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An diesem schönen Märzmorgen war es Rechtsanwalt Michael Kellenberger nicht ums Arbeiten. Sein Fenster ging auf den Rhein, und er sah, wie die Sonne goldbronzene Spiegelsplitter aufs Wasser zauberte, die ständig aufeinander zu trieben, ohne sich je zu vereinen. Die Fähre war bereits in Betrieb und brachte erste Fahrgäste ans andere Ufer.

Tanja, seine Assistentin, hatte ihm die Post gebracht, geöffnet, mit dem Eingangsstempel versehen, in einer Mappe sauber geordnet. Daneben lag die Zeitung. Er schob die Mappe beiseite und griff nach der Zeitung.

Neue Schwierigkeiten der größten Schweizer Bank in den USA. Pädophile Priester, die sich an ihren Chorknaben vergriffen. Weitere Schlagzeilen; lauter Probleme ohne Lösungen, Kellenberger wollte nichts davon wissen, er stopfte die Zeitung in den Papierkorb.

Auf dem Rhein zog jetzt ein Tankschiff flussabwärts. Das Heck liess eine Furche aufgewühlten Wassers zurück, der schwarzweiße Kamin glänzte im Sonnenlicht. Der Anwalt schaute zu, wie das Schiff unter der Mittleren Brücke verschwand, und er dachte, wie schön es wäre, jetzt an nichts zu denken.

Als das Telefon läutete, nahm er ab, ohne den Blick vom Wechselspiel der Farben im Fluss abzuwenden.

«Ein Herr Matter», meldete Tanja.

«Was will er?»

«Mit Ihnen persönlich sprechen.»

«Dann verbinden Sie bitte.» Als es klickte, sagte er höflich neutral: «Kellenberger.»

«Matter, von der Steuerverwaltung. Spreche ich mit Rechtsanwalt Dr. Michael Kellenberger?»

«Ja. Was kann ich für Sie tun?»

«Ich bin für die Kontrolle und Veranlagung Ihrer Steuererklärungen zuständig», fuhr Matter fort. «Es gibt da einige Fragen, die geklärt werden müssen.»

«Bitte sehr – schießen Sie los», antwortete der Anwalt, immer noch gut gelaunt.

«Ich fürchte, das ist zu kompliziert für ein Telefongespräch», erklärte Matter. «Es wäre gut, wenn Sie in den nächsten Tagen bei uns vorbeikommen könnten.»

«Wenn Sie meinen …»

Sie fanden rasch einen Termin; nächsten Donnerstag, drei Uhr nachmittags. Der Anwalt legte die Agenda weg und lehnte sich zurück. Eine Wolke war vor die Sonne gekrochen. Der Tag war nicht mehr schön. Kellenberger blätterte abwesend in der Postmappe.

Was, zum Teufel, wollte der Steuerheini von ihm?

Zum Gespräch am Donnerstag nahm Kellenberger die Kopie seiner letzten Steuererklärung mit. Das Rathaus am Marktplatz strahlte frisch renoviert in leuchtendem Rot. Dort wurde das Steuergesetz ausgebrütet und alle paar Jahre revidiert. Verschiedene seiner Berufskollegen saßen dort im Parlament. Kellenberger überlegte, wen er um Hilfe angehen konnte, falls dieser Matter schwierig werden sollte.

Die Steuerverwaltung belegte mehrere Stockwerke in einem Bürogebäude an einem kleinen Platz, der sinnig Fischmarkt hieß. Kellenberger stellte sich vor, wie vor hundertfünfzig Jahren feiste Händler mit roten Backen ihre stinkende Ware auf Holztischen feilboten und wie die Dienstmädchen mit ihren weißen Häubchen aus dem zappelnden Angebot in den Blecheimern die schönsten Felchen oder Regenbogenforellen aussuchten und zusahen, wie der Verkäufer ihnen die Köpfe abhackte.

Er fand Matter in einem kleinen Büro hinter einem großen Schreibtisch mit einem Seitentisch für den Computer. Das Pult war aufgeräumt; er sah nur zwei Aktenstapel und die Rückseite einer postkartengroßen Fotografie mit Silberrahmen. Die Wand gegenüber wurde von Metallschränken eingenommen, und hinter Matters Rücken hing ein großer Farbdruck aus dem Staatlichen Kunstkredit; er zeigte den Rhein mit der ältesten Brücke im 19. Jahrhundert. Originale gab es erst ab Stufe Abteilungsleiter. Dem Büro fehlte jegliche Harmonie, keine Zimmerpflanze rettete das Ambiente. Der einzige sympathische Gegenstand war die Fotografie; Kellenberger war neugierig auf das Bild, das ihm verborgen blieb.

«Herr Dr. Kellenberger, bitte nehmen Sie Platz», begrüßte ihn Matter und wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Lachend fügte er bei: «Danke, dass wir so rasch einen Termin finden konnten.»

Kellenberger mochte Leute nicht, die schon bei der ersten Begegnung ohne ersichtlichen Grund lachten. Er fragte: «Also, Herr Matter, womit kann ich Ihnen dienen?»

