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DER VERSCHWIEGENE VORTEIL DER BRITEN
ОглавлениеDen überzeugendsten empirischen Beweis für die katastrophale, von Deutschland initiierte Wirtschaftspolitik der EU liefert das Land, dem man eine Katastrophe vorhersagt, weil es die EU verlässt: Großbritannien.
Die wirtschaftliche Entwicklung Großbritanniens beweist nämlich, wie vorteilhat es ist, sich so weit wie möglich von der EU-Wirtschaftspolitik abzukoppeln. Denn eben das hat Großbritannien getan: Es ist dem Sparpakt nicht beigetreten. Und es hat seine eigene Währung und seine eigene Zentralbank beibehalten. Indem es so gehandelt hat, hat es sich das Missmanagement des Euro durch Merkels Sparpakt ebenso erspart wie dessen Missbrauch durch Deutschlands Lohndumping. Das hat den Briten eine wirtschaftliche Entwicklung beschert, die, anders als die der beiden anderen großen „alten“ EU-Volkswirtschaften Frankreich und Italien, eine vergleichsweise hervorragende war.
Die wirtschaftliche Entwicklung des United Kingdom
Quelle: The World Bank
2009, nach dem Absturz durch die Krise, lagen die realen BIP pro Kopf von Frankreich (36.324 USD), United Kingdom (36.042 USD) und Italien (35.710 USD) noch relativ nahe beisammen. Aber ab 2009 bewegte sich das britische BIP kontinuierlich nach oben und überholt 2013 das ursprünglich knapp höhere BIP Frankreichs, das durch Sparpakt und Marktanteilsverluste an Deutschland gebremst wird. Bis 2017 wächst der britische Vorsprung auf 1148 US-Dollar, obwohl die Diskussion um den Brexit die britische Wirtschaft zweifellos in Mitleidenschaft gezogen hat. Der Abstand des United Kingdom zu Italien vergrößerte sich von nur 332 US-Dollar im Jahr 2009 gar auf gewaltige 4533 US-Dollar pro Kopf im Jahr 2017. Als einziges Land der EU erholt sich das „United Kingdom“ nach der Finanzkrise sogar kontinuierlicher als Deutschland, das fortgesetzt von seinem Lohndumping profitiert, aber vom Sparpakt gebremst wurde.
Es scheint mir angebracht, an dieser Stelle kurz zu resümieren. Ich glaube anhand überprüfbarer Daten bisher Folgendes nachgewiesen zu haben:
1. Die Erholung Frankreichs, Italiens oder Österreichs wurde durch den Sparpakt jeweils massiv eingebremst.
2. Griechenland beweist nicht den Erfolg, sondern den totalen Misserfolg des deutschen Rezeptes wirtschaftlicher Sanierung.
3. Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung war jeweils deutlich besser als die aller anderen EU-Volkswirtschaften, insbesondere der hier genannten. Dafür bieten Marktanteilsgewinne durch verringerte Lohnstückkosten deutscher Unternehmen dank der seit Gerhard Schröder geübten „Lohnzurückhaltung“ die mit Abstand plausibelste Erklärung.
4. Großbritannien, das beide Entwicklungen vermied, indem es sich dem Sparpakt nicht anschloss und indem es seine eigene Währung und Nationalbank behielt, so dass es sich durch Abwertung des Pfund gegen das deutsche Lohndumping wehren konnte, bestätigt 1. und 2. indem es sich wirtschaftlich ungleich besser, ja um nichts schlechter als selbst das lohndumpende Deutschland entwickelt hat. Die Abkoppelung von der Wirtschaftspolitik der EU hat Großbritannien also zumindest vorerst gewaltige mess- und nachprüfbare Vorteile beschert. (Und könnte dem Land in Zukunft noch weitere bescheren, weil sich Theresa Mays neuer Schatzkanzler Philip Anthony Hammond für mehr Investitionen des Staates und eine Erhöhung der Mindestlöhne entschieden hat und damit noch deutlicher gegen die kontraproduktiven, von Deutschland vorgegebenen Maximen der Euro-Wirtschaftspolitik verstößt.)
Für die Thesen meines Buches sind dies die entscheidenden Ergebnisse.
Was wird aus dem Brexit?
Darüber, wie es mit dem Brexit weitergeht, kann und will ich hier nur spekulieren. Entschieden ist so lange nichts, als man eine Volksabstimmung über den „Exit aus dem Brexit“ nicht ausschließen kann, und bei Redaktionsschluss dieses Buches (am 20. Jänner 2018) konnte man das nicht.
Für mich ist britisches Verhalten am besten aus einer angeblich wahren (vielleicht auch nur gut erfundenen) Überschrift der Londoner Times zu erahnen: “Terrible fog on the channel – the continent has been separated.”
Im Hinterkopf britischer Politiker wohnt unverändert das Bewusstsein, ein „Weltreich“ zu vertreten, das allen anderen Weltreichen der Geschichte wirtschaftlich wie politisch weit überlegen war. Aus Brüssel auch nur mitregiert zu werden war für die Briten daher immer schwierig und sie haben sich der EWG entsprechend lange nicht angeschlossen. Die Tories deshalb nicht, weil man den Hinterkopf bei gesteiften Krägen besonders hoch trägt, und Labour, weil unter ihren Führern stets auch sehr „linke“ waren, die in der Europäischen Gemeinschaft, wie heute Jeremy Corbyn, eine Gemeinschaft der „Konzerne“ sehen. (Abseits der vom Kreml geforderten „Neutralität“ führte auch Bruno Kreisky Österreich deshalb nicht in die EWG, sondern zog es vor, der EFTA als bloßer Freihandelszone beizutreten.)
Dass die EFTA-Mitglieder England, Österreich oder Schweden letztlich doch zur EWG wollten, hatte einen einzigen Grund: Die EWG erwies sich als wirtschaftlich ungleich erfolgreicher.
Ich kann leider nicht behaupten, dass auch die aktuelle EU ein wirtschaftlich besonders erfolgreiches Modell ist: Auf den bisherigen Seiten habe ich begründet, warum ihr Sparpakt und die deutsche „Lohnzurückhaltung“ ökonomisch denkbar kontraproduktiv sind. Großbritannien hat aber – siehe oben – beide Fehler vermeiden können: Anders als Frankreich oder Italien war es in der aktuellen EU daher wirtschaftlich vergleichsweise gut aufgehoben. Es profitierte vom gewaltig vergrößerten Markt und genoss darüber hinaus bei seinen Beitragszahlungen zum EU-Budget den von Margaret Thatcher abgepressten „Britenrabatt“, der sicherstellte, dass diese Zahlungen stets relativ niedriger als die anderer Nettozahler waren. Gleichzeitig erschloss die EU-Mitgliedschaft der einzigen wirklich starken britischen Industrie, der Geldindustrie, einzigartige Gewinne auf einzigartiger Basis: Die City of London untersteht dank eines historischen Vorrechts nicht in allen Bereichen der britischen Steuergesetzgebung, und so konnte sich dort mittels eine Geflechts von Steueroasen, die von den Caymaninseln über Bermuda bis Gibraltar reichen, die größte Steuervermeidungszone der Welt etablieren.
Es kann die Briten daher einen nicht unerheblichen Teil der aus dieser gigantischen Steuerfreizone resultierenden alljährlichen Milliardengewinne kosten, wenn es wirklich zum totalen, ungeordneten Austritt aus der EU kommt – das ist in Wahrheit ihr entscheidendes Risiko. (Großbritanniens sonstige Industrie wird auf längere Sicht im einstigen Empire genügend neue Absatzmärkte finden.)
Aus der City of London kommt denn auch begreiflicherweise der mit Abstand größte Widerstand gegen den Brexit. Dieser geballte Widerstand der „City“ ist es, der mich unverändert an einen geordneten, nicht so totalen Austritt Großbritanniens aus der EU glauben und eine Volksabstimmung für den Exit aus dem Brexit zumindest weiterhin für möglich halten lässt.
Im Gegensatz zu Theresa May und diversen politischen Beobachtern hielte ich diese neuerliche Abstimmung in keiner Weise für demokratiepolitisch bedenklich, sondern bin genau umgekehrt der Ansicht, dass jede Volksabstimmung ein zweites Mal stattfinden sollte, die nicht mit einem Abstand von mindestens zehn Prozent entschieden wurde. Denn gerade Volksabstimmungen über „große“ Fragen tragen – selbst bei den Schweizern, die sie gewohnt sind – die Gefahr großer Emotionalität in sich. Es ist nicht demokratiefeindlich, sondern demokratiefreundlich, das Volk nach einer Abkühlungsphase zu fragen: Nun kennt ihr die Konsequenzen eures Votums – wollt ihr die wirklich? Wenn das wiederholte Votum diese Frage bejaht, trifft das den Volkswillen mit wesentlich größerer Sicherheit. Die Kosten eines solchen zweiten Wahlganges sind unerheblich neben den Unkosten einer falschen Entscheidung.
