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DASS DIE PRODUKTION NACH EINER ÜBERNAHME ZURÜCKGEHT, IST UNÜBLICH. Es kommt nicht vor. Es ist nicht logisch, nicht normal. Sein ganzes Leben hat der Sohn gesehen, wie der Vater es gemacht hat. So lernte er das Fach, die Tiere, den Boden, die Saaten, so bekam er ein Gefühl für den Betrieb. Sein ganzes Leben lang hat der Sohn auch darüber nachgedacht, wie es besser laufen könnte, effizienter. Sobald der Vater den Hof verlässt, macht es der Sohn auf seine Weise, natürlich unter Beibehaltung des Guten. So ist es immer gegangen, nicht nur bei den Bauern. Man profitiert vom Vorgänger und braucht sich den Kopf nicht mehr an den Balken anzustoßen, die dessen Schritt verlangsamt haben. Die Produktion wird mehr. Nicht weniger.

Nach dem Melken laufen die Kühe durch die hinteren Türen ins Freie, wo sie ihrem ausgetretenen Pfad auf die Weide folgen. Früher hat sie der Hund dorthin getrieben, und zwar immer mit mehr Begeisterung als nötig, aber der Hund hatte mich gebissen.

Nie habe ich meinen Vater weinen sehen, nicht aus Trauer, Entsetzen oder Rührung, selbst nicht, als seine Eltern starben, oder er sein Bein verlor. Aber an dem Tag, als der Hund getötet werden musste, war er untröstlich, ein Waschlappen, die Rührseligkeit selbst.

«Ich wollte nur mal ganz kurz weg», sagte er, «aber ich bin noch nicht zur Tür hinaus, bin noch nicht um die Ecke, da springt er ihn an. Ein Blitz. Ich hörte, wie es geschah. Die erste Chance, die der Hund bekam, hat er gleich ergriffen.»

Später fragte er, ob ich etwas getan hätte, um den Hund aus der Fassung zu bringen. «Deine Mutter hat gemeint, es wäre noch etwas zu früh, jetzt schon davon anzufangen», sagte er, «aber es war mein Hund, ich muss es wissen.»

«Unser Herrgott hat alle seine Kinder gleich lieb», sagte Mutter. Sie häkelte niedrige Schmuckgardinen gegen Einblicke von der Straße.

«Ja», sagte Vater. Er stand auf. «Aber wir haben nur eins.»

Ich öffnete das Gatter, die Kühe liefen bis nach hinten durch. Den Tag über grasten sie sich wieder schräg nach vorne zurück. Jede Sekunde ein Maul Gras, ihre Hüpfbälle von Mägen mussten so schnell es ging gefüllt werden; danach gab es noch so viel Arbeit zu tun. Sie waren notgedrungen grob und gefräßig. Alles ging mit hinein. Nägel, Schrauben, Stücke vom Gartenschlauch. Alles, was man liegenließ, was von der Straße aus in die Wiese geworfen, alles, was aus den Maschinen gerüttelt wurde. Bis ins Schlachthaus waren wir mit Magneten zugange.

Das Gras war dunkel, noch wollig vom Nebel, der Himmel voller Schwalben. Sie flogen und flogen, die Schwalben, keinen Moment hatten sie Ruhe. Sie machten alles in der Luft: fressen, sich paaren und schlafen. Sie mussten immer hoch in den Himmel hinaufsteigen und sich danach fallen lassen, um während des darauffolgenden, kurzen Herabtaumelns wenigstens für kurze Zeit einnicken zu können.

Ich ging auf die Wiese, zu schnell für Suze, die aus dem Haus gekommen war und innen über den Hof auf mich zugerannt kam und schon bald nach mir rief. Vielleicht war der Kaffee fertig, vielleicht saß jemand in der Küche, vielleicht war auch nichts. Sie blieb kurz stehen, rief wieder und nahm dann die Verfolgung auf.

Sie liebte mich.

Mehr als ich mir je hätte denken können.

Sie war bei mir, wollte bei mir sein, sie war wie Wachs in meinen Händen.

Wenn ich ins Haus trat, konnte ich fühlen, wie sehr man auf mich gewartet hatte. Mit wie viel Liebe. Ganz gleich, womit sie in diesem Moment beschäftigt war, sie ließ alles aus den Händchen fallen, sprang auf und flog auf mich zu.

Sie wollte in meine Arme, jeden Tag – Vater und Tochter drückten sich fast zu Mus.

Ich liebte sie auch, auch mehr als ich je hätte denken können. Mehr als mich selbst, wenn das noch etwas zu bedeuten hat, viel mehr, unübersehbar viel mehr. Ein Haus ohne Suze war kein Haus, ein Essen ohne sie gab es nicht – ich hatte mir nie vorgestellt, wie es sein würde, Aufstehen, die Rituale des Aufstehens, und dass sie dann nicht da war.

Ich liebe sie immer noch, natürlich liebe ich sie noch immer. Warum sollte ich sie nicht mehr lieben? Ich glaube, ich bin in unserem Leben nur ein oder zwei Mal böse auf sie gewesen.

Sie rief und rannte, aber schnell näher kam sie nicht. Ich gehe auch etwas schneller als die meisten Leute. Etwas schneller, nicht viel. Bloß einen kleinen Extraschritt. Ada sagt, es sähe aus, als würde ich den ganzen Tag mit einer Schubkarre herumlaufen, auf den letzten Metern vor dem Auskippen auf den Misthaufen. Ich gehe, als hätte ich gerade einen Gang zugelegt, als hätte ich einen Schubs bekommen, als würde mich jemand anschubsen, wie man ein Kind, das neben einem radelt, aus Versehen ein klein wenig fester anschiebt als es ihm angenehm ist.