Der Beamte klopfte auf eines der beiden Aktenbündel auf seinem Tisch. «Es gibt da einige Fragen zu Ihrer letzten Steuererklärung.»

«Ja, bitte?»

«Wir haben eine Meldung von der Fürstlichen Steuerverwaltung in Vaduz erhalten. Danach bezahlte Ihnen eine liechtensteinische Aktiengesellschaft mit dem interessanten Namen Plus-Minus AG Verwaltungsratshonorare, in den beiden letzten Jahren je 10 000 Franken. In Ihrer Steuererklärung finde ich nichts darüber. Können Sie sich dazu äussern?»

Die kräftige Stimme kam aus einem rundlichen Gesicht mit hellblauen Kulleraugen. Eine hohe Stirne ging über in eine Halbglatze; die verbleibenden braunen Haarbüschel waren straffnach hinten gekämmt. Eine graue Jacke mit Fischgrätemuster, sie war nicht zugeknöpft, enthüllte einen Bauchansatz; darüber baumelte eine orange Krawatte mit Kürbismuster.

«Ich muss das in der Buchhaltung überprüfen», antwortete der Anwalt schließlich. «Plus-Minus AG stimmt. Es kann sein, dass die Position mir beim Ausfüllen entgangen ist. Sie wissen ja, wie das ist.»

«Nein, ich weiß nicht, wie das ist, Herr Dr. Kellenberger», erwiderte Matter. Er lachte wieder. «Wem gehört denn diese Gesellschaft? Einem Mandanten?»

Der Anwalt zögerte, dann nickte er. Matter war sein Zögern nicht entgangen. Wer der Mandant sei, dürfe er ihm vermutlich nicht sagen. Kellenberger schüttelte den Kopf. «Aber», fuhr Matter fort, «um was für eine Art von Gesellschaft es sich handelt, sollte ich schon wissen. Falls Sie damit Probleme haben, kann ich mir die Unterlagen von Vaduz direkt besorgen. Das würde doch schon etwas Licht in die Affäre bringen.»

Matter machte eine Pause. Das Wort «Affäre» gefiel dem Juristen nicht. Es deutete Weiterungen an, Abgründe, die sich noch nicht ansatzweise ausloten ließen. Matter war ein kluger Verhandler. Um Zeit zu gewinnen, sagte Kellenberger: «Ja, ich verstehe.»

«Das ist sehr gut, Herr Dr. Kellenberger.» Matter lehnte sich entspannt zurück. Ein sonniges Lächeln glitt über sein Mondgesicht. Dann beugte er sich nach vorne und zwinkerte mit den Augen. «Oder könnte es gar sein, dass vielleicht Herr Dr. Kellenberger selber der Mandant ist?»

Sollte das der Fall sein, so müsste es natürlich in Ordnung gebracht werden, fuhr er nachdenklich fort. In Dr. Kellenbergers eigenem Interesse. Er schlage eine weitere Besprechung vor. Es wäre viel einfacher, wenn der Herr Doktor die Bilanzen selber mitbrächte, weniger Umtriebe für alle Beteiligten, eine günstigere Erledigung, und so weiter.

Sie vereinbarten ein nächstes Treffen. Kellenberger realisierte, dass er bis zum Hals in der Tinte steckte.


Am Dienstag strahlte die Morgensonne über Matters Schreibtisch bis hinüber zur Aktenwand. Das Buchenholz der Tischplatte glänzte; Kellenberger sah darauf nur eine einzige Akte, und das Foto drehte ihm immer noch den Rücken zu. Matter trug jetzt eine hellbeige Jacke, ein marineblaues Hemd, eine knallgelbe Krawatte und dunkelblaue Hosen. Er lächelte verbindlich, als er Kellenberger Platz anbot.

«Nun», begann er, «haben wir diese Unterlagen?»

«Ja. Hier.»

Während Matter die Zahlen studierte, musterte Kellenberger sein Gesicht. Seine feisten Wangen glänzten rötlich, man sah kaum Bartspuren. Eine kurze Stupsnase ließ das Gesicht flach erscheinen, und aus den Nasenlöchern standen dunkle Härchen hervor. Der Mund war klein, umrahmt von schmalen, farblosen Lippen. Seine blassblauen Augen starrten intensiv, fast böse auf das Papier.

«Also», sagte Matter nach langen Minuten. «Da geht es ja um wesentlich mehr als bloß einige Verwaltungsratshonorare. Plus-Minus AG verfügt über Wertschriften von mehr als vier Millionen Franken; allein im letzten Jahr wurden über zwei Millionen einbezahlt. Woher stammen diese Zahlungen, Herr Doktor?»

«Zum größten Teil von Geschäftsleuten aus Litauen, zum kleineren Teil aus der Schweiz.»

«Aha.» Matter lächelte verbindlich, dann holte er zum entscheidenden Schlag aus. «Also nochmals, Herr Doktor: Gehört diese Gesellschaft Ihnen?»

