Wieder klemme ich mir die Bar. Ich will meine Mitte nicht verlieren und brauche Retreat. Etwa sechzig Menschen in meinem Kurs, ungefähr genau so viele in der parallelen Denkschule, dann noch das Jugendcamp und zahlreiche Helfer in Garten und Küche und nicht zuletzt leben 170 Menschen dauerhaft in Tamera. Wir sind ein Dorf.

Das zweite Buch, was mich begleitet, ist von Thomas Schäfer, dem bekannten Familienaufsteller. Für ihn ist so, als würde der westliche Mensch sein Leben als eine Art Kapital sehen, aus dem es möglichst viel herauszuschlagen gilt. Vor diesem Hintergrund würde jede Krankheit, auch der Tod als persönliche Niederlage empfunden. Entwicklungschancen durch Krankheiten und das Sterben blieben ungenutzt. Hier beschreibt Schäfer die verbreitete allein horizontale Ausrichtung vieler Menschen, die ihr Glück im Anhäufen von Sachen suchen.

Dem stellt Schäfer ein Bild entgegen, welches am ganzen Sein und Nicht-Sein orientiert ist. Betrachtet man die Zeit, die vor unserer Geburt vergangen ist und die nach unserem Tod noch vergeht, bescheidet sich das Leben auf einen kurzen geschenkten Ausschnitt. Aus dieser Sicht wird selbst der Unterschied, ob jemand achtzig Jahre oder achtzig Tage lebt, klein. Das Leben erscheint wie ein kurzes Leuchten vor einem großen Dunklen und dieses Leben lädt ein, Erfahrungen zu machen, um die Tiefe der Seele, die Weite des Geistes und die Schönheit des Körpers auszuloten.

Touching Tamera

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