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DAS GELEUGNETE FIASKO

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Weil ich meine, dass sich das Wesen der EU-Wirtschaftspolitik am deutlichsten bereits ganz zu Beginn, bei der Griechenland-Krise, gezeigt hat, möchte ich auf sie zurückkommen, obwohl sie angeblich überwunden ist.

Denn genau das stimmt in keiner Weise – sie ist so akut wie eh und je. Die Ruhe, die sie begleitet, ist allenfalls eine Friedhofsruhe und böte Stoff für eine tragische Komödie: Wie man ein Fiasko unwidersprochen und ungeniert in einen Erfolg verkehrt.

So hat die EU-Kommission im Sommer 2018 stolz verkündet, dass Griechenland mit 1,2 Prozent das zu diesem Zeitpunkt höchste Wirtschaftswachstum der EU ausweise. Das trifft zu und ist dennoch, was Griechenlands wirtschaftlichen Zustand betrifft, das absolute Gegenteil der Wahrheit.

Griechenland ist am Boden zerstört.

In der Physik kennt man das sogenannte Experimentum Crucis: eine möglichst eindeutige, zugespitzte Versuchsanordnung, die es erlaubt, eine Theorie auf ihre Brauchbarkeit zu prüfen. Bewährt sie sich, dann ist sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit richtig, bewährt sie sich nicht, dann ist sie mit Sicherheit falsch („falsifiziert“). Griechenland war das Experimentum Crucis der EU-Wirtschaftspolitik – dort vermochte man zu prüfen, ob diese Politik sich bewährt.

Worin bestand die Versuchsanordnung? Der griechische Staat war bekanntlich aus unterschiedlichsten Gründen – Misswirtschaft, Korruption, Betrug, ein Kaufrausch im Zuge der Euro-Euphorie – in eine Lage geraten, in der seine Zahlungsunfähigkeit befürchtet wurde. Aus dieser Lage sollte er sich auf der Basis der wirtschaftspolitischen Thesen der EU – die ihn zu diesem Zweck unter Kuratel stellte – befreien.

Im Sommer 2018 verkündete EU-Finanzkommissar Pierre Moscovici den erfolgreichen Abschluss des Experiments: „Die griechische Krise ist heute Abend vorbei.“ „Mit dem Ende der Hilfe für Griechenland beweist die Europäische Union, dass sie Krisen überwinden kann“, resümierte der Stern für das breite deutschsprachige Publikum. Das war zu diesem Zeitpunkt für deutsche Leser deshalb so wichtig, weil sie befürchteten, dass demnächst Italien geholfen werden muss, und weil Deutschlands Medien vom Stern bis zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung klarstellen wollten, dass diese Hilfe selbstverständlich wieder nur nach bewährtem deutschem Rezept erfolgen kann: indem dem italienischen Staat befohlen wird, zu „sparen“ und „endlich seine Hausaufgaben zu machen“.

Das deutsche Rezept und sein Erfolg

In Wirklichkeit gibt es kein krasseres Beispiel für das völlige Versagen dieses deutschen Rezeptes als Griechenland. In nüchternen Zahlen: Um es zu „retten“ wurde seit 2010 von der EU und vom Internationalen Währungsfonds in mehreren Tranchen die gewaltige Summe von 298 Milliarden Euro vergünstigter Kredite aufgewendet; unter der befohlenen bzw. faktischen Aufsicht einer EU-„Troika“ machte Griechenland im Gegenzug die ihm abverlangten „Hausaufgaben“.

Wie ist es nunmehr um das solcherart „gerettete“ Land bestellt?


Quelle: The World Bank

Griechenlands reales BIP pro Kopf, das 2007 bei 32.073 US-Dollar gelegen war, ist bis 2010 im Rahmen der Krise auf 28.726 US-Dollar abgestürzt. Zu diesem Zeitpunkt begann die „Sanierung“. Im Jahr 2013, dem Jahr, in dem für die gesamte EU der Sparpakt voll wirksam geworden war und Griechenland bereits 3,5 Milliarden Euro Kredit erhalten hatte, erreichte sein BIP/Kopf mit 23.746 US-Dollar seinen Tiefpunkt. Um sich seither unter Erhalt der angeführten fast 300 Milliarden seitwärts zu bewegen und bis 2017 auf nur gerade 24.574 US-Dollar zu erholen. Das ist – nach 300 aufgewendeten Milliarden – ein Minus von 23,4 Prozent gegenüber der Zeit vor der Krise.

• Griechenlands Staatsschuldenquote (die Staatsschuld pro BIP), deren Höhe der Anlass zur „Rettung“ gewesen ist, stieg im Zuge des „Sparens“ von 146,25 Prozent im Jahr 2010 auf 181,91 Prozent im Jahr 2017. Die „Quote“ selbst ist zwar – entgegen ihrer ständigen Zitierung in den Medien – keine relevante Zahl (wie ich später eingehend begründen werde), aber ihr derart dramatischer Anstieg in so kurzer Zeit ist es insofern, als er den dramatischen Einbruch des BIP im Nenner des zughörigen Bruches signalisiert. (Griechenlands Staatsschuld selbst ist nämlich so gut wie unverändert hoch geblieben.)

• Griechenlands Arbeitslosenrate, die noch 2010 bei 12,73 Prozent lag, schnellte bis 2017 auf 21,45 Prozent hoch, obwohl seit 2009 mindestens 400.000 von 11,12 Millionen Griechen das Land auf der Suche nach Arbeit verlassen haben. Wären sie geblieben, so hätten sie die Arbeitslosenrate auf dreißig Prozent gesteigert. Die Jugendarbeitslosigkeit (Arbeitslosigkeit der 15- bis 24-Jährigen) liegt bei gespenstischen 43 Prozent. Was in Griechenland auf dem Arbeitsmarkt wirklich passiert ist, illustriert am besten die Zahl der Beschäftigten: Von 4,53 Millionen im Jahr 2006 ist sie bis heute auf 3,68 Millionen gesunken.

• Das Realeinkommen der Griechen ist zwischen 2010 und 2017 um mehr als ein Viertel, um 26,5 Prozent, zurückgegangen. Um es etwas hautnäher zu beschreiben: Stellen Sie sich vor, Sie hätten als Geringverdiener nur mehr drei Viertel des zuvor schon knappen Geldes in der Tasche.

In diesem niederschmetternden wirtschaftlichen Zustand befindet sich Griechenland auf der Basis seiner „gelungenen Rettung“ durch neun Jahre EU-Wirtschaftspolitik gemäß deutscher Rezeptur und unter deutscher Anleitung und Aufsicht.

Dass im Jahr 2017 tatsächlich ein Wirtschaftswachstum von 1,2 Prozent eingesetzt hat, ändert nichts an diesem niederschmetternden Befund, denn selbstverständlich ist irgendwann nach Jahren des Schrumpfens – das ist fast immer und fast überall so – selbst bei der schlechtesten Wirtschaftspolitik eine Talsohle erreicht, von der aus es wieder aufwärtsgeht. Die konkrete Talsohle – ich muss mich wiederholen – liegt, trotz 298-Milliarden-Kredits, um 23,4 Prozent unter dem Vorkrisenniveau.

Wo liegen demgegenüber die Verbesserungen dank erledigter „Hausaufgaben“?

Möglicherweise ist zwischen 2010 und 2017 so etwas wie ein griechisches Grundbuch entstanden (ich vermag es nicht zu überprüfen) und ist die Steuerbehörde besser organisiert – auch wenn sich die Steuereinnahmen drastisch verringert haben. Wahrscheinlich vergibt der griechische Staat auch Konzessionen für Lkw-Transporte oder Apotheken nicht mehr ausschließlich an eine bevorzugte Klientel – auch wenn sich die Versorgung mit Medikamenten lebensgefährlich verschlechtert hat.

Ich will nicht behaupten, dass sich in den beschriebenen neun Jahren unter den angeführten Leiden der griechischen Bevölkerung gar nichts verbessert hätte. Sparen übt stets eine gewisse „reinigende“ Wirkung aus – mäßig nützliche Staatsausgaben werden in Richtung zu nützlicheren umgeschichtet –, aber angesichts der hier wiedergegebenen Zahlen von „gelungener Überwindung einer Krise“ zu sprechen ist ein unverschämter Witz.

In der EU rechtfertigt man diese Unverschämtheit mit dem Hinweis, dass Griechenland sich jetzt am Finanzmarkt refinanzieren könne – wovon sich der einzelne Grieche freilich noch lange nichts kaufen kann. Vor allem hätte Griechenland sich immer am Finanzmarkt refinanzieren können, wenn 2010 nicht über seine Pleite spekuliert worden wäre, sondern die EZB schon damals sofort klargestellt hätte, dass sie einem deutlichen Anstieg der Zinsen, zu denen Griechenland sich Geld leiht, „mit allen Mitteln“ entgegentreten wird. Dass die EZB diese Ansage unterlassen hat – und auf der Basis ihrer gesetzlichen Konstruktion nach Ansicht des deutschen Bundesverfassungsgerichts auch gar nicht machen hätte dürfen –, ist eine eigene, wesentliche EU-Problematik, auf die ich später genauer eingehen werde. Hier nur so viel: Eine sinnvoll konstruierte Europäische Zentralbank muss, wie die amerikanische, zwingend und zu jedem Zeitpunkt ohne Einschränkung hinter allen, gerade auch den schwächelnden, EU-Ländern und ihren Banken stehen.

Die Begleitmusik einer „Rettung“

Vorerst möchte ich nur noch ein paar charakteristische Begleiterscheinungen der „Griechenland-Rettung“ festhalten: Angela Merkel verhängte die Sparauflagen und bewilligte die Rettungsmilliarden unmittelbar nachdem ein umfangreicher Waffeneinkauf Griechenlands (zu allen Zeiten die Hauptursache seiner Defizite) in Deutschland unter Dach und Fach gebracht worden war.

Die 298 Rettungsmilliarden kamen voran deutschen und französischen Banken zugute. Die nämlich hatten griechischen Banken bedenkenlos Geld geliehen, das diese ebenso bedenkenlos dem griechischen Staat zum Zweck seiner Waffenkäufe – voran in Deutschland – und den griechischen Bürgern zum Zweck von Warenkäufen – voran deutschen Autos – weiterliehen. Für diese Ausleihungen haben die deutschen Banken angesichts der umstrittenen Bonität Griechenlands satte Zinsen kassiert und entsprechend fette Gewinne gemacht. Der mögliche zugehörige Verlust, den die Zahlungsunfähigkeit Griechenlands mit sich gebracht hätte, blieb ihnen dank der Rettungsmilliarden erspart.

Eine britische Studie, deren Seriosität ich nicht beurteilen kann, will 2015 ermittelt haben, dass von den überwiesenen Milliarden nicht einmal ein Zehntel tatsächlich bei den Menschen in Griechenland angekommen ist. Der wirtschaftliche Zustand des Landes lässt das nicht ausgeschlossen erscheinen.

Nicht zuletzt hat die mit der Griechenland-Rettung einhergehende Ermäßigung des allgemeinen Zinsniveaus dem deutschen Staat bei der Rückzahlung seiner eigenen Kredite zwischen 2008 und 2018 gemäß Schätzung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 370 Milliarden Euro erspart, wenn man es mit den Rückzahlungsbedingungen vor Griechenland vergleicht. Dem steht ein theoretischer Anteil eines allfälligen Verlusts der 298 griechischen Rettungsmilliarden gegenüber – wovon jedoch nicht die Rede sein kann, weil Griechenland diese Summe (zusätzlich zu den schon zuvor vorhandenen Schulden rund 350 Milliarden Euro) weiterhin schuldet.

So unfair es ist, dass griechische Karikaturen Angela Merkel mit Hitlerbärtchen zeigen – ganz unverständlich ist es nicht. Man hat dieses Land so weit wie möglich ruiniert und davon de facto profitiert.

Die Zerstörung der EU

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