Читать книгу Muzungu Facetten zentralafrikanischer Jahre - Peter Kunkel - Страница 8
ОглавлениеZu Hause im Kivu
Vor unserem Haus steht eine Bank. Zwei Stützen aus aufgemauerten Feldsteinen und ein dickes Brett darüber, grau vom Regen vieler Jahre, mit einem großen Riß über die ganze Fläche hin. Sie paßt nicht recht zu den beiden Flügeltüren mit ihren vielen kleinen Glasscheiben und ihrem Anspruch auf Schloß, zwischen denen sie an der Haus-wand steht. Aber es gibt keinen schöneren Platz, um zu sitzen und zu schauen.
Unter uns, sechshundert Meter tiefer, liegt der Kivusee, fast zehn Kilometer weit weg. Nur ein kleiner Teil davon ist zu sehen; hohe Grasberge zu beiden Seiten des Panoramas und vor allem die große Insel Idjwi, die sich als langer Riegel durch zwei Drittel des Sees zieht, verdecken das Meiste von ihm. Hinter Idjwi steht die zerklüftete Kette der Berge Rwandas in der verblauenden Ferne. Vom Ufer des Sees mit seinen Buchten, Halbinseln und Grashügeln steigt das Gelände steiler und steiler zu uns empor, ein kleinteiliges Mosaik von Hügelrücken, Senken und Tälchen, über das das frische Grün der Kulturen hinzieht: der satte Farbton ausgedehnter Bananen-pflanzungen, der hellere der Felder von Sorghohirse und Mais und der noch hellere der Bohnenfeldchen, dazwischen immer wieder Feldstücke, die nicht bestellt sind und sich erholen sollen, gelblich von den unzähligen Blüten der Kompositen und Kleinsträucher, die sie gleich nach der letzten Ernte überziehen. Ein Sumpf, der eine Senke mit seinen graugrünen Seggen und dunklen Randgebüschen ausfüllt, ist der einzige größere Fleck in diesem Flickenteppich.
Dieses Kulturland unterhalb unseres Hauses gehört zu den am dich-testen besiedelten ländlichen Gebieten des Kongo-Zaire. Vom See-ufer reicht es bis zu zweitausend Meter über dem Meer auf die Flanken der Berge hinauf und zieht sich bald breiter, bald schmäler den ganzen See entlang. Höher hinauf ist Wildnis, Bergwald und dichte Bambusbestände, in denen die wenigen Pygmäen umher-streifen und Berggorillas zu Hause sind. Eine Gruppe der großen Menschenaffen kommt alle paar Monate auf dem Rundgang durch ihr Territorium einen knappen Kilometer hinter unserem Haus vorbei.
Von der dichten Besiedlung unter uns ist fast nichts zu sehen. Nur direkt vor uns, hinter dem Rasen unseres Gartens, wo eine ausge-diente Fahrstraße zu unserem Haus, jetzt nur noch eine Ansammlung von Erosionsrinnen, ein Anwesen durchschnitten hat, sind zwischen Bananenstauden ein paar Hütten in Bienenkorbform zu sehen. Oder eine frisch gebaute Hütte steht einsam auf einem neu angelegten Feld. Gewöhnlich aber sind die Gehöfte in den Bananenpflanzungen versteckt, und aus der Ferne gibt nur die Vegetation Kunde von menschlicher Tätigkeit. Anstelle des Waldes, der sich einmal bis fast zum Seeufer hinuntergezogen hat, Felder und Grashügel, also das, was der Mitteleuropäer zu Hause bereits als sehr viel Natur anzunehmen geneigt ist.
In dieser Landschaft ist – sehen wir einmal von den wenigen europäischen Gebäuden ab, Fremdkörpern in jeder Beziehung – kein Punkt gesetzt, um den sich jetzige und künftige Geschlechter sammeln und historischen Gefühlen hingeben können, nicht immer zum Guten ihrer Gegenwart. Das unterscheidet die zentral-afrikanische Landschaft zutiefst von den pathetischen Landschaften anderer Kontinente, in denen Schlösser, Tempel oder Kathedralen einen unübersehbaren Akzent in eine Ebene setzen, eine Burg sich einen Felsen, eine Kirche sich eine Halbinsel so vollkommen unter-ordnet, daß alle Linien in ihnen zusammenzulaufen scheinen, in denen sogar ein Hügelchen durch ein Marterl sich selbst entfremdet und zum Träger einer Idee gemacht wird, von etwas so Unseligem wie Deutschlands Bismarcktürmen ganz zu schweigen.
Nicht daß ein Hügel oder eine Halbinsel nicht in den Augen der Einheimischen religiöse oder metaphysische Bedeutung haben könn-te. Sie kann, im Gegenteil, oft wuchtiger und verbindlicher sein als die von Überresten versunkener Epochen anderswo, besonders wenn Hügel oder Halbinsel Sitz eines Heroen oder Stammesgründers sind. Aber man sieht es ihnen nicht an. Sie sind mit Gras überzogen, in den Flanken wachsen ein paar schüttere Akazien mit ihren horizontalen Ästen in mehreren Etagen übereinander, oder sie tragen unregel-mäßige Flecken höchst alltäglicher Pflanzungen, immer wieder Bananen, Bohnen, Sorgho. Sie sind ohne jedes Pathos, ohne Zusammenfassung und damit auch Knechtung ihrer Linien durch Menschenhand, ohne die Wehmut der Vergänglichkeit. Jede Halb-insel gleicht der nächsten. Jeder Hügel ist einer von tausend ähnlichen, die in geringer Variation einander bis zum Horizont folgen und darüber hinaus bis zum Rand des Kontinents.
Man wird nicht müde, die Landschaft im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten zu betrachten. Morgens, kurz bevor die Sonne über den Bergen von Rwanda aufgeht, liegt der See in stumpfem Bleigrau spiegelglatt zwischen den grauen Bergen, deren Runsen im scharfen Wechsel von Licht und Schatten deutlich hervortreten. An ihren Flanken ziehen sich Wolkenbänke oder Reihen fast gleich geformter Wolkenfetzen entlang, von gleichem Grau wie die Berge und so genau horizontal, daß die Berge darauf stehen wie Kurven auf einer Abszisse. Über dem nahen Kulturland hängen Nebelfetzen. Sie geben nur hie und da den Blick frei auf einen größeren Baum oder eine Hügelspitze mit ein paar Bananenstauden. Es ist schneidend kalt. Nie sieht die Landschaft abweisender aus als zu dieser Stunde. Sogar die Vegetation ist optisch weggewischt, vom Herrn der Schöpfung gar nicht erst zu reden. Es sieht aus, als ob selbst die Pflanzen erst einmal erfunden werden müßten, und Gott gerade eben gesagt habe: „Es werde Licht.“
In der Regenzeit hängen die Wolken oft schwer über dem See. Das Grün bekommt einen düsteren bläulichen Stich. Schmale Regen-vorgänge verdecken einen Teil des Panoramas, allerdings immer nur einen kleinen: Es regnet im Kivuhochland nie anders als in kleinen Streifen und für kurze Zeit. Selten dauert die wolkenbruchartige Flut länger als eine Stunde, bevor sie wieder der Sonne Platz macht. Nach dem Regen ist die Sicht weit, besonders morgens um neun Uhr herum, wenn die Luft reingewaschen ist vom nächtlichen Regen und sich noch nicht wieder mit Dunst und Staub gefüllt hat. Man kann von der Fahrstraße zu unserem Haus aus manchmal sogar drei der acht Virungavulkane sehen, deren Sicht von unserer Bank aus durch den nächsten Grashügel versperrt ist. Sie riegeln den See in achtzig Kilometer Entfernung ab, und aus dieser Distanz wird das einsame Übermaß dieser Bergriesen deutlich, die den See bis zu mehr als dreitausend Metern überragen.
Deprimierend ist die Trockenzeit von Mai bis September, wenn man von den ersten vier bis sechs Wochen absieht, in denen noch alles grünt und blüht. Später vergilbt und verwelkt ein großer Teil der Vegetation. Graue und braune Töne gewinnen die Oberhand. Nur die Bananenpflanzungen behalten ihr frisches Grün und heben sich scharf ab. Große Wolken ziehen über den Himmel hin, geben aber kein Wasser. Die Luft füllt sich zunehmend mit Staub und Dunst, besonders wenn die Buschfeuer anfangen, in langen Linien über die Grashügel zu laufen und sie schwarz von Asche zu hinterlassen. Zuletzt ist der Dunst so dicht, daß man kaum hundert Meter weit sehen kann, und dort, wo man den Kivusee und die Berge Rwandas weiß, ist graue, formlose Unbestimmtheit. Es ist eine Zeit allgemeiner Reizbarkeit, wie sie anderswo Föhn und Chamsin erzeugen, und in ihr brechen gewöhnlich auch die Revolutionen aus.
Zu allen Stunden und Jahreszeiten strahlt die Landschaft den Zauber der Unberührtheit aus, dem sich keiner unserer europäischen Besucher je hat entziehen können. Auch dort, wo sich Einheimische in ihr betätigt und breitgemacht haben, bleibt sie unbeschrieben und frei. Hier ist nichts von fremder Hand hineingezeichnet. Die Ge-danken bleiben nicht am gestalteten Ausdruck anderer, fremder Gedanken hängen. Man empfindet die Versuchung, selbst einmal etwas in diese leere Tafel zu schreiben, zugleich aber auch, wie anmaßend und absurd dieser Versuch wäre: Würde nicht auch das Beste in dieser durch und durch nicht menschlichen Landschaft kleinlich wirken?
Nun, man betrachte, was die Kolonialzeit hier an Marken hinterlassen hat. Ein wenig nach rechts liegt unten am Hang, etwa zwei Kilometer entfernt, das Hauptzentrum unseres Instituts. Von meiner Bank aus sehe ich nur einen kleinen Teil der Gebäude, eine Reihe weißer Häuschen, die zum Dorf für die Angestellten gehören, das Gästehaus in belgischem Landhausstil und den Hauptblock in zartem Rosa, mit Bibliothek, Labors und Verwaltung. Ein englischer Besucher hat ihn etwas unfreundlich, aber nicht ganz unzutreffend als Kreuzung zwischen Naziarchitektur und Maharadjapalast bezeichnet. Die übri-gen Häuser verbergen sich unter dem dunklen Laub der Albizzien-bäume in den Gärten und Anlagen.
Erstaunlich genug, nimmt die Entfernung den Gebäuden all das, was dem englischen Besucher unangenehm war. Wie auch die wenigen anderen europäischen Gebäude, die man sieht, ein Pflanzerhaus, eine Klinik am Seeufer und eine ferne Krankenstation auf der Insel Idjwi, sehen sie rein funktionell aus. Sie verlieren alles, was sie aus der Nähe an Pompösen haben mögen, und wirken so nüchtern und alltäglich wie ein Bohnenfeld. In den großen Linien der Landschaft kommen sie sozusagen gar nicht vor.
Niemand würde auf den ersten Blick von hier oben vermuten, daß dieses scheinbar so menschenferne Land übervoll von Menschen ist: Im Anbaugebiet zwischen See und Wald leben, das heißt, lebten bereits in den sechziger Jahren mehr als dreihundert Menschen auf dem Quadratkilometer. Das entsprach der Durchschnittsdichte Bel-giens und der Niederlande. Wenn man daran denkt, wie stark gerade Niederländer und Belgier ihre Länder umgestaltet, wie sehr sie sich im wahrsten Sinn des Wortes in ihnen breitgemacht haben, empfin-det man einen regelrechten Schock beim Anblick dieses übervöl-kerten und doch so unberührt wirkenden Landes. Gewiß, es sind nur die hohen, dichten Bananenstände, die uns den Blick auf die über das ganze Land verstreuten Hütten versperren. Aber wie anders sähe die Landschaft aus, wenn jede Familie ein Bauernhaus europäischen Stils besäße. Solche Unterkünfte ließen sich bestimmt nicht hinter Bana-nenstauden verstecken. Wohin verkrümelt sich diese Masse Menschen? Oder man muß wohl anders fragen: wie klein muß der Raum sein, den jeder um sich herum gestaltet, um so in der Landschaft zu verschwinden?
Nun, der Wirkungskreis einer bäuerlichen Familie erstreckt sich zwangsläufig auf eine Hofstelle mit ihren Feldern. Im Kivuhochland lebt jede Familie für sich inmitten des Landes, das sie bestellt. Dörfer gibt es nicht. ‚Posten‘ wie Städte sind eine Errungenschaft der Kolonialzeit und heute kaum neunzig bis hundert Jahre alt. Traditio-nellerweise legt man ein Gehöft am liebsten auf der Kuppe eines Hügels an und pflanzt um es herum, was schnell zu ernten, also auch leicht zu stehlen und zu wertvoll ist, um nicht ständig unter den Augen des Besitzers zu bleiben, vor allem die Bananen. Ein paar Fruchtbäume wie Papaya, Orangen oder Zitronen, seit Ende der sechziger Jahre zunehmend auch Kaffeebäumchen, dicht bei der Hütte etwas Tabak und ein Busch scharfer Paprika . Alles andere – Bohnen, Sorgho, Maniok, Erdnüsse, Mais, Bataten und manches mehr – pflanzt man weiter draußen auf den abschüssigeren Teilen des Hügels oder unten an seinem Fuß, wo die bei diesem Verfahren unvermeidliche Erosion die fruchtbare Erde zusammengeführt hat. Diese Felder müssen sich immer wieder erholen und lagen wenig-stens früher zwischendurch für mehrere Jahre brach. In den Brachen weidete das Vieh, das sich sonst sein Futter an Stellen suchen muß, die für den Anbau nicht mehr geeignet sind, an Steilhängen und, vor allem in der Trockenzeit, in den sumpfigen Niederungen, die die Senken zwischen den Hügeln ausfüllen.
Ein Bild, das allerdings der Vergangenheit angehört. Bei einem Be-such zu Anfang der neunziger Jahre war kaum noch eine Brache zu sehen. Die Dichte der Bevölkerung hatte auf etwa das Doppelte zugenommen, und offenbar könnte niemand es sich mehr leisten, sein Feld auch nur eine Saison unbestellt zu lassen. Und die Kühe? Es gab kaum noch welche…
Groß waren die Felder allerdings wohl nie. Die mühsame Bearbeitung mit Hacke und Machete setzte ihrer Ausdehnung rasch eine Grenze, auch wenn beliebig viel Ackerland verfügbar war. Klima und Boden erlauben zudem eine häufige Fruchtfolge. So kommt man auch bei nur schwach entwickelter Vorratswirtschaft mit verhältnismäßig klei-nen Anbauflächen aus. Fünfmal im Jahr können Bohnen, das Grund-nahrungsmittel in unserer Region, auf demselben Feld geerntet werden oder zweimal Sorgho. Schon Anfang der sechziger Jahre bestimmte allerdings der wachsende Bevölkerungsdruck die Größe der Felder. Die Hofstätten rückten immer dichter zusammen, und zum Mindesten im Gelände um unser Institut herum gab es keinen Hügel mehr, der nur von einer Familie besetzt gewesen wäre. Aber die Anordnung der Kulturen war noch dieselbe, und die Bana-nenstauden hatten mehr denn je die beiläufige Funktion, den allzu genauen Einblick der Nachbarn ins Familienleben zu verhindern. Heute ist es auch damit vorbei.
Die Gehöfte sind einfach angelegt: eine blankgefegte Tenne, nackte Erde, auf der kein Pflanzenwuchs geduldet wird, und darauf ein paar Hütten, die Zimmer der Familie gewissermaßen, zugleich aber auch Ställe: eine für den Pater familias und die Kuh, eine für Frau und kleine Kinder sowie Ziegen und Schafe und eventuell weitere für die heranwachsenden Söhne und Töchter, für Gäste, Vieh und andere Zwecke. Meistens sind es nicht mehr wie zwei oder drei. Eine Feuerstelle, von ein paar Steinen eingefaßt, einige Baumstämme, die auf der Tenne liegen und auf denen man sich niederlassen kann, und ein kleiner runder Hirse- oder Bohnenspeicher aus Sorghostengeln mit spitzem Dach vervollständigen die Anlage, die ein niedriger Zaun aus Stecken oder Sorghostengeln umschließt.
Das Westufer des Kivusees war zu unserer Zeit eine der letzten Regionen Afrikas, in denen die Bienenkorbhütte noch weitgehend in Gebrauch war. Zu Anfang des Jahrhunderts war sie überall im Zwischenseengebiet zu Hause, in Rwanda, Burundi, Südwestuganda und den Gebieten, die sich im Kongo-Zaire und in Tansania an-schließen. In den sechziger Jahren baute man überall, außer in unserem Gebiet, bereits Rundhütten mit Kegeldach und Lehm-wänden oder viereckige wellblechgedeckte Häuser, wie sie inzwi-schen überall die alten Hausformen verdrängt haben. Ein ugande-sisches Fernsehteam, das uns besuchte, geriet über die Bienenkorb-hütten regelrecht in Verzückung: Für diese Leute waren sie etwas bereits unwiderruflich Historisches, und sie fühlten sich in die heroi-schen Zeiten ihrer Väter versetzt.
Auch in den neunziger Jahren konnte man hier und da Bienenkorb-hütten auf dem Westufer des Kivusees finden, als Nebenhütten zum Beispiel und nicht gerade bei gutsituierten Leuten. Es lohnte sich, sie zu suchen, denn eine solche Bienenkorbhütte ist ein faszinierender Anblick. Hier ist das Wesentliche eines Hauses auf allereinfachste Formel gebracht, ähnlich wie bei einem Iglu, ja, zunächst scheint sie nur der Torso eines Hauses zu sein, ein auf den Boden gesetztes Dach. Von der Dachspitze mit ihrem Zentralstab bis zum Boden ist sie gleichmäßig mit Stroh gedeckt. Es gibt keinen Absatz zwischen Dach und Wand. Die Seiten der Bienenkorbhütte werden zwar nach unten immer steiler, aber selbst auf den Boden treffen sie nicht senkrecht auf, sondern fallen leicht schräg nach außen ab. Das Stroh, namentlich wenn es Bananenstroh ist, wird bald nach dem Bau rissig und hängt in Fetzen um das Haus herum. Wäre nicht die Tür, damals oft noch nach alter Sitte aus parallelen Sorghostängeln zusammengebunden, würde man die Hütte eher für einen unordentlichen Heuhaufen halten als für eine menschliche Behausung, deren saubere Konstruktion in Gestalt eines von Schnü-ren zusammengehaltenen Stangengerüsts unter dem Strohmantel verborgen bleibt.
Die Inneneinrichtung der fensterlosen Hütte ist ebenso schlicht wie der Bau selbst. Eigentlich besteht sie nur aus einer oder mehreren Bettstellen am Boden, Rahmen aus Ästen, über die ein paar Matten geworfen sind, und einer zentralen Feuerstelle, deren Rauch sich einen Weg durch die Ritzen des Strohmantels suchen muß und den oberen Teil des Innenraums mit einer glänzenden Rußschicht überzogen hat.
Auch der Hausrat der Familie ist überschaubar: ein irdener Topf zum Kochen, schon in den sechziger Jahren meistens durch eine Aluminiumschüssel ersetzt, eine Kalebasse zum Wasserholen am nächsten Bach, ein paar Schalen, früher aus Holz, zu unserer Zeit aus schreiend bunten, emaillierten Importaluminium, ein großer Holz-löffel zum Umrühren des Bohnenbreis, Strohbesen, Matten und Decken zum Schlafen, Kamm und Rasierklinge, das alles läßt sich ebenso schnell aufzählen wie das, was die Familie sonst noch besitzt: Arbeitsgerät – Hacke, Machete, Beil, Sichel -, Waffen und Jagdgerät – Speer, Schwert, Schild und Hundeglocke –, ein paar Dinge, die man für die heiteren Seiten des Lebens braucht: Tabakpfeife, Trink-kalebasse und Gerät zum Brauen und für den Transport von Bier, Spielbrett, kleine Musikinstrumente, Glasperlenschmuck und oft, bereits zu unserer Zeit zur Tradition gehörend, ein Transistorradio und eine Armbanduhr. Schließlich noch ein paar Körbe und ein Aluminiumkoffer, in denen man etwas aufbewahren kann. Die ganze bewegliche Habe einer Familie läßt sich meistens in ein Tuch schlagen und auf dem Rücken einer Frau davontragen, und so wird es bei Umzügen auch gemacht.
Die Liste ist gewiß nicht vollständig; aber sie umreißt mehr oder weniger den Umfang dessen, was eine bäuerliche Familie an Geräten und Hausrat besitzt. Sie macht vielleicht auch deutlich, daß die Dinge, mit denen sie sich umgibt, verglichen mit ihrem europäischen Gegenpart oft unwahrscheinlich kleine Dimensionen haben. Man halte einmal den Korb oder Aluminiumkoffer, in dem man im Kivuhochland seine Kleidung aufhebt, neben den Kleiderschrank eines deutschen Schlafzimmers. Oder man vergleiche ein Klavier mit einem der Musikinstrumente, die dort gesellschaftlich eine ähnliche Rolle spielen, der nanga etwa, einer achtsaitigen Schalenzither von noch nicht einem Meter Länge, oder der kasayi, die aus einer Kalebasse (neuerdings auch einem ausrangierten, außen verrußten Aluminiumkochtopf) als Resonanzkörper und einem Brettchen besteht, auf das eine Reihe kompliziert gestimmter Eisenspangen gespannt sind.
Die Dimensionen der Geräte sind ebenso auf ein uns gerade noch als funktionsfähig erscheinendes Maß reduziert wie ihre Zahl je Haus-haltung. Man braucht nur etwa die beschriebene ‚Kücheneinrichtung‘ mit dem Instrumentarium zu vergleichen, mit dem die deutsche Hausfrau von jeher dem Essen zu Leibe ging, um zu verstehen, warum die hohe Bevölkerungsdichte im Kivuhochland nur wenig im Landschaftsbild zum Ausdruck kommt: Der Radius der Umwelt, die die Leute um sich herum gestaltend in die Hand nehmen, ist verschwindend klein.
Beschränken sie sich aus Armut? Sicher nicht; denn auch der Häupt-ling des ganzen Landes, das von unserer Bank bis zum See hinunter vor uns liegt, lebte kaum anders. Er war in den sechziger Jahren Herr über neunzigtausend Seelen. Ihm ‚gehörte‘ alles Land ringsum. Er konnte es nach Gutdünken einziehen und neu austeilen, selbst wenn es schon bestellt war, ja, sogar wenn bereits die Ernte darauf heran-reifte. Er hatte Anspruch auf Fronarbeit, Steuern und ‚Geschenke‘, was hieß, daß er jederzeit Sonderauflagen machen konnte, und er machte von alledem eifrigen Gebrauch. Aber er bewohnte ein Gehöft der üblichen Art inmitten seiner Felder, die seine zum Frondienst abkommandierten Untertanen bestellten und unterhielten, nur daß er sich ein paar Bienenkorbhütten mehr hatte errichten lassen. Er hatte sich allerdings, in Anpassung an die neue Zeit, auch ein ‚europäisches‘ Haus bauen lassen; aber gerade an ihm zeigte sich, wie gering die Tendenz zu materieller Entfaltung bei diesen Leuten ist: Trotz seiner praktisch unbeschränkten Mittel (und Vorbildern ganz in der Nähe, nämlich den Häusern unseres Instituts) war es nicht viel größer als ein Nachkriegsschrebergartenhäuschen bei uns und nur mit einem Tisch und ein paar Stühlen möbliert. Er benutzte es als ‚Büro‘ für den Papierkrieg mit den Behörden und um gelegentlich darin ein Glas Bier mit seinen Vasallen zu trinken.
Beschränken sich die Leute vielleicht aus Sparsamkeit, Bescheidung oder wie immer man es benennen mag? Aus einem Gefühl für das ökologische Gleichgewicht heraus, wie es viele Indianer tun, die sich vor jedem Eingriff in die Natur, vor dem Fällen eines Baumes etwa oder vor der Jagd, in einer Zeremonie bei den Wesen oder den zuständigen Göttern entschuldigen, ihre Bedürfnisse darlegen und nicht mehr nehmen, als sie wirklich brauchen?
Nichts liegt den schwarzen Völkern Zentralafrikas ferner. Im Gegen-teil, ein Hang zu Maßlosigkeit und Verschwendung gehört geradezu zu ihren Grundeigenschaften. Zwar sind auch ihre traditionellen Kulturen den ökologischen Gegebenheiten vielfach sehr genau angepaßt, aber diese Anpassung läuft über andere Mechanismen, vor allem über Meidungsgebote der verschiedensten Art. Wo solche feh-len, das heißt, im Umgang mit dem, was mit der Verwestlichung ins Land gekommen ist, werden Ressourcen aller Art in kürzester Zeit bedenkenlos verpraßt. Ich habe erlebt, daß jemand in einem Jahr zweihunderttausend Dollar so vollständig durchbrachte, daß ihm auch nicht ein Hemd verblieb. Wofür gibt nun ein derart aus den Fugen geratener Kongolese beziehungsweise Zairer sein Geld aus? Nur für momentanen Luxus: Getränke, möglichst viele Frauen, große Einladungen, maßlos großspuriges Auftreten, Kleidung, die man nach vierzehn Tagen mit verächtlicher Gebärde beiseite wirft, Autos, die man mit Achselzucken an der nächsten Straßenecke stehen läßt, wenn das Kleingeld nicht mehr zum Auftanken reicht – kein Europäer kann es im Rausch der Verschwendung mit einem zairisch-kongo-lesischen débaucheur aufnehmen.
Besitz als solcher sagt nichts. Freilich gibt es Dinge, die in Mengen zu besitzen sich auch in schwarzafrikanischen Augen lohnt, bei allen ostafrikanischen Hirtenvölkern zum Beispiel Kühe, die eine hohe soziale, beinah religiöse Bedeutung haben und Macht und Ansehen verleihen. Aber etwas um seiner selbst willen zu sammeln, einfach weil es schön und interessant ist, ist ein wenig schwarzafrikanischer Trieb.
Schon zwei gleichartige Dinge haben zu wollen, erscheint absurd. Auf einem Markt in Rwanda kaufte ich einmal zwei Tabakpfeifen aus Ton, wie sie die Pygmäen dort für die Hutubauern herstellen, jede etwas anders in der Form und mit immer neuen einfachen, reizvollen Mustern versehen. Wie üblich stand eine große Menschenmenge um mich herum, um zu sehen, was der Weiße wohl im Sinn hatte, und ein alter Mann fragte schließlich verwundert:
„Muzungu, warum kaufst du denn zwei Pfeifen?“
„Weil sie verschieden sind.“
„Aber du kannst doch nur eine Pfeife benutzen.“
„Aber ich mag sie beide, weil sie so schön sind.“
„Aber wozu brauchst du denn zwei Pfeifen, Muzungu?“
So ging es noch eine Weile hin und her, und ich konnte mich ihm nicht verständlich machen. Was hätte er wohl erst gesagt, wenn er gewußt hätte, daß ich gar nicht rauche?
Zu den meisten Dingen in ihrem Besitz haben die schwarzen Be-wohner Zentralafrikas ein uns unbegreiflich loses Verhältnis. Sie geben sie mit einer Leichtigkeit weg, die uns auch nach Jahren noch überrascht. Das heißt nicht, daß es keine Dinge gibt, an die sie ihr Herz hängen. Eine Frau liebt ihre Kalebasse, die durch langen Ge-brauch eine schöne rotbraune Patina bekommen hat, ein Kind sein selbstgebasteltes Auto und ein Mann seine Pfeife und sein Musik-instrument. Aber es ist immer nur ein einziger Gegenstand von einer Art, und insgesamt sind es nur wenige.
Einem außerordentlich schwachen Bedürfnis, die materielle Umwelt nach eigenen Vorstellungen in die Hand zu nehmen, verdankt dieses übervölkerte Land also seine scheinbare Unberührtheit, so prädesti-niert es in anderer Hinsicht auch dafür scheint, eine monumentale Hochkultur hervorzubringen: Es hat ein gesundes Klima ohne Extrem-werte, fruchtbare Böden, auf denen viele verschiedene Kulturpflan-zen gedeihen, und von jeher eine dichte Bevölkerung in verhältnis-mäßig großen politischen Einheiten. Rwanda und Burundi sind darüber hinaus schon lange hochorganisierte Flächenstaaten gewe-sen. Aber ihre Herrscher hielten auch sie von einfachen Gehöften aus zusammen, auf einer wirklich bescheidenen Basis materieller Kultur.
Selbst Straßen hatten diese Königreiche nicht. Es wird zwar von einer kurzen Prunkallee von Spazierwegbreite auf den rwandesischen Königshof zu berichtet; aber im Allgemeinen liegen auch Wege außerhalb des Bereichs, der durchgestaltet wird, will man nicht gelegentliche Machetenhiebe auf störende Zweige als Wegebau ansehen. Überall sind die Hügelkuppen isolierter Gehöfte durch Trampelpfade miteinander verbunden, genau breit genug für eine Person. Pfade, die die ständige Benutzung schafft und erhält. Sie pendeln irgendwo an den Feldern entlang, schlängeln sich durch Bananenpflanzungen und verlagern sich, wenn der Regen sie zu tief ausgewaschen hat. Niemand respektiert sie, im Gegenteil: wer ein Feld anlegt, kann der Verlockung nicht widerstehen, auch den Wegstreifen mit umzuhacken und zu besäen, und der Pfad muß sich erst wieder durch den Tritt der vielen Passanten in der weichen Erde der letzten Furche neu formen, ein bißchen versetzt gegen das Nachbarfeld.
Seltsam sich vorzustellen, daß die Zentralafrikaner bis vor kurzer Zeit keine anderen Verkehrswege als diese Art von Trampelpfad hatten. Sie kannten weder Tragtier noch Rad und empfanden anscheinend nicht einmal an steilen Hängen das Bedürfnis, Lasten, selbst schwere Kornlasten, bequemer zu befördern. Ich habe immer die europäi-schen Entdecker bewundert, die auf diesen Pfaden Tausende von Kilometern ins – ihnen – unbekannte Innere des schwarzen Konti-nents gezogen sind. Was für ein Mut gehört dazu, über so schmale Streifen nackter Erde großen Zielen, Seen, Mondgebirgen, Nilquellen und ungastlichen Königreichen, entgegenzuziehen und zu wissen, daß man auch für die Rückkehr in die gewohnte Zivilisation wieder auf diese ungewissen, ständig verlegten Pfade angewiesen ist. Wie schäbig stehen wir Heutigen da, in den sechziger Jahren von gewissen Institutsnachrichtenblättern ebenfalls als ‚Forscher in Afrika‘ be-zeichnet, die wir vor jedem Schlammloch in der Straße zu schimpfen anfangen und vergrämt das nächste Flugzeug besteigen!
Die Erben jener ersten, wirklichen Forscher in Afrika haben eben andere Ansprüche in den schwarzen Kontinent gebracht, die sich vor dem einheimischen Hintergrund noch seltsamer ausnehmen, als sie an sich schon sind. Es genügt, das Haus zu betrachten, in dem wir hier oben wohnen. Mit einer Reihe prächtiger Flügeltüren öffnet sich der langgestreckte Bau auf unser Panorama hinaus. Durch eine tritt man in eine über sechs Meter hohe Bibliothek, vollständig mit dunklem, fast schwarzem Holz ausgetäfelt, mit Bücherbrettern bis unter die Decke, eine imposante, aber doch recht finstere Angelegenheit. Andere Flügeltüren führen in einen gewaltigen Saal mit wuchtiger Balkendecke und einem überdimensionalen Kamin. In ein Schloß für Feudalherren in einem versunkenen Europa.
Noch deutlicher sprachen von solcher Nostalgie Reste der Innen-einrichtung, die wir beim Einzug in dieses Haus vorfanden. Da hing ein großer persischer Kelim an einer Wand. Darunter stand eine geschnitzte Truhe in altflämischem Stil, auf der man das Wappentier des Instituts bewundern konnte, einen Löwen, der seine Pranken auf die geöffneten Seiten eines Buches legt. Auch hing an einer anderen Wand ein Gobelin mit einer hübschen französischen Landschaft, und als Beleuchtung hatten zwei reichgeschnitzte Barocklampen gedient, die ursprünglich wohl zur Kutsche mindestens einer Marquise gehört hatten. Der Gründungsdirektor des Instituts hatte sich dieses Haus gebaut, und es ist eigentlich unnötig zu sagen, daß das ganze Institut den Stempel solcher Sehnsüchte nach ungebrochenem Adelsstolz trug. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich den getäfelten Lesesaal der Bibliothek vorzustellen oder das Direktorzimmer mit Intarsien-tisch und antiken Karten von Delos und Santorin an der Wand.
Afrika? Nichts von Afrika! Sorgfältiger hätte man das Land, in dem man sich angesiedelt hatte, nicht ausschließen können. Nur das Panorama vor dem großen Haus war gewissermaßen angenommen worden. Das war auch nicht schwierig, weil darin eigentlich nichts von den Menschen zum Ausdruck kam, die hier zu Hause waren.
(Nein, ganz ausgeschlossen war das Land draußen nicht. Aber das entdeckte ich erst neun Jahre später, erst als ich selber das Institut leitete: In einem vorher nie benutzten Saal zog sich ein riesiges Gemälde von der Ankunft der Belgier im Kivu an der ganzen Innenwand entlang. Hoch aufgerichtet standen ein paar Herren mit dem typischen coup-de-bambou-Gesicht, dem Adlerblick des ent-schlossenen Eroberers und Herrnmenschen, in einem Boot, das offensichtlich an einem Ufer des Kivusees anlegte. Empfangen von erbärmlichen, zusammengekrümmten Gestalten, die schon bei dem Auftauchen der Herrschaften von Sklaverei und kriecherischer Unterwerfung gezeichnet zu sein schienen. Ich war so geschockt, daß ich das Bild sofort entfernen wollte – die zairischen Angestellten des Instituts hinderten mich daran: Es gehöre doch zum patrimoine national, zu ihrem nationalen kulturellen Erbe!)
Es ist selbstverständlich, daß ein Kolonisator seine Kultur mitbringt und dem unterworfenen Land aufzuprägen versucht. Das kann schon deshalb nicht anders sein, weil er seine Tätigkeit in diesem Land moralisch nicht anders rechtfertigen kann, auch vor sich selbst nicht, als damit, daß er ihm die Segnungen eine höheren Zivilisation und Gesittung bringt. Von einem gewöhnlichen Siedler kann man erst recht nicht verlangen, daß er sich dem Einfluß der Unterworfenen gegenüber offen zeigt: Er hat alle Hände voll zu tun, sich eine Existenz in dem neuen Land zu schaffen, und nur selten besitzt er die Beweglichkeit des Geistes, die die Auseinandersetzung mit einer fremden Kultur verlangt, schon gar nicht mit einer so fremden wie der schwarzafrikanischen, die schon deshalb nicht dazu verlockt, weil sie eben materiell nichts oder wenig Blendendes hat.
Aber unser Institut hatte schon in der Kolonialzeit laut Statuten das Ziel, eine breite Forschung an ‚Mensch und Natur‘ im damaligen Kolonialbesitz Belgiens anzuregen, zu koordinieren und vor allem selbst zu betreiben. Wie kann man da gewissermaßen alle Fenster ins afrikanische Land hinaus staubsicher abdichten und dahinter mit unsicherem Geschmack ein monumentales Denkmal feudalistischer Reminiszenzen an die belgische Heimat errichten? Auch das spät entdeckte Gemälde war ja nur zu deutlich dieses Geistes Kind. Dieses Heimweh nach seigneurialer Pracht dürfte im Heimatland, in der Atmosphäre wachsenden Sozialbewußtseins, schon damals un-zeitgemäß, wenn nicht sogar anrüchig gewesen sein. Hier konnte man sich ihm noch ungehindert hingeben, gerade im Kivuhochland, das eine Hochburg des belgischen Adels geworden war.
Aber es zeugt doch von beängstigender Enge, daß das neue Land in diese Prachtentfaltung nur in der Darstellung psychisch verkrüppelter ‚Eingeborener‘ einging. Eins der zahlreichen Kunstwerke kongole-sisch-zairischer Völker, die zum Besten gehören, was Schwarzafrika hervorgebracht hat, hätte doch wenigstens mit von der Partie gewesen sein können.
Wie dem auch sei, mit Forschung hat dieser ganze Aufwand sowieso nichts zu tun. Sie ist glücklicherweise nicht vergessen worden. Hier konnte man wissenschaftlich arbeiten. Es gab geophysikalische, biologische und medizinische Labors, die bis zur Unabhängigkeit reichlich, um nicht zu sagen: verschwenderisch ausgestattet waren. Es gab eine kleine Forschungsklinik für unterernährte Kinder und eine umfangreiche Bibliothek, die, so hieß es, bis 1960 die größte Schwarzafrikas außerhalb der Südafrikanische Union gewesen ist. Sie war zum Mindesten auf den Gebieten auf dem Laufenden, auf denen jemand am Institut gearbeitet hatte. Es gab gut ausgestattete Werk-stätten, Garage, Schreinerei, Klempnerei, Feinmechanik und einiges andere. Sie waren im unabhängigen Kongo-Zaire noch notwendiger, als sie in der Kolonie gewesen waren. Ohne sie hätte man sich noch mehr an den Schwierigkeiten des Landes aufgerieben, als man es ohnehin schon tat. Es gab ja nicht einmal ein öffentliches Verkehrs-mittel, mit dem man vielleicht, sehr vielleicht solche Werk-stätten in der nächsten Stadt hätte erreichen können. Man konnte sich freilich fragen, ob die Autonomie hätte soweit getrieben werden müssen, daß das Institut oben am Waldrand, gleich neben unserem Haus, eine ferme mit über hundert Stück Vieh besaß, darunter vierzig Kühen. Aber es ist natürlich angenehm, immer frische Milch und Butter, gelegentlich auch einmal Fleisch zu haben, und auf Umwegen, nämlich über die Versorgung der unterernährten Kinder in der kleinen Klinik, kam die Produktion der ferme ja auch der eigentlichen Arbeit des Instituts zugute.
Es war gewiß ein kostbares, wenn auch erschreckend kostspieliges Erbe, das dem jungen Staat mit der Unabhängigkeit in die Hand gefallen war. Kostspielig nicht zuletzt durch die weitläufige Behaglichkeit und geselligen Einrichtungen, die der Gründungs-direktor offenbar als unumgängliche Voraussetzungen für wissen-schaftliche Tätigkeit angesehen hatte: ein Gästehaus mit vielen über einen hübschen Park am Hang verstreuten Pavillons, fünfunddreißig Villen mit großen Gärten für die Europäer und für die Afrikaner wenigstens ein Angestelltendorf mit zahlreichen Häuschen, zwei Schulen, eine Krankstation, Klubhaus und zwei Kirchen – das alles will unterhalten sein. Es hat aber auch von jeher den nachkolonialen Machthabern imponiert, von denen sich nur wenige ein Bild der eigentlichen Aufgabe des Instituts machen konnten. Wer an den übertriebenen Luxus Hand anlegen wollte, stieß bei ihnen auf wenig Gegenliebe. Es war besser, nicht zu berechnen, wieviel Arbeiter und Angestellte am Institut auf einen Wissenschaft-ler kamen. Man hätte nur graue Haare davon bekommen, und än-dern konnte man es doch nicht.
Vor der Unabhängigkeit entfaltete das Institut eine rege wissen-schaftliche Tätigkeit. Freilich verführten die Möglichkeiten, sich innerhalb seiner Grenzen behaglich auszuleben, viele der europä-ischen Insassen und ihre Familien dazu, von der Umgebung kaum Notiz zu nehmen. Sie verließen das Institut sozusagen nur im Wagen, und lediglich, um sich auf eine andere Insel der europäischen Zivilisation zu begeben, in die Stadt oder zu Freunden auf eine Plantage.
Den Vogel schoß ein Flame ab, der bereits acht Jahre am Institut gearbeitet hatte, als wir ankamen. Er war noch nie auf einem ‚Eingeborenen‘markt gewesen. Er hatte noch nie den Fuß ins Stam-mesland gesetzt, das das Institut von allen Seiten umschloß. Er hatte abenteuerliche Vorstellungen über das, was hinter seinem Garten-zaun lag. Er war aufrichtig um unser Leben besorgt, als wir dort zwischen Bohnen und Bienenkorbhütten einen kleinen Spaziergang machten. Er hat auch in den nächsten zehn Jahren nicht gewußt, wie ein Sorghofeld aussieht, geschweige denn ein einheimisches Gehöft. Er ist in der ganzen Zeit, die wir am Institut verbracht haben, nie einen Schritt über seinen Gartenzaun hinausgegangen.