Читать книгу Casa Pipistrelli Das Haus der vergessenen Dinge - Peter Platsch - Страница 8
Fünf
ОглавлениеGertrud ist schwanger. Es kann jeden Tag passieren. Alle auf dem Hof sind aufgeregt, selbst Babu der, wenn er sich nicht gerade auf Mäusejagd befindet oder gemütlich auf der Fensterbank schnurrt, hat sich verdrückt. Als ob es das erste Mal wäre, dass im Kuhstall Nachwuchs erwartet wird.
„Morgen früh kommt der Veterinär – oder kommt er schon heute - nein übermorgen?“Julias Eltern stehen vor ihrem Wandkalender.
„Du hast hier irgendetwas durchgestrichen und überschrieben, weißt Du noch, was für ein Termin das war?“
„Ich glaube das war der Termin, den uns Dr. Bichler zuerst genannt und dann verschoben hat. Also kommt er heute. Ach ja, morgen müssen wir Julia zum Ferien-Camp fahren.“
„Julia, Juliaaaa, hast du schon deine Sachen für das Ferien-Camp gepackt?“
Keine Antwort. „Hast du Julia gesehen?“
„Sie kümmert sich bestimmt um Gertrud, ich werde sie fragen, ich muss sowieso hinüber in den Stall.“ Julias Vater schaut noch einmal mit zusammengezogenen Augenbrauen auf den Kalender, schüttelt den Kopf und verlässt das kleine Büro.
Julia steht neben Gertrud, sie hat ihren Kopf an ihren Hals gelegt. „Meine arme, bald bist du erlöst, das wird bestimmt das schönste Kälbchen was wir je hatten“.
Sie streicht dabei sanft über Gertruds dicken Bauch.
„Da bist du ja, ich habe es mir gedacht.“ Julias Vater legt zärtlich seinen Arm um die Schulter seiner jüngsten Tochter. „Ich schätze, sie wird übermorgen, wahrscheinlich erst in drei Tagen kalben, schade, dass du nicht dabei sein kannst.“
„Wieso, ich habe doch das letzte Mal auch mit geholfen, das Kälbchen mit Stroh trocken gerieben und, wenn es Nacht wird, kann ich aufbleiben, ich habe doch schon Ferien.“
„Eben, wir haben beinahe vergessen, dass morgen dein Ferien-Camp beginnt und ich dich zum Sammelpunkt bringen muss.“
„Da habe ich nicht mehr daran gedacht, ich wäre so gerne bei Gertrud geblieben. Du weißt, sie ist meine Lieblingskuh, sie ist die schönste.....“
„Wir haben über zwanzig Kühe und unser Herrmann ist der kräftigste Stier in unserer Region, da wirst du nicht lange auf das nächste Kälbchen warten müssen. Aber jetzt geh in dein Zimmer und pack deinen Rucksack. Sage Mama Bescheid, sie will dir helfen“, unterbricht sie ihr Vater lachend, gibt ihr einen Kuss auf die sommersprossige Nasenspitze und dreht Julia in Richtung Stalltüre.
Julia hüpft auf einem Bein über den asphaltierten Hof, nimmt zwei Stufen auf einmal, als sie übermütig die Holztreppe zu ihrem Zimmer hochspringt, sie freut sich auf das Camp obwohl sie es fast vergessen hat.
„Ich komme gleich und helfe dir beim Packen!“ ruft ihre Mutter, die sie die Treppe hochspringen hört, aus der Küche.
Julia stürmt in ihr Zimmer und hechtet außer Atem auf ihr rot-weiß-kariert bezogenes Bett. Dort hatte es sich aber schon Babu gemütlich gemacht. Mit einem beleidigten “Miau“ kriecht er noch weiter unter das Kopfkissen.
„Lege alles was du brauchst auf deinen Schreibtisch, ich helfe dir es so einzupacken, dass es nicht gar so zerknüllt wird.“Julias Mama ist in das Zimmer gekommen und knuddelt ihre Tochter.
„Mama ich möchte gerne meine Reithose und Reitstiefel mitnehmen“
„Da brauchst du noch eine Reisetasche, ich hole dir meine.“
Babu kommt beunruhigt unter dem Kopfkissen hervor und beobachtet das Treiben der beiden. Jedes Mal, wenn gepackt wurde, war danach das Haus leer, es begann dann für ihn eine Zeit der Einsamkeit. Er springt vom Bett herunter um sich unter dem Bett auf die Lauer zu legen.
Als Julia ihre Reitstiefel in die Reisetasche legen will, bemerkt sie, dass diese innen nass ist. Sie reicht sie ihrer Mama.
„Die kann ich so nicht nehmen!“
Ihre Mama zieht den Reißverschluss ganz auf, riecht hinein. „Dieser Schlawiner hat wieder in die Tasche gepinkelt!“
Zornig schaut sie sich um, eine Sandale wurfbereit in der Hand, aber Babu hat sich schon aus dem Zimmer geschlichen. Das ist sein Protest gegen das Alleinegelassenwerden.
Julias Papa steckt den Kopf ins Zimmer. „Ich habe gerade im Radio den Wetterbericht für Italien gehört, die nächsten Tage werden kühl und regnerisch. Also Anorak, Wanderschuhe, die........“ „Paapaa !“ Julia zieht die Luft geräuschvoll durch die Nase. „Ich bin kein Baby mehr!“
„Wenn ich mich recht erinnere, werden die Kinder nachmittags um drei Uhr am Meeting-Point mit dem Camp-Bus abgeholt das heißt, wir müssen ziemlich früh starten. Mama kann leider nicht mitfahren, jemand muss hier bleiben, alleine schon wegen Gertrud. Leo wird sich sicher langweilen, das dauert ihm zu lange hin und zurück. Dann packt `mal schön weiter und vergesst nicht den Anorak, die Wanderschuhe, die Zahnbürste ...“ Lachend schlägt er die Zimmertür hinter sich zu, als die Sandale, die für Babu bestimmt war, geflogen kommt.
Als Julia aufwacht, tanzen die Sonnenstrahlen, die von den Blättern des Nussbaumes vor ihrem Fenster bewegt werden, auf ihrem Kopfkissen über ihr Gesicht. Sie hat geträumt, sie liegt ganz still, bewegungslos. Die Bilder des Traumes mischen sich mit den gelb-orangen Lichtpunkten hinter ihren geschlossenen Augenlidern, als träume sie immer noch. Ich habe italienisch gesprochen, aber mit wem? Dann die dunklen Umrisse dieses großen Hauses, war es das Mondlicht, das die Fenster so bedrohlich auf sie herabblicken ließ? Langsam gleitet sie in den Traum zurück, erschrickt, als eine gebeugte Gestalt auf sie zu hinkt. „Aspetto te, ich erwartete dich“, eine weiße, zur Kralle gekrümmte Hand greift nach ihr, will ihren Arm berühren.
Hellwach springt Julia aus dem Bett, reißt das Fenster weit auf, dass die Scheiben klirren. Der kühle Morgenwind streicht ihr über das Gesicht, sie atmet tief durch, bläst die Luft aus vollen Backen in die Stille des Morgens. Langsam schwindet die düstere Erinnerung an ihren gruseligen Traum.
Noch im Schlafanzug springt sie die Treppe hinunter. Mama, Papa und Leo sitzen schon am Frühstückstisch.
„Warum habt ihr mich nicht geweckt?“
„Ach Schatz, in Deinem Camp wirst Du wohl nicht mehr lang schlafen können. Ich kann mir vorstellen, dass ihr mehrere Mädchen im Zimmