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MITTLERWEILE SIND GUT DREIZEHN JAHRE VERGANGEN. Die Einschätzung kann währenddessen von der Zeit beeinträchtigt sein, aber wenn ich darauf zurückschaue, jetzt, gezwungen durch Verhöre oder einfach aus mir selbst heraus, denke ich, dass Ada ihre geistige Abwesenheit, um es so auszudrücken, in der Zeit abgelegt hat, als sie mit Suze schwanger war.

Damals hat sich eine gewisse Erkenntnis in ihr breit gemacht: eine Freundin ist eine Außenstehende, ein Eindringling, eine, deren Rechte an der Nutzung des Hauses man anfechten kann. Doch mit Suze im Bauch stand sie nicht länger als Ada unter der Dusche oder in der Küche, sondern auch als die Umhüllung meiner Frucht.

Eine Trägerin eines Storkema schickte man nicht weg, ohne nicht zugleich auch ein Familienmitglied vor die Tür zu setzen.

Schritt für Schritt begann die schwangere Ada, unser Haus etwas mehr zu nutzen. Vom Schlafzimmer aus nahm sie allmählich über das Badezimmer, das Treppenhaus, den Flur, die Küche und das Wohnzimmer ihren Teil des verfügbaren Raumes ein.

Eines Tages wollte sie unsere Bettwäsche selbst waschen. «Ja», sagte sie, «warum nicht, ich habe sie doch auch selbst benutzt!» Stundenlang hielt sie die Waschmaschine und den Trockner im Schuppen besetzt. Später erbat sie sich manchmal ein behutsames Mitspracherecht bei den Einkäufen, die wir machten. Dann wollte sie lieber ein Antischuppenshampoo oder ein etwas weniger starkes Mundwasser.

Manchmal staubsaugte sie die Treppe, wienerte die Fliesen im Flur, rückte den Spiegeltüren des hohen Wandschranks mit Glasreiniger zu Leibe. Meine Mutter sah es kopfschüttelnd mit an, die Hände in die Seiten gestemmt.

Jahre gingen vorbei, zogen sich langsam und träge dahin, wir heirateten, die Kinder wurden geboren, Ada trug fortan unseren Nachnamen.

Es ist nicht schwer, Erinnerungen an die Nacht wachzurufen, als Suze geboren wurde, die Nacht und die darauffolgenden Tage wieder vor meinen Augen abzuspulen, die Ereignisse bisweilen schweben, Walzer tanzen zu lassen wie Wein in einem Glas.

Es ist auch verführerisch – ich habe es oft genug getan, hundert Mal, öfter. Trotzdem haben sich die Erinnerungen nach all den Malen des Heraufbeschwörens und Zurücksinkenlassens kaum verändert. Und das sei bemerkenswert, haben die Ermittler gesagt, denn meistens ginge dabei Einiges verloren, wenn man sie oft an die Oberfläche holt. Mit meinem Gedächtnis ist ja auch alles in Ordnung. Ich verfüge über ein gutes Gedächtnis. Das haben sie früher in der Schule schon gesagt. Verfügen. Auf das Wort «Gedächtnis» folgt oft das Wort «verfügen». Alles, was du weißt, gehört dir, alles, woran du dich erinnern kannst.

Auch Friso kam zur Welt, er selbst ist der lebende Beweis dafür, aber von seiner Geburt, dem Blasensprung, den Wehen, der Autofahrt ins Krankenhaus, den Stunden, die wir auf seine Ankunft gewartet haben, seinem Erscheinen selbst, ist mir fast nichts in Erinnerung.

Wenn ich das Ada gegenüber ansprach, wenn ich fragte, an was genau von Frisos Geburt sie sich noch erinnerte, reagierte sie empört. Aber ein paar Stunden später konnte ich sie dann oft wieder mit einem Stapel Fotos am Küchentisch sitzen sehen.

Friso war nicht weniger willkommen als Suze. Daran lag es nicht, daran konnte es auch überhaupt nicht liegen. Er war genauso geplant wie Suze, er füllte genau wie sie ein eigens für ihn in unsere Herzen gegrabenes Loch. Er war ein Junge – und einen Jungen hatten wir noch nicht. Mit ihm fand unsere Familie ihre perfekte Zusammensetzung.

Es war auch nicht so, dass wir ihn weniger lieb gehabt hätten. Ich jedenfalls nicht, das weiß ich so gut wie sicher, und auch für Adas Mutterliebe lege ich meine Hand ins Feuer. An uns lag es nicht. Die Entbindung hat sich uns nicht ins Gedächtnis gegraben, weil wir sie nicht behalten konnten. Das erste Mal in die Schule, das erste Mal allein auf dem Traktor, das erste Mal, dass man von einem Mädchen in De Tangelier angesprochen wird – diese Male behält man gut und wahrscheinlich auch für immer, ohne dass man sich dafür anstrengen muss.

Die ersten Male können sich einen Platz aussuchen, für erste Male ist das ganze Gedächtnis noch frei, aber für zweite und dritte Male ist das Gedächtnis ein Stuhl, auf dem schon jemand sitzt. Der Platz ist vergeben, besetzt von einer früheren Erinnerung.

