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Die Erfindung des Ariers als Kulturbringer

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Der Drang zur Klassifizierung der Gattung Homo sapiens wuchs während der europäischen Aufklärung, da man es offensichtlich auch im Reich der Tiere mit höheren und niederen Kreaturen zu tun hatte. Carl von Linné veröffentlichte 1735 sein Grundlagenwerk zur biologischen Klassifikation. Der Mensch war dort eingefügt, aber noch nicht in unterschiedliche Rassen geteilt. Die Fortsetzung einer solchen zoologischen Systematik unter den Menschen erschien bald nur zu logisch und zwingend. Der Göttinger Anthropologe Johann-Friedrich Blumenbach sprach 1775 in Anlehnung an Linné als Erster von den „fünf großen Rassen“ und prägte auf lange Zeit die entsprechende Terminologie. Er tappte dabei aber auch gleich in die Falle der Bewertung, hier etwa durch Ästhetisierung der weißen Rasse:

„Dieser Variante habe ich den Namen des Kaukasus-Gebirges gegeben, weil in dessen Nachbarschaft die schönste Menschenrasse lebt … und wenn es möglich ist, die Wiege der Menschheit zu bestimmen, dann sprechen alle physiologischen Gründe für die Annahme, daß sie dort gestanden ist … die Haut der Georgier ist weiß … aber sie entartet leicht zu einer schwärzlichen Farbe.“1

Fast zeitgleich verfasste der mindestens so einflussreiche Immanuel Kant seine Anthropologie, bezog die Rasse auf die „Zusammensetzung des Blutes“ und formulierte dabei Gedanken, die bald in einen politischen Rassismus münden sollten: „So viel ist wohl mit Wahrscheinlichkeit zu urtheilen: daß die Vermischung der Stämme, welche nach und nach die Charaktere auslöscht, dem Menschengeschlecht, alles vorgeblichen Philanthropismus ungeachtet nicht zuträglich sei.“2 Einer der wenigen Denker der Aufklärung, der sich diesen Konzepten entgegenstellte, war übrigens Alexander von Humboldt, der gegen die „unerfreuliche Annahme von höheren und niederen Menschenrassen“ argumentierte – aber in der Minderheit blieb. Ähnliche Gedanken wie bei Blumenbach und Kant wurden parallel auch in England und Frankreich formuliert.

Diese vorherrschende Rassentheorie sollte bald zu einer bewertenden Klassifizierung der Menschengruppen anhand ihrer äußeren Merkmale führen. Äußere Merkmale waren dabei nicht nur körperliche wie etwa die Hautfarbe, sondern auch das geographische Verbreitungsgebiet oder die Herkunft/Abstammung. Entscheidend bleibt, dass alle Klassifizierungssysteme immer hierarchisierende, wertende Urteile fällten über eben höherstehende und minderwertige Rassen.

Zu diesem sich entwickelnden anthropologischen Rassismus gesellte sich dann bald das Konzept der „Arier“, welches allerdings aus einer anderen geistesgeschichtlichen Quelle sprudelte. Seitdem der indische Subkontinent zum britischen Empire gehörte, beschäftigten sich abendländische Intellektuelle verstärkt mit indischer Geistesgeschichte. Es dauerte nicht mehr lange, bis Philologen auf frappierende Ähnlichkeiten des altindischen Sanskrit mit Idiomen in Europa stießen. Die naheliegenden Schlussfolgerungen muteten revolutionär an: Wenn neue und alte europäische Sprachen sich aus den gleichen Quellen herzuleiten schienen wie das Sanskrit, musste man auch von einer Verwandtschaft der sie sprechenden Völker ausgehen. Germanen, Kelten, Italiker, Angelsachsen – keine Nachfahren der alttestamentarischen Sippen, sondern Verwandte der Völker, die an den Südhängen des Himalaya die Grundlagen der indischen Hochkultur und der Religionen des Hinduismus und Buddhismus legten?

Dieses Szenario erschütterte alte Gewissheiten des Abendlandes. Und keiner formulierte diese neuen Gedanken so zwingend wie der deutsche Philosoph und Philologe Friedrich Schlegel: „Alles, absolut alles kommt aus Indien … So finden wir den Gedanken nicht zu ungeheuer, daß die größten Nationen von einem Stamme ausgegangen; daß sie Kolonien eines Volkes, wo nicht unmittelbar, so doch mittelbar indische Kolonien seien.“3 Und wer war nun dieses mysteriöse Volk aus dem fernen Indien? Da sprach ein englischer Gelehrter bald von „Indoeuropäern“, ein deutscher von „Indogermanen“, aber Schlegel selbst brachte dann den Begriff „Arier“ auf. Er setzte sich durch und begann seine sehr eigene Karriere.

Auch andere Denker und Autoren ergriff der Gedanke, nicht zwischen Ägypten und Jerusalem lägen die Ursprünge von Religion und Wissenschaft, sondern vielmehr in der Frühzeit Indiens. Voltaire schrieb: „Ich bin überzeugt, daß alles von den Ufern des Ganges herkommt: Astronomie, Astrologie, Seelenwanderung usw.“ Und Johann Gottfried Herder postulierte: „Der feste Mittelpunkt des größten Weltteils, das Urgebirge Asiens, hat dem Menschengeschlecht den ersten Wohnplatz bereitet.“ Funde von versteinertem Meeresgetier in großen Höhen ließen Spekulationen über die große Sintflut aufleben und fragen: Sollte man dann nicht die Ursprünge der Menschheit auf den höchsten Gebirgen suchen? Immanuel Kant wagte sich dabei so weit vor zu behaupten, dass in Tibet als höchstgelegenem Land der Erde die Ursprünge der Menschheit zu suchen wären, „der Urplatz der Künste und Wissenschaften“. „Es ist dieses das höchste Land, wurde wahrscheinlich auch früher als irgendein anderes bewohnt und mag sogar der Stammsitz aller Kultur und Wissenschaft sein.“ Meyers Conversations Lexikon von 1853 wusste ebenfalls: „Von Tibet und den benachbarten Ländern, als dem eigentlichen Hochasien, soll nach Annahme mehrerer Geschichtsforscher das Menschengeschlecht ausgegangen sein.“

In den Diskussionen der folgenden Jahrzehnte wanderte die angenommene Urheimat der besagten Arier je nach wissenschaftlichem Standpunkt oder politischen Opportunitäten zwischen Nordindien, den weiten Steppen Südrusslands bis hin nach Skandinavien und in die norddeutsche Tiefebene. Aber der verbreitete Konsens lautete: Die weißen Völker besitzen eine gemeinsame Urheimat und Ursprache, sind Angehörige einer Rasse, und die wiederum ist gleichzeitig Träger einer überlegenen Kultur, der „arischen“. Der Weg zum Herrenrasse-Anspruch war nicht mehr weit.

Nazis in Tibet

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