Читать книгу Die Steuersünder - Peter Mathys - Страница 11

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Michael Kellenberger führte seine Besucherin in sein kleines Konferenzzimmer. Sylvia Matter trug einen grünen Hosenanzug. Ihr Haar war braun gefärbt mit einem Stich ins Rötliche, kurz geschnitten und straff nach hinten gekämmt. Darunter traten starke Backenknochen hervor, und trotz eines sorgfältigen Makeups waren bei beiden Augen Krähenfüsse sichtbar, und tiefe Falten zogen sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln hinab. Die grauen Augen blickten streng, und das breite Gesicht wirkte gehetzt und müde. Der Anwalt schätzte sie auf Mitte vierzig.

Sie saß kerzengerade auf der Kante ihres Stuhls, die Unterarme auf den Tisch gestützt, und suchte nach einem Anfang. Sie sagte: «Danke, dass Sie mich so kurzfristig empfangen.»

Kellenberger lächelte schwach. «Das fiel mir leicht, als ich Ihren Namen und Ihr Stichwort hörte.»

«Sie haben meinen Mann bei einer Bank in Vaduz eingeführt und ihn bei einer geschäftlichen Angelegenheit beraten. Das stimmt doch?»

Der Anwalt schüttelte den Kopf. «Ja und nein. Ja, ich habe Herrn Matter bei der Universal Bank eingeführt; und nein, ich habe ihn nicht als Mandanten beraten. Wäre er mein Klient, wäre unser Gespräch bereits beendet. Warum kommen Sie zu mir, Frau Matter?»

Die Frau gab sich einen Ruck. «Mein Mann hat mich vor ein paar Tagen Hals über Kopf verlassen. Dabei vergaß er einen Umschlag mit Papieren der Bank aus Vaduz. Neben einem Brief der Direktion – darin werden Sie erwähnt – lagen drei Gutschriftanzeigen über fast vier Millionen Franken im Umschlag. Wir haben nicht so viel Geld, Herr Dr. Kellenberger. Ich möchte wissen, was los ist. Ich hatte gehofft, dass Sie mir dabei helfen. Unsere Ersparnisse betragen etwas über hunderttausend Franken. Und wir haben einen vierzehnjährigen Sohn, dem ich nicht erklären kann, weshalb sein Vater verschwunden ist. Das ist das Schlimmste an der ganzen Geschichte.»

«Steht auf den Belegen, woher die Zahlungen kommen?», fragte Kellenberger, weil ihm nichts anderes einfiel.

«Ja. Von einem Dr. Hubert Huber und einem Paul Regenass, beide aus Basel, ich habe sie im Telefonverzeichnis gefunden, und einer Plus-Minus AG.»

«Hm.»

Wie auf Knopfdruck spulte Kellenbergers Erinnerung den Film seiner Begegnungen mit Herbert Matter ab: die beiden Gespräche im Büro bei der Steuerverwaltung am Fischmarkt, die kurze Sitzung hier im selben Konferenzzimmer, in dem jetzt seine Frau nach Antworten suchte. Dann der Schock, dass seine Assistentin mit Matter gemeinsame Sache machte. Er fragte:

«Wissen Sie, warum Ihr Mann Sie verlassen hat? Eine andere Frau?»

Sylvia Matter schluckte. «Er hat gesagt, er halte es nicht mehr aus, er brauche endlich seine Freiheit. Ob eine Frau im Spiel ist? Ich weiß es nicht. Aber man kann es wohl nicht ausschließen, nach zwanzig Ehejahren, nicht wahr?»

«Nein, das kann man nicht.»

Der Anwalt versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er war froh, dass Matters Frau zuerst zu ihm gekommen war. Die Namen Regenass und Huber sagten ihm nichts. Aber offensichtlich waren sie ebenfalls erpresst worden. Wenn Sylvia Matter sie aufsuchte, flogen die Gaunereien ihres Mannes höchstwahrscheinlich auf. Es war unverkennbar, dass sie vor den großen Geldbeträgen Angst hatte.