Ada wuchs und wuchs, sie wurde größer und größer, sie tappte durchs Haus wie ein Nebenprodukt ihrer Schwangerschaft. Ihre Scheide machte mir keine Sorgen, es waren die Knochen, die Hüften, es war ihre Konstitution, die sie angesichts der auf sie einwirkenden Gewalt irgendwie hatte zusammenhalten müssen. Sie hatte immer so zerbrechlich gewirkt, so klein. Aber das ist vermutlich mit jedem Menschen so, den man liebt. Sie schrumpfen vor deinen Augen in Verletzlichkeit – je mehr Liebe, desto verletzlicher.

Aber Ada hielt eine Niederkunft zu Hause für natürlicher als in einem Krankenhaus, wo die Dinge, wie sie es ausdrückte, oft unnötig medikalisiert würden und zu wenig Raum für das Mysterium bliebe, das eine Niederkunft in ihren Augen auch war.

Ich erinnere mich an den Schrei in der Nacht.

Wie sie auf einmal aufrecht im Bett saß, alles nass.

Die Orientierungslosigkeit. Als ob ihre Augen sich scharf stellen mussten.

Ich erinnere mich an die Hebamme, das rasche Telefonat mit dem Hausarzt, das Trara, Ada die Treppe runterzubekommen, und dann doch noch die verspätete Fahrt ins Krankenhaus.

Wären meine Eltern gleich beim ersten Lärm aufgestanden und nach unten gegangen, nach draußen bis zum Zaun, hätten sie uns bis hinter Derksens Haus und sogar noch etwas weiter, bis über den Kreisel links ab auf die Ausfallstraße zur Hauptstraße nachsehen können, die anschließend dreißig Kilometer kerzengerade südwärts zur Stadt führte.

Es wurde kälter, der Winter hatte eingesetzt. Auf den Feldern lag Schnee, eine dünne Schicht, die Welt war eine weiße, stille Fläche, aus der jedes Geräusch vorübergehend entfernt war, auch das von Ada und dem Auto produzierte.

Unten links lag das Brachfeld, wo Rosalinde gefunden werden würde, kaum erhellt von dem künstlichen Licht entlang der Straße. Die Ermittlungsbeamten dachten, ich hätte den Ort nach dem Unglück sicher gemieden. Mich möglichst von dort ferngehalten, weil ich nicht mehr damit konfrontiert werden wollte. Aber die Wahrheit ist, dass ich fast nie irgendein Problem hatte, weil ich immer, wenn ich daran vorbeifuhr, an mein Mädchen dachte und an die Nacht, als sie zur Welt kam.

Da war schon eine Erinnerung vor der Erinnerung an das Unglück, etwas, das früher geschehen war, Suzes Geburt. Das Leben ist stärker als der Tod, jedenfalls in meinem Gedächtnis. Suzes Nacht strahlte durch alles hindurch, was sich davorgeschoben hatte.

Erst wollte sie nicht kommen, das Mädchen steckte im Geburtskanal fest. Nach jeder Wehe schwächte sich ihr Herzschlag wieder gefährlich ab. Zeitweilig war er sogar völlig verschwunden. Die Zeit geht schnell, wenn du auf einen Bildschirm starrst, auf dem der Herzschlag deiner Tochter in Linien und Pieptöne übersetzt wird. Kurze Erholungsphasen im Wechsel mit Sturzflügen. Schnell und langsam zugleich, wie es manchmal heißt.

Irgendwann wurde unser Zimmer von einem medizinischen Team gestürmt, bestehend aus Männern, Frauen und Mädchen. Ein quadratischer Kasten auf Rädern wurde von einer Frau in einem langen Arztkittel hereingeschoben.

Es wurde gearbeitet, geschnitten und gerufen.

Das Wunder wurde spitzköpfig an der Vakuumpumpe zum Vorschein gebracht.

Mit einer Schere schnitt ich das Mädchen von der Mutter. Das Geräusch war anders, als ich es mir vorgestellt hatte, schärfer; ich musste auch mehr Kraft auf die Schere ausüben, als ich erwartet hatte.

Suze musste gewogen und gemessen werden, betatscht, befingert und kontrolliert, in einem Nebenraum. Ada musste hergerichtet und zugenäht werden. Leicht im Kopf und schwankend, als hätte ich zu viel Sauerstoff eingeatmet, wartete ich, bis man mir Suze anvertrauen würde.

Dann lag sie in meinen Armen, in ein Tuch gewickelt, rosarot, fleckig und hilflos. Ich wiegte das Kind, mein eigen Fleisch und Blut, rot, mager, hässlich, lautstark. Mit meinem Herzen und Wesen wiegte ich sie. Schwingen war es eher, ja, schwingen tat ich das Kind, auf meinen Hüften hin und her, und ich legte zum ersten Mal meine Nase auf das Köpfchen meiner Tochter. «Jetzt bist du bei mir», flüsterte ich, «jetzt bist du bei mir.»

Du gehörst mir

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