Ich gehe im Tempo des Betriebs, bestimmt vom Zusammenspiel von Einkünften und Ausgaben. Das Tempo wird höher, je ungünstiger das Zusammenspiel ausfällt. So günstig ausgefallen, dass ich das Tempo ruhigen Herzens hätte verlangsamen können, ist es noch nie.

«Papa, nicht so schnell!»

Wie oft hatte ich das nicht schon gehört. Papa, nicht so schnell. Nicht so schnell, Tille, wir haben keine Eile, wir brauchen nicht verschwitzt anzukommen. Aber so gehe ich, so ging ich über mein Land, das Land, auf dem die Familie schon in der vierten Generation Kühe hielt. Erst Holstein-Rinder, danach Holstein-Friesians, große, hochgezüchtete amerikanische. Plump und groß und schlammig fürs Auge, hochbeinig, es geht viel Wind unter ihnen durch.

Die Milchkuh musste kantiger werden, das Rückgrat mager, nach unten hin mussten sie immer breiter werden. Alle Energie musste nach unten gehen, ins Euter, in die Milch. Sie sollten die Energie nicht für sich selbst verwenden.

Produktionsverlust frisst an dem, was du bist, was du immer warst: ein Bauer, ein guter Bauer, oder zumindest ein durchschnittlicher. In der Zeit der Milchkannen dauerte es nicht lange, bis ein solcher Verlust zur Schande wurde. Sofern nicht schon der Milchfahrer bemerkte, dass sich die Kannen verdächtig leicht handhaben ließen, entdeckte man spätestens in der Fabrik beim Abnehmen der Deckel, dass sie halbleer waren, und gab die Neuigkeit untereinander weiter.

In Computerzeiten sprach einen die Schande nicht länger auf der Straße an, bekam man sie nicht mehr per anonymem Brief in den Kasten oder als Mist an die Fassade geworfen, sondern die Schande hielt ihre gelben Augen aus der Entfernung auf dich gerichtet.

«Papa!», rief sie. «Papa!»

Sie trug das blaue Jäckchen mit den roten Paspeln, sie lief mir immer noch hinterher. Drei war sie, fast vier vielleicht. Beim Laufen drehte sich ihr linker Fuß nach innen. Ein Senkfuß war es noch nicht, das sollte er erst noch werden.

«Papa!», rief sie – drei Jahre, schätze ich, vielleicht vier; die Zeit geht so schnell.

«Ich komme gleich», sagte ich laut und deutlich, während ich weiterging.

Der Wind erfasste meine Worte und trug sie zu meiner Kleinen.

«Papa», sagte sie.

«Ja, ich höre dich», sagte ich, ohne mich umzudrehen. «Du brauchst nicht immer wieder dasselbe zu mir zu sagen. Ich habe gesagt, ich komme gleich, und wenn ich sage, ich komme gleich, dann komme ich auch gleich.»

Sie hörte nicht.

Kinder suchen die Gefahr, sie wollen wissen, wie groß der Spielraum ist. Erziehung heißt, Kindern beibringen, mit der Anziehungskraft von Stacheldraht umzugehen. Von sich aus können sie das nicht. Sie klettern überall hinauf und hinein, bis in Höhen, die sie selbst noch nicht beherrschen, überqueren die Straße, ohne Ausschau zu halten, fallen von allem herunter und hören auf nichts, selbst wenn man etwas hundertmal sagt, es hilft nichts, denn sie wollen die Grenzen der Geduld ganz genau kennenlernen.

«Papa», fragte sie, «warum haben die Kühe Schwänze?»

«Was habe ich gerade gesagt?», rief ich. «Was habe ich gerade gesagt?!»

Das Kind drängelte, drückte auf lauter Knöpfe bei mir, machte einfach weiter. Es ist die Angst, die sie treibt. Es ist immer die Angst, die es Menschen schwer macht, rechtzeitig mit etwas aufzuhören. Kinder kennen das Gesetz des Rückzugs nicht. Wissen nicht, wie wichtig es ist, das Moment zu erkennen, an dem etwas verloren ist. Der verlorene Posten zieht sie an wie eine Glühbirne die Motten.

«Warum haben die Kühe Schwänze?»

Ich drehte mich um, ein Ruck – ich betrachtete mein Kind, das Mädchen in der blauen Jacke mit den roten Paspeln, ich stampfte beinahe zu ihr, zwei, drei trampelnde Schritte und ich stand vor ihr. «Weil sie sonst die ganze Zeit mit dem nackten Arschloch im Wind stehen würden!»

Sie sah mich an, erschreckt durch die Lautstärke; so führte ich mich sonst nur im Stall auf. Sie sah mich immer noch mit ihren schönen, großen Augen an, auf denen ein wässriger Glanz aus Verwirrtheit lag. Sie versuchte mich zu verstehen, schaffte es aber nicht. Sie versuchte, mehr zu sehen, als möglich war. Sie schwankte, plötzlich ganz blass. Sie wollte sich auf den Boden setzen, bevor der Boden kam und sie holte, aber dafür war es schon zu spät.

«Ein Scherz», sagte ich zu dem Kind im Gras. Ich half ihr hoch. «Ein Scherz deines Vaters, mach dir nichts draus.»

Dann stand sie auf und lief abermals hinter mir her, halb strauchelnd, das Gesicht noch nicht trocken.

Du gehörst mir

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