Wenn sie Anzeige erstattete, ließen sich auch die Steuerhinterziehungen – er nahm an, dass Huber und Regenass sich in derselben Lage befanden wie er – nicht mehr geheim halten. Er begriff, dass seine Besucherin mit äußerster Sorgfalt zu behandeln war.

«Darf ich fragen, woher Sie meinen Mann kennen?», wollte sie wissen.

Kellenberger nickte. «Er ist für die Bearbeitung meiner Steuererklärungen zuständig.» Die Höflichkeit der Frau stand in krassem Gegensatz zur forschen Aufdringlichkeit ihres Mannes.

«Und wie kommt es, dass Sie ihn bei einer Bank in Vaduz einführten?»

«Er hat mich darum gebeten.»

«Um was geht es bei seinen Geschäften?» Die Frau zögerte, dann setzte sie leise hinzu: «Ich kann nicht glauben, dass alles mit rechten Dingen zugeht.»

«Ich verstehe Sie.»

Der Anwalt stand auf und trat zum Fenster. Die Abenddämmerung hatte eingesetzt und ließ den Fluss noch goldbraun und teilweise bereits dunkelgrau schimmern. Einige Lichter vom gegenüberliegenden Ufer spiegelten sich darin; es sah aus wie ein kleines Sternenmeer. Er dachte an seine Jugend, wie alles noch harmlos war, wie er als Student mit einem Buch an der Böschung des Flusses gelegen hatte, Vorlesungen, Zukunft und alles andere vergessend. Das Buch hieß «Die Weisheit des lächelnden Lebens» von Lin Yutang, einem chinesischen Philosophen. Das schönste Kapitel handelte vom Genuss guten Essens. Der Autor beklagte die Unsitte westlicher Männer, ihren Bauch mit einem Gurt einzuschnüren, wo doch die lose hängenden Gewänder der Chinesen der Entfaltung der Leibesfülle viel mehr Spielraum boten.

Kellenberger verscheuchte die Reminiszenz an eine entschwundene Zeit und wandte sich wieder seiner Besucherin zu. «Ich weiß teilweise, was geschehen ist», fuhr er fort, vorsichtig bemüht, nichts Unwahres auszusprechen. Dann drehte er sich um und erklärte, noch immer am Fenstersims lehnend:

«Es ist gut, dass Sie mich aufgesucht haben, Frau Matter. Ihre Vermutung ist leider berechtigt: Ihr Mann hat sich Gesetzwidrigkeiten zuschulden kommen lassen. Ich kenne allerdings noch nicht alle Einzelheiten. Ich schlage deshalb vor, dass wir ein weiteres Gespräch führen, sobald ich mehr weiß. Wichtig ist, dass Diskretion gewahrt bleibt. Wenn am falschen Ort geredet wird, droht verschiedenen Personen großes Ungemach, insbesondere auch den Herren Huber und Regenass. Ich bitte Sie deshalb, mit ihnen nicht in Kontakt zu treten. Jeder Schritt, der jetzt unternommen wird, kann falsch sein.»

Sylvia Matter hörte Kellenbergers Enthüllungen mit unbewegtem Gesicht zu, nur in ihren Augen flackerten Unruhe und eine Spur von Angst.

«Herbert wollte immer hoch hinaus», sagte sie schließlich. «Er war nicht zufrieden, mit sich nicht, mit seiner Arbeit nicht, und offenbar mit mir auch nicht. Dabei hatte er alle Aussicht, zum Abteilungsleiter befördert zu werden. Konrad Nägeli – das ist sein direkter Vorgesetzter – war ja bereits als Nachfolger des Amtsvorstehers vorgeschlagen. – Ach, das ist alles so unglaublich. Und so traurig. Wie geht es jetzt weiter?»

«Ich weiß es nicht», sagte der Anwalt. «Noch nicht.»

«Wann sollen wir uns wieder treffen?»