Es gab in der Zeitschrift Profil ein Statut, das dieses Problem illustriert: Der Herausgeber sollte seinen Abschied nehmen müssen, wenn ihm die Redaktion das Misstrauen ausspricht. Obwohl ich nicht in die Lage eines solchen negativen Votums gekommen bin, habe ich das Statut in dieser Form immer für ungeeignet gehalten: Selbst erwachsene, politisch geschulte Redakteure sind nicht erhaben über die Emotion, die eine bestimmte Entscheidung ihres Chefs in einem bestimmten Moment hervorgerufen hat und sie wünschen lässt, ihm einen „Denkzettel“ zu verpassen. Jeder Einzelne kann bei diesem Denkzettel keineswegs gewollt haben, ihn damit zu stürzen – aber am Ende können sich diese Voten zu aller Bestürzung sehr wohl zu seinem Sturz addieren. Profil hat so einen seiner besten Herausgeber – Peter Rabl – per Mitarbeiterabstimmung verloren und ich weiß, dass es danach „britische“ Katerstimmung gab.
Auch die Briten könnten also nach erfolgter Abkühlungsphase und in besserer Kenntnis möglicher Konsequenzen zu neuen Einsichten gelangen. Am Exit aus dem Brexit zweifle ich aus folgenden Gründen:
• Boris Johnson, der Anführer der Fundamentalisten unter den Brexitiers, ist ein Politiker vom Schlage Nigel Farrages: Er nimmt jedes Problem Großbritanniens und schon gar Nordirlands in Kauf, wenn er bei dieser Gelegenheit nur Theresa May beerben und Premierminister werden kann.
• Jeremy Corbyn, auf den Theresa May jetzt zugeht, wünscht zwar, wie die meisten Labour-Abgeordneten, einen „weichen“, geordneten Brexit, will aber nichtsdestotrotz in erster Linie den Sturz der Regierung und steht Brüssel unverändert skeptisch gegenüber. Den Exit vom Brexit unterstützt er daher kaum.
Für das Wahrscheinlichste halte ich daher, dass die EU nicht bei ihrer starren Haltung – entweder der von Michel Barnier ausgehandelte Scheidungsvertrag oder gar keiner – bleiben wird. Vielmehr spekuliere ich mit einer Ergänzung des Scheidungsvertrags durch ein Papier, das den „Backstopp“ neu und anders regelt.
Es ist zwar emotional wie realpolitisch verständlich, dass alle EU-Akteure im Hinterkopf das intensive Bedürfnis hatten und haben, den Briten zu beweisen, dass sie mit der Scheidung einen Fehler machen. Auch dass Parlamentspräsident Antonio Tajani für unumstößlich hält, „dass es mit ihnen keine Vereinbarung geben kann, die besser als eine Mitgliedschaft in der EU ist“, ist aus ihrer Warte verständlich, und der Barnier-Vertrag trägt dem auch vollauf Rechnung: Die Briten unterstünden, wenn sie ihn akzeptierten, weiterhin den Regelungen der EU, hätten diese aber nicht mehr mitzubestimmen.
Nur darf man sich in der EU dann nicht wirklich wundern, dass das britische Parlament diesen Vertrag nicht und nicht akzeptieren will.
Wenn die EU also auch eigennützig Wert auf einen geordneten Brexit legt, wird sie ihn daher meines Erachtens entgegen ihren Schwüren („daran kann kein Wort geändert werden“) zwar nicht aufschnüren, aber eben ergänzen müssen. Das geballte Interesse der deutschen Autoindustrie, die um ihren zollfreien Zugang zu Großbritannien bangt, könnte Angela Merkel diesbezüglich erstaunlich weltoffen stimmen. Denn natürlich ist es möglich, mit Großbritannien ähnliche Freihandelsabkommen wie mit Kanada, der Türkei oder Norwegen zu schließen und auch durch sie eine „harte“ Grenze mit Zollkontrollen zwischen Irland und Nordirland zu vermeiden, statt auf Großbritanniens fortgesetzter Mitgliedschaft in einer EU-Zollunion zu beharren.
Ich halte also einen Kompromiss dieser Art nach erfolgter Fristverlängerung für den endgültigen Zeitpunkt des britischen Austritts für die wahrscheinlichste und jedenfalls für beide Seiten beste Lösung des Problems.
Dass die EU ökonomisch wie politisch auch nach einer solchen Lösung eine gewaltige Baustelle bliebe, ist ein anderes Kapitel.