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Drei

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Als sie Elsa schlachten rennt Julia in die Scheune, steigt die Leiter hinauf zum Heuboden und wirft sich in das getrocknete Gras. Hier oben im Heu eingegraben kann sie weinen, ihren Schmerz, die ihr zugefügten Ungerechtigkeiten, hilflose Wut, mit Tränen aufweichen.

Heute ist so ein Tag, der sie mit Traurigkeit und Wut erfüllt.

Julia liebt Elsa seitdem sie klein, weiß, so nackig auf die Welt kam. Elsa war das kleinste der sieben Ferkel und sie kam

nie rechtzeitig, noch besaß sie die notwendige Rücksichtslosigkeit, wenn sich ihre Geschwister hungrig um die Zitzen am Mutterbauch drängten.

In der hintersten Ecke eines wackeligen Regals in der Speisekammer hatte Julia damals die mit Teddybären bemalte Nuckelflasche ihres jüngsten Bruders gefunden. Wenn die Kühe gemolken wurden, holte sie sich aus dem großen glänzenden Edelstahlbehälter ein Fläschchen voll warmer, frischer Milch. Elsa hatte sich sehr schnell an den schon porösen Schnuller gewöhnt, leerte schmatzend das Fläschchen und kuschelte sich danach zu einem Mittagsschläfchen in Julias knallrote Schürze.

Bald war Elsa das rosigste, kräftigste und schlaueste Schweinchen in der Umgebung. Es begleitete Julia überall hin und folgte ihr auf ‘s Wort.

Obwohl ihr Vater schon Unterstellplätze für private Reitpferde in die stabilere der beiden Scheunen eingebaut hat und auch alle Boxen belegt sind, die zweiundvierzig braun weiß gefleckten Milchkühe die meiste Milch in der Region ihren tief hängenden Eutern sammeln und Herrmann, der kräftige Bulle mit dem glänzenden hellbraunen Fell bei der letzten Landwirtschaftsschau prämiert wurde, reicht das Geld, das sie mit all dem verdienen, gerade für das tägliche Leben. Besondere Wünsche können zurzeit nicht erfüllt werden. Nach der Übernahme des Bauernhofes von seinem Vater hatte Julias Papa eine Menge Geld für die Modernisierung des Hofes von der Bank geliehen.

Julias Zimmer mit den warmen Holzdielen liegt direkt über der guten Stube und so hat sie letzte Nacht durch die Holzdecke hindurch ihre Eltern streiten hören.

„Das kannst du Julia nicht antun und Elsa verkaufen oder einfach schlachten.“, hört sie ihre Mutter sagen.

„Elsa ist das letzte Jungschwein, im Moment ist der Kilopreis so hoch wie nie und wir brauchen das Geld!“ Vater Heinrichs Stimme klingt zornig.

„Julia ist alt genug um es zu verstehen“. Seine Stimme hat nun einen zärtlichen Unterton.

Meistens hat Julia ihre Eltern durch den Holzboden lachen gehört. Manchmal haben sie auch gemeinsam musiziert, Gitarre und Zither gespielt. Aber in der letzten Zeit ist das immer weniger und ruhiger geworden. Ihre Eltern haben Sorgen.

Dass Elsa nicht für alle Zeiten im Hof, im Garten, zwischen den Boxen, sogar im Haus grunzend, schnüffelnd, vor Aufregung quiekend herumwühlen würde, war Julia schon oft in den Sinn gekommen. Aber ausgerechnet zwei Wochen vor den großen Ferien; das ist nicht fair.

Julia ballt mit traurigem Zorn ihre Fäuste und kriecht noch tiefer in das Heu.

Mit geschlossenen Augen vernimmt sie ein leises Rascheln und spürt wie jemand an ihren nackten Füßen kitzelt. Erschrocken reißt sie die Augen auf, schaut an ihren braunen Beinen entlang und sieht Babu.

Babu hat ein graues, lila schimmerndes Fell und blaue Augen. Er spürt immer, wenn einer in der Familie leidet. Als Opa letztes Weihnachten mit einem Hexenschuss nicht mehr aufrecht laufen konnte, sprang Babu zu ihm auf das Sofa, zwängte sich zwischen Lehne und Opas Rücken und wärmte die Stelle an der Opa die meisten Schmerzen hatte.

Schnurrend setzt der Kater eine Pfote vor die andere, bis er sich ganz nahe vor Julias Gesicht nach drei Umdrehungen, ins Heu einrollt. Er reibt seinen Kopf sanft an Julias Wange und legt ihn dann vorsichtig in die Kuhle unterhalb von Julias Hals.

Beide liegen ganz still. Irgendwann fühlt Julia ihrer beider gleichmäßigen Atem.

Babus Schnurrhaare kitzeln Julia am Kinn. „Du verstehst mich“, flüstert Julia; eine letzte Träne rollt ihr über die Wange.

„Juuliaa!“ Ihre Mutter kennt das Nest, in das Julia sich stets flüchtet, wenn sie alleine sein will. „Komm herunter, es ist vorbei!“

Babu hebt den Kopf und verschwindet im Heu. Julia wischt sich mit dem Ärmel ihres T-Shirts die Nase, sie wäre am liebsten mit Babu eingeschlafen.

„Ich komme gleich, “ antwortet sie trotzig.

„Nix gleich, wir müssen noch die Wäsche von der Leine nehmen und Hausaufgaben hast du bestimmt auch noch nicht gemacht, oder?“

„Vor den Ferien haben wir nicht mehr viel auf.“ Julia fährt sich mit ihren braunen, kräftigen Händen durch das kurzgeschnittene, wuschelige, blonde Haar und klopft sich das Heu von den Shorts.

Als sie die Leiter hinuntersteigt und von den letzten vier Sprossen auf den staubigen Scheunenboden springt, hört sie ihre Mutter seufzen. „Ach, ihr habt ja bald Ferien.“

„Dieses Jahr fahren wir doch ans Meer, alle meine Freundinnen verreisen mit Ihren Eltern in den großen Ferien.“

„Vor lauter Arbeit habe ich gar nicht mehr daran gedacht, Papa bestimmt auch nicht.“

Enttäuscht schiebt Julia ihre Unterlippe vor und würde am liebsten wieder hinauf in die noch warme Kuhle im Heu steigen.

„Nicht gleich wieder traurig sein.“ Zärtlich drückt die Mama Julia an ihren weichen Bauch. „Wir werden das heute beim Abendessen mit Papa und deinen Geschwistern besprechen. Komm, lass uns die Wäsche abnehmen. Ich glaube, heute Abend zieht von Westen ein kräftiges Sommergewitter auf.“

Die Luft ist schon schwül, als sie aus der Scheune hinaus und hinüber zur Wiese gehen, wo die Wäsche an den zwischen den Obstbäumen gespannten Leinen flattert.

Julia schiebt ihre kleine Hand in die raue Hand ihrer Mama und sagt leise: „Ich möchte so gerne ans Meer.“

Vielleicht ist es der aufkommende Wind, der die Träne in Mamas Augen glitzern lässt.

Heute Abend wird Julias Lieblingsgericht gekocht. Julia isst am liebsten Nudeln, am allerliebsten Spaghetti und am aller, allerliebsten Spaghetti mit Tomatensoße und viel Parmesan-Käse.

Nur ihr kleiner Bruder Leo freute sich auch darauf. Ihre große Schwester Elisabeth, Mama und Papa essen lieber Fleischgerichte. Aber die Familie hatte die Vereinbarung getroffen, dass jede Woche ein anderes Familienmitglied den Speiseplan für die nächste Woche zusammenstellen darf, dem sich die anderen unterordnen müssen. So gibt es nie Streit über das, was auf dem Teller liegt.

Mama hat aus dem letzten Italienurlaub vor drei Jahren die langen, schlanken Spaghettigabeln mitgebracht, und Julia bekommt jedes Mal Sehnsucht nach dem Meer, wenn sie die Spaghetti damit aufrollt.

Julia trägt die tiefen Teller zu dem langen Esstisch, an dem bequem zehn Personen Platz finden, verteilt sie auf die Plätze, an denen die fünf Familienmitglieder immer zum Abendessen sitzen. Auf jedem Teller sind unterschiedliche Nudeln gemalt. Den mit den Spaghetti darauf stellt sie auf ihren Platz. Leo ist schon auf seinen Stuhl geklettert. Er sitzt auf einem dicken Kissen, sodass sein kleines, rundes Kinn gerade an den Tellerrand stößt. Mit seinem Lego-Auto fährt er geräuschvoll zwischen seinem Teller, der Gabel, dem Glas und Serviette hin und her.“ Dann wechselt er sein Motorbrummen in einen quietschenden Bremston, dass Julia beinahe der letzte Teller vor Schreck aus der Hand gefallen wäre und ruft mit verstellter Papa-Stimme: „Kinder wir sind da, ist das nicht ein schöner Platz, direkt am Meer! Alle aussteigen, wir müssen jetzt…..“ In diesem Augenblick kommt Vater in die gemütliche Wohnküche und fragt lachend: „Wo sollen wir aussteigen, Leo?“

„Auf dem Campingplatz am Meer, Papa.“

„Ach ja...“ hilfesuchend schaut er zu seiner Frau, die am Herd gerade die Tomatensoße aus dem Kochtopf in eine Schüssel gießt und sich verzweifelt auf die Unterlippe beißt.