«Morgen Abend um dieselbe Zeit. Wissen Sie, wo Ihr Mann sich jetzt aufhält?»

«In einem kleinen Hotel. Er hat es mir gesagt. Wir sind übereingekommen, nach einiger Zeit zu überprüfen, ob die Trennung wirklich unabwendbar ist.»

In ihrer Stimme schwang plötzlich Hoffnung mit, ihr Gesicht hellte sich auf. Aber Kellenberger dachte an Tanja Goldstein; er bezweifelte, dass Matter je zu einer Versöhnung Hand bieten würde. Er musterte seine Besucherin, und insgeheim bewunderte er die Würde, mit der sie die Trümmer ihrer Ehe zu ordnen versuchte. Seine Exfrau Helen hatte ihn seinerzeit kurzerhand hinausgeworfen, als sie von seinem kurzen – und wie er heute noch glaubte: harmlosen – Techtelmechtel während ihrer Schwangerschaft erfuhr. Jetzt aber quälte ihn vor allem die Frage, wie viele Informationen er Sylvia Matter offenlegen durfte. War sie zuverlässig? Wie würde sie auf die Steuerhinterziehungen reagieren, die ihr Mann so rücksichtslos ausgenützt hatte? Was, wenn sie von Tanja erfuhr? Ob Huber und Regenass ebenfalls nach London zitiert worden waren? Ob er es riskieren durfte, mit ihnen in Verbindung zu treten?


Kellenberger folgte eher einem Impuls als einer rationalen Überlegung, als er in sein Arbeitszimmer zurückging. Er fand die Telefonnummern von Huber und Regenass auf Anhieb. Er entschied sich, mit dem Arzt zu beginnen. Aus dem Verzeichnis ging hervor, dass sich Praxis und Wohnräume im selben Haus befanden. Nach dem dritten Klingeln wurde abgenommen.

«Ja?» Die Stimme klang hart und ungehalten.

«Spreche ich mit Dr. Hubert Huber?»

«Ja. Und wer sind Sie?»

«Ein Bekannter von Herbert Matter. Sagt Ihnen dieser Name etwas?»

«Und ob, verdammt noch mal! Was wollen Sie? Ich habe nichts mehr.»

«Keine Sorge, ich will nichts von Ihnen», sagte der Anwalt. «Ich fürchte, wir befinden uns in derselben Lage, was Matter angeht. Haben Sie auch eine Einladung nach London erhalten?»

«In der Tat, auf nächsten Samstag.» Die Stimme des Arztes tönte weniger gereizt. «Aber ich würde jetzt schon gerne wissen, mit wem ich spreche.»

«Klar.» Kellenberger stellte sich vor und schloss: «Sie verstehen, dass man sich nicht leichthin jemandem als Steuersünder, der erpresst wird, zu erkennen gibt.»

Jetzt lachte der Arzt. «Allerdings. Und wie sind Sie eigentlich auf mich gestoßen?»

«Durch eine Nachlässigkeit von Matter. Purer Zufall. Es gibt noch ein drittes Opfer. Ich habe vor, ihn ebenfalls zu kontaktieren. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ihm von Ihnen erzähle?»

«Nein, aber bitte zunächst ohne Namensnennung, so wie Sie unser Gespräch angefangen haben. Und dann sollten wir uns vermutlich treffen, um abzuklären, ob wir gemeinsam etwas gegen diesen Strolch unternehmen können.»

«Einverstanden», erklärte Kellenberger. «Ich rufe nochmals an, sobald ich mit dem anderen Herrn geredet habe.»

Das Gespräch mit Paul Regenass verlief ebenso reibungslos. Man kam überein, sich am Donnerstagabend um sieben Uhr im Büro des Anwalts zu treffen. Zufrieden räumte Michael seine Akten weg. Er freute sich auf sein Abendessen im «Goldenen Sternen».

Sein Stammplatz war noch frei. Die Oberkellnerin Lucie, eine zierliche Elsässerin mit einem hellen Kinderstimmchen, brachte ihm die Karte. Er entschied sich für eine Kalbsconsommé, danach Riesenkrevetten mit Reis und grünem Blattsalat, dann bat er um eine Zeitung. Matter und seine Gaunereien waren in den Hintergrund gerückt; allein schon die Kontaktaufnahme mit seinen beiden Leidensgenossen linderte den Druck, der seit Tagen auf seiner Seele lag.

«Möchten Sie einen Schluck Wein zum Essen?», fragte Lucie, während sie die Zeitung auf den Tisch legte.

«Gerne, was schlagen Sie vor?»

«Wir haben einen weißen Villa Antinori, der ausgezeichnet zu den Krevetten passt.»

«Also, dann bringen Sie mir einen Dreier.»


Am Dienstagabend hatte Matter seine Zweizimmerwohnung eingerichtet. Die wenigen gebrauchten Möbel waren schnell hingestellt, die paar Lampen aus dem Einkaufszentrum rasch aufgehängt. Freude bereitete ihm eine Biedermeierkommode, die er in einem Antiquariat gefunden hatte. Er platzierte sie prominent im Eingang, die Wand darüber dekorierte er mit einem alten Ölgemälde mit einer englischen Jagdszene aus demselben Antiquariat. Tanja half ihm und beschrieb dabei ihr Kündigungsgespräch mit Kellenberger. Ob dieser wohl etwas ahne von ihrer Verbindung, wollte Matter wissen. Es sei schwer zu glauben, dass er genau jetzt seine Berufstätigkeit einschränke, wo er einen massiven Mittelabfluss hinzunehmen hatte. Dazu lachte er sein grelles Lachen; es klang wie das Bellen eines Foxterriers. Tanja hatte nur die Achseln gezuckt, es war ihr egal.

«Ich bin jetzt ganz dir ausgeliefert», hatte sie erklärt. «Die Ära Kellenberger ist für mich abgeschlossen.»

«Nicht ausgeliefert», hatte Matter protestiert. «Nicht ausgeliefert, mein Häslein. Aber wir sind jetzt auf einander angewiesen, verstehst du? Das ist ein Unterschied.»

«Ja.»

Dann hatte er ihr über die Gründung der Alpaka-Stiftung berichtet und dass sie beide dem Stiftungsrat angehören sollten. Wegen lästiger Formalitäten konnte das Vermögen nicht mehr vor der Reise nach Neuseeland auf die Stiftung übertragen werden. Tanja bereitete zwei Tassen Kaffee und trug sie ins kleine Wohnzimmer. Sie trat ans Fenster mit Blick auf eine stark befahrene Kreuzung. Ihre eigene Wohnung hatte Aussicht ins Grüne, in der Ferne sah man den Waldrand, und es gab keinen Verkehrslärm. Dort war es schön, und sie konnte sich entspannen. Sie versuchte sich Neuseeland vorzustellen und Herbert auf einer Farm, wie er sich mit Tieren beschäftigte, von denen er nichts verstand. Sie zweifelte, ob dieser Nachteil mit Geld allein wettzumachen war. Oder ob Matter nicht doch einfach Fluchtgedanken hegte und sein Ziel nicht weit genug entfernt sein konnte. Zuletzt kam es ihr unwahrscheinlich vor, dass er sich innert nützlicher Frist von seiner Frau scheiden lassen und sie heiraten würde. Und wenn er sie fallen ließ – was für eine Zukunft stand ihr bevor mit fünfunddreißig Jahren? Eine neue Stelle als Sekretärin in einem langweiligen Büro mit jüngeren Kolleginnen, denen das Leben mit allen Verrücktheiten noch offen stand. Was für Männer würden sich noch für sie interessieren? Über Fünfzigjährige mit viel perverseren Wünschen als Matter, der bloß seinen sexuellen Nachholbedarf bei ihr auslebte. Schließlich ging ihr durch den Kopf, dass sie nach wie vor eine Vollmacht über sein Konto in Vaduz besaß.

Die Steuersünder

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