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EIN UNGEÜBTES AUGE SIEHT AUF EINER KOPPEL MIT KÜHEN KEINE ORDNUNG. Man muss erst eine Weile mit ihnen arbeiten, bevor man die Verhältnisse zueinander erkennt, die Unterschiede im Verhalten, und allmählich auch entdeckt, dass in dieser augenscheinlich so lahmen Reihe von Tieren, die jeden Tag in dem gleichen fast willenlosen Tempo zur Weide unterwegs sind, tatsächlich so etwas wie eine Hierarchie existiert.

Manchmal möchte man an dieser Rangordnung etwas verändern. Dann läuft es nicht rund, dann geht alles durcheinander. Man kann aber selbst viel dazutun. Man kann einige absondern und sie aus dem offenen Stall gegenüber ein paar Tage den anderen zusehen lassen. Man kann sie in die gewünschte Reihenfolge zwingen, wenn man das will, wenn es nötig ist, was fast nie vorkommt.

In der Schweiz hängen sie den Tieren in solchen Fällen nach dem Winter andere Glocken um. Eine Dame, die etwas weniger vorlaut sein soll, bekommt eine kleinere, leichtere als sie gewohnt ist; eine junge Kuh, noch etwas schüchtern in der Gruppe, bekommt eine große, schwere.

Wieder auf der Weide kommen die Tiere durch den frustrierenden Klangbrei, den sie selbst fabrizieren, aus dem Tritt. Darum arbeiten sie wieder zusammen, sie müssen ja, sonst werden sie verrückt. So wie ich Fahrrad fahre, laufen sie voreinander her. Sie bewegen den Lärm fort, bis er Musik geworden ist.

In der Küche stand jetzt eine tüchtige Frau, eine Mutter, eine Storkema, mit neben sich in derselben Küche noch einer Frau, noch einer Mutter, noch einer Storkema, alt, aber ungebrochen über eine Einkaufsliste gebeugt, die die andere nicht sehen durfte.

«Wollen wir nicht mal Fisch essen?», versuchte es Ada. «Fisch? Ist gesund, Fisch. Jeden Tag Fleisch ist auch nicht gut, oder?»

Ada konnte sich nicht an unser Kalbfleisch gewöhnen, die Tiere taten ihr immer noch leid, obwohl ich ihr erklärt hatte, dass die andere Option für Stierkälber das Vergastwerden war, so wie bei den männlichen Küken von Legehennen. Was sollte man sonst damit machen? So hatten die Kälbchen noch ein kleines Leben, wenn auch nicht viel, und man selbst hatte auch noch etwas davon. Alle redeten immer von den armen Kälbchen, aber über die männlichen Küken verlor keiner ein Wort.

«Nein», sagte sie, «die männlichen Küken, nach denen kräht kein Hahn.» Und sie fing an zu lachen, was ich mir gemerkt habe, nicht wegen des angeblichen Witzes, sondern weil ich zum allerersten Mal sah, dass jemand etwas verstehen und gleichzeitig nicht verstehen konnte.

Mutter gab keine Antwort.

Vielleicht, dachte ich, war das Haus nicht groß genug für zwei Ehepaare – es waren ja auch noch zwei Kinder hinzugekommen. Es gab zu viele Männer im Haus, zu viele Frauen, zu viele Leiber, Gliedmaßen. Jeden Abend gab es Streit um die Fernbedienung.

«Ich wüsste eigentlich auch noch ein paar Auflaufrezepte», sagte Ada, aber Mutter zog schon den Mantel an, nahm ihre Tasche und ging zur Tür hinaus.

Es war Frühjahr, die Zeit von Amseln, Gänseblümchen; die erste Mäharbeit im Jahr. Am Morgen hatte sich eine Kuh aus der Reihe gelöst. Sie schaute mich an, ich schaute zurück. War es Zuneigung? Dankbarkeit?

Manche Leute sagen, Kühe würden die Bauern lieben wie Geiseln ihre Geiselnehmer, aber wenn das stimmt, kann man von Bauern das Gleiche sagen.

Macht das einen Unterschied?

Aufmerksamkeit ist Aufmerksamkeit, Liebe ist Liebe. Wenn Liebe nicht schon aus Abhängigkeit geboren wird, dann stirbt sie darin.

Liebe wird aufgebaut, Tag für Tag.

Vielleicht ist es Vertrauen.

Jeden Tag Aufmerksamkeit, jeden Tag neues Futter, jeden Tag wieder ein nettes Wort. Die guten Erfahrungen stapeln sich. Jeden Tag kommt wieder ein bisschen Vertrauen obendrauf. Die Kuh fühlt sich immer besser bei dem Bauern, je mehr die Zeit voranschreitet. Am letzten Tag vor der Schlachtung ist ihre Liebe dadurch auf dem Höhepunkt.

Das ist das Verrückte, das Widersprüchliche: In dem Moment, wenn die Gefahr am größten ist, fühlen sich die Kühe am sichersten.

Ada kam und stand hinter mir, eine Hand auf meiner Schulter. Ich frühstückte erst dann, wenn die erste Arbeit getan war, wenn ich ruhig sein konnte, was die Arbeit anging, wenn das Haus auch ruhig war. Durch das Fenster sahen wir Mutter ins Dorf radeln, ohne dass sie sich umdrehte oder winkte.

Eine Weile blieb es still.

Ich versuchte zu kauen, ohne Geräusche zu machen; eine Aufgabe, die umso schwieriger wird, je länger man sie durchzuhalten versucht.

«Dieses Haus», sagte sie. «Dieser Tisch allein schon. Wie lange steht dieser Tisch jetzt schon hier?»

«Lange», sagte ich. «Sehr lange. Schon immer, wenn du mich fragst.»

Der Tisch war braun und robust, mit massiven, quadratischen Beinen. Unter diesem Tisch hatte ich einen Teil meiner frühen Kindheit verbracht. Mutter hörte Platten in dieser Zeit, wir hatten einen Plattenspieler. Das Ave Maria am liebsten. Immer das Ave Maria. Ich kenne den Text noch größtenteils auswendig.

Der Tisch würde noch eine Weile halten, wenn man mich fragt. Ihn zu ersetzen, war noch längst nicht an der Reihe.

«Ja», sagte sie, «das meine ich nicht. Ich meine» – sie schaute um sich, betrachtete alles ganz genau, die Fenster, die Fensterrahmen, die Fensterbank, die Tapete, die Lampenschirme und die Kacheln an der Küchenwand – «wann ist an diesem Haus das letzte Mal etwas getan worden?»

Am selben Abend – ich denke, es war derselbe Abend, es kann auch ein paar Abende später gewesen sein – saßen wir nach dem Essen im Wohnzimmer, die Kinder lagen gerade im Bett. Unerwartet stand Ada vom Sofa auf. «Mir kommt auf einmal eine gute Idee», sagte sie. «Ein Wintergarten. Ja, ein Wintergarten. Wir müssten hier eigentlich einen Wintergarten anbauen.»

Sie drehte sich zu uns um und strahlte. «Ja», sagte sie. «Ein Wintergarten, ein Anbau, mit ganz viel Glas, das macht es hier drinnen gleich ein Stück geräumiger.»

Es wurde still im Wohnzimmer, die Stille berappelte sich wieder. Mutter schaute zu Vater.

Vater saß in seinem Sessel vor dem Fernseher, das Bein und den Stumpf ein Stück auseinander, der Bauch musste atmen können, und rieb mit der Hand über die Stelle im luftleeren Raum, wo sich sein linkes Bein befunden hatte, das beinförmige Loch in der Wirklichkeit.

«Für den Wert des Hauses», sagte Ada, «ist ein Wintergarten übrigens auch nicht schlecht. Echt, alle wollen heutzutage einen Wintergarten. Das treibt den Preis gleich in die Höhe.»

«Ja», sagte Vater. «Gute Idee. Was machen wir mit einem Wintergarten?»

Ada ging zu dem Tisch und schob diesen andeutungsweise an die Stelle, wo er in ihrer Vorstellung stehen würde. «Also», sagte sie, «dann kann der da schön stehen, im Wintergarten.» Sie hob den Kopf und lachte. «Stellt euch mal vor, wie viel zusätzliches Licht man dann bekommt.»

«Platz, um den Tisch hinzustellen», sagte Vater. «Platz, um den Tisch hinzustellen. Ja, ich verstehe. Aber dürfte ich dir dann eine Frage stellen? Wo steht er jetzt?»

«Ja», sagte Ada. «Tja.» Sie verstand die Frage nicht ganz, sie verstand nicht, worauf er hinauswollte, was er hören wollte und was nicht – das Einzige, was sie verstand, was sie zu verstehen können meinte, war, dass es sich vermutlich um eine Fangfrage handelte. «Ja», sagte sie leise. «Der Tisch steht hier. Wo er halt immer steht.»

«Genau», ächzte Vater – das beinförmige Loch in der Wirklichkeit hatte sich mit Phantomschmerz vollgesogen. «Der Tisch steht, wo er jetzt steht. Er steht, wo er immer steht, wo er schon stand, als Tille noch geboren werden musste. Aber lass mich dich noch etwas fragen, wenn du gestattest – was machen wir dann mit dem Platz, wo der Tisch jetzt steht?»

«Ja», sagte Ada. «Ja, nichts halt. Der ist dann einfach da, der Platz. Das ist doch gerade schön, das macht es im Haus doch angenehmer. Dass man mehr Luft zum Atmen hat. Zum Bewegen. So groß ist es hier ja wirklich nicht. Wir alle könnten durchaus etwas mehr Raum gebrauchen.»

«Und diesen Raum nutzt du», sagte Vater mit reibender Hand, «wenn ich es richtig verstanden habe, um ihn dir anzusehen. Um dich hineinzustellen. Richtig? Ja, das tust du damit, mit dem neuen Raum, was sonst sollst du damit anfangen. Du stellst dich hinein. Und sonst nutzt jemand anderes ihn, um sich hineinzustellen. Ist es nicht so? Ein Wintergarten kostet an die zwanzigtausend. Zwanzigtausend Euro für etwas zusätzliche Stehfläche. Ist es nicht so?»

«Früher stand hier nie jemand», sagte Mutter. «Es war nicht nötig, sich dort hinzustellen. Warum sollte man sich mitten ins Zimmer stellen? Es gibt doch Sitzmöbel!»

Du gehörst mir

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