Kellenberger versuchte, klar zu denken. Wenn er verneinte, konnte Matter in Vaduz nachfassen. Er brauchte dort bloß einen Amtskollegen ein wenig besser zu kennen, und schon funktionierte die informelle Amtshilfe. Kellenberger hatte gepfuscht. Wenn er jedoch alles gestand, bestand die Möglichkeit, über die Höhe der unvermeidlichen Nach- und Strafsteuern zu verhandeln. Matter hatte im ersten Gespräch selber von einer günstigeren Erledigung geredet.

Kellenberger schluckte. «Ja», sagte er.

Matter wiegte den Kopf hin und her. «Das ist eine heikle Angelegenheit. Als Anwalt wissen Sie, Herr Kellenberger», jetzt ließ er den Doktortitel weg, «dass da mit beträchtlichen Nach- und Strafsteuern zu rechnen ist.»

«Ja.»

«Bei vier Millionen», dozierte Matter, «verteilt auf, sagen wir, drei Jahre, ist für die Nachsteuer bei der Bundessteuer und der kantonalen Steuer und für die Strafsteuer mit bis zu neun Millionen Franken zu rechnen. Plus Verzugszinsen natürlich.»

Jetzt machte Matter eine Pause. Seine Kugelaugen fixierten sein Gegenüber; zweifellos wollte er beobachten, was seine kleine Rechnung auslöste. Vielleicht erwartete er, dass Kellenberger zusammenbrach und anfing, um Milde zu betteln. Aber der Anwalt schwieg einfach.

Der Raum um ihn herum, Matter, das Pult, das Fenster mit dem Blick ins Freie verschwammen. Stattdessen flimmerte wie ein Film seine Lebenssituation über einen inneren Bildschirm. Sein Vermögen erreichte bei weitem nicht Matters neun Millionen. Er war geschieden und hatte seiner Ex noch während Jahren Alimente in astronomischer Höhe zu zahlen. Dass die ausfallen würden, erfüllte ihn mit bitterer Befriedigung. Seine beiden Töchter hatten sich auf die Seite ihrer Mutter geschlagen und mieden ihn seit Jahren, als hätte er die Beulenpest. Also brauchte es ihm nicht leidzutun, wenn er ihnen kein Erbe hinterließ.

In dieser kurzen Schweigeminute wurde ihm klar, dass er ein ziemlich unnützes Leben führte. Da war nicht einmal eine feste Freundin, für die er sich ein wenig verantwortlich fühlen konnte. Und seine Haushälterin aus dem nahen Elsass fand ohne weiteres eine neue Stelle, wenn das Geld für ihren Lohn nicht mehr reichte.

Endlich ergriff Matter wieder das Wort. Er schien zu ahnen, dass er lange auf eine kluge Bemerkung warten konnte. Wenn man in Betracht ziehe, begann er, dass Herr Kellenberger die Unterlagen freiwillig vorgelegt und eingeräumt habe, dass die Gesellschaft ihm gehöre, komme das einer Selbstanzeige recht nahe. Da könne man sich eine stattliche Reduktion der Strafsteuer auf vielleicht das Doppelte der hinterzogenen Steuer vorstellen. «Das macht dann noch knapp fünf Millionen.»

«Also spare ich vier Millionen», sagte Kellenberger, um nicht weiter schweigen zu müssen. «Vielleicht könnte man die Strafsteuer in Anbetracht des hohen Betrages weiter reduzieren auf das Anderthalbfache.»

«Möglich – alles möglich», nickte Matter. Sachlich fuhr er fort: «Es besteht natürlich auch die Möglichkeit, eine solche Schuld in Raten abzuzahlen.»

«Klar, wer kann schon fünf Millionen aus der Schublade ziehen!»

«Eben.» Matter versank wieder in Nachdenken. «Oder – ganz theoretisch – man könnte sich eine unbürokratische Regelung vorstellen, die wesentlich weniger kosten würde.»

«Wie denn das?», fragte der Anwalt, neugierig geworden. Die Verwaltung von Basel war nicht bekannt für unbürokratische Lösungen.

Matter lehnte sich zurück und fingerte an seiner Krawatte.

«Wie wäre es denn –», Matter richtete seinen Blick zur Zimmerdecke, «wenn Herr Kellenberger oder die Plus-Minus AG jemandem ein Darlehen über zwei Millionen einräumen würde, rückzahlbar in fünf Jahren. Die böse Meldung der Fürstlichen Steuerverwaltung aus Vaduz könnte ja in der Post verloren gegangen sein, das kommt immer wieder vor. Dann wäre das ganze Thema bei uns hier vom Tisch, und der Darlehensgeber hätte nochmals drei Millionen gespart.»

Kellenberger verstand ihn sofort. Diese Sprache kannte er von seinen litauischen Klienten.

«Kommen Sie zu mir in die Kanzlei», sagte er. «Dann regeln wir die Einzelheiten.»

Die Steuersünder

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