„Ist deine Schwester schon zu Hause?“

„Nein, sie muss heute Überstunden machen und kommt später“, wirft Julia ein.

„Dann lasst uns schon mit dem Abendessen anfangen und wenn Katrin kommt, werden wir darüber reden, was wir dieses Jahr in den Ferien unternehmen werden“.

„Hallo ihr Lieben!“ Katrin wirbelt in die Stube und lässt sich mit einem Schnaufer auf ihren Stuhl fallen. “Gut, dass ihr schon angefangen habt, ich habe überhaupt keinen Hunger, der Chef hat uns Pizza spendiert.“

Mama und Papa werfen sich einen fragenden Blick zu. „Du!“

Papa holt tief Luft. „Also.....jetzt habt ihr ja bald Ferien und wir hatten ja geplant, ans Meer zu fahren. Aber.....dieses Jahr......“

Julias helle Augen werden immer dunkler.

„... dieses Jahr wird es wohl nicht klappen, weil Mama und ich den Hof nicht alleine lassen können. Dies ist nun der erste Sommer, seitdem eure Großeltern nicht mehr bei uns sind, und wir müssen uns erst einmal daran gewöhnen, dass sie uns nicht mehr mit Rat und Tat zur Seite stehen. Wir haben den Hof modernisiert, der neue Kuhstall, der Bulldog, das hat alles viel Geld gekostet und gehört immer noch der Bank. Wir werden diese Jahr wohl nicht in den Urlaub fahren können.“

In die plötzliche Stille - es ist nur noch das Klappern der Gabeln auf den Tellern zu hören, platzt Julia: „Alle fahren weg, nur wir nicht!“

„Also, ich habe damit kein Problem, bei uns in der Firma ist die Hölle los. Wir haben einen großen Auftrag bekommen und mein Chef hat schon Urlaubssperre für die nächsten drei Monate angekündigt. Der Sommer ist dann eh schon vorüber“, versucht Katrin den Eltern zu helfen. „Aber ich will ans Meer“, quengelt Leo und knallt mit seinem Lego-Auto gegen den Spaghettitopf .

Julia ist der Appetit vergangen, sie stochert mit ihrer Gabel traurig in den Spaghetti herum.

„Darf ich aufstehen?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, schiebt sie ihren Stuhl zurück und verlässt schluchzend die Stube.

Sonst ist das Abendessen immer der Moment des Tages, an dem die ganze Familie beisammen sitzt, gemeinsam die für die Familie wichtigen Angelegenheiten bespricht, Julia und Leo von der Schule erzählen, Katrin die neuesten Computer-Anwendungen erklärt und über den Tratsch in der Gemeinde gelacht wird. Es ist immer lustig, obwohl auch manchmal über ernste Themen wie Glauben und aktuelle Weltpolitik diskutiert wird. Der Abend vergeht dann so schnell, dass Mama und Papa noch einen liebevollen Gutenachtkuss bekommen und die Kinder in ihren Zimmern verschwinden.

Heute trottet sogar Leo, der Oberschmuser der Familie, mit gesenktem Kopf in sein Zimmer. Als der Reihe nach die Leselampen ausgehen, ist von niemandem das übliche „Gute Na..acht“ zu hören.

Bedrückt sitzen die Eltern in der Stube. „Ach du meine Güte, da müssen wir uns `was einfallen lassen. Ich habe wegen der vielen Arbeit überhaupt nicht mehr an die Schulferien gedacht“, stöhnt Papa mit belegter Stimme. „Als die Großeltern noch lebten, war das alles viel einfacher.“

Mama schaut gedankenversunken auf die halb leer gegessenen Teller. Der Tisch wird immer gemeinsam abgeräumt.

„Weißt du, vor ein paar Tagen hat uns jemand einen Prospekt in den Briefkasten gelegt, in dem sie ein Sommer-Camp für Schüler anbieten. Das wäre doch `was für Julia, sie ist doch so sportlich und ein bisschen Nachhilfeunterricht in Mathe - das ist auch in diesem Paket enthalten - würde ihr für das neue Schuljahr gut tun. Es liegt irgendwo in den italienischen Alpen und ich glaube, es ist nicht einmal so teuer.“

„Das ist eine gute Idee, da werde ich mir morgen gleich deren Website anschauen. Aber was machen wir mit Leo?“

„Leo ist noch zu klein für so ein Camp, das Beste ist, wir bringen ihn für ein paar Tage zu Tante Ingeborg nach München. Da gibt es große Freibäder, den Tierpark und Onkel Volker, der ist doch jetzt in Pension, freut sich bestimmt, mit Leo auf die Spielplätze mit angegliedertem Biergarten zu gehen“.

„Du bist genial mein Schatz!“ Julias Papa umarmt seine Frau, gibt ihr einen Kuss auf den lächelnden Mund und dann räumen beide frohgelaunt den Tisch ab.

„Julia, Frühstück ist fertig. Trödle nicht so lange im Bad herum, sonst verpasst du noch den Schulbus.“

Die grau grünen Augen, die schon morgens lustig funkeln, sind heute dunkel vor Trotz. Sogar der kleine goldene Punkt, der immer auf ihren Pupillen tanzt, ist verschwunden, als Julia sich an den Frühstückstisch setzt.

„Papa und ich haben uns gestern Abend noch lange unterhalten und ich glaube, wir haben eine Lösung gefunden, die dir gefallen wird.“

Der goldene Punkt glimmt wieder auf. Mit einem Hoffnungsschimmer in den fragenden Augen schaut Julia ihre Mama an.

„Was hältst Du davon, diesen Sommer deine Ferien in einem Schüler-Camp zu verbringen?“

„Alleine, ohne euch, ohne Leo und Katrin?“

Enttäuschung klingt aus Julias Stimme, aber auch Neugier blitzt in ihren Augen.

„Du bist da nicht alleine, da werden viele Mädchen und Jungen in deinem Alter sein und es wird eine Menge angeboten – Sport, Musizieren, bestimmt werden sie eine Theatergruppe bilden............“

„Vielleicht kann ich auch reiten!“

„Die haben bestimmt eine Website. Wenn du von der Schule zurückkommst, kannst du alles genau anschauen. So, jetzt beeile dich, sonst fährt der Bus ohne dich ab.“

Als Julia nach Hause kommt, sitzt ihr Papa am Küchentisch vor seinem Laptop, mit einer Tasse Kaffee in der Hand.

„Nun mein Schatz, wie war es in der Schule?“

„Mmmm, wir haben in Mathe eine Ex geschrieben und ich war überhaupt nicht vorbereitet, das ist gemein, so kurz vor den Ferien, aber ich glaube, das ändert nichts an meiner Vier für das Zeugnis .... und wenn schon“, fügt sie trotzig hinzu.

„Mama hat ja schon mit dir über unseren Vorschlag gesprochen, ich habe hier das Programm. Da wird wirklich viel geboten, unter anderem auch Nachhilfeunterricht in Mathe, das passt doch, oder?“

„Ich habe doch Ferien!“

„Aber eine Vier, vielleicht sogar eine Fünf im Zeugnis.“

„Kann ich wenigstens dort reiten?“

„Hier, schau dir die Website an, Reiten, Tennis, Klettern, Kanufahren - volles Programm. Also, langweilig wird es dort bestimmt nicht.“

Papa schiebt ihr den Laptop über den Tisch.

„Schau dir bitte die Termine auf der letzten Seite an, das Beste, nach meiner Meinung wäre die zweite, dritte und vierte Augustwoche. Ich werde dich auch zu dem Sammelpunkt bringen, wo dann alle mit dem Camp-Bus abgeholt werden. Nächstes Jahr fahren wir wieder gemeinsam in den Urlaub, versprochen!“, ruft ihr Papa Julia hinterher, als sie mit dem Prospekt aus der Küche verschwindet und die Treppe hinauf in ihr Zimmer springt.

„Und....?“ Julias Mama schaut ihren Mann fragend an, als sie ihre Einkaufstasche auf den Küchentisch wuchtet.

„Ich denke, Julia findet unseren Vorschlag gar nicht so schlecht und die drei Wochen weg von Mamas Rockzipfel werden sie noch selbstständiger machen.“

„Deine kleine Prinzessin wird dir schon am zweiten Tag fehlen“, lacht Julias Mama und umarmt ihren Mann. „Vor allem dürfen wir dein Versprechen für nächstes Jahr nicht vergessen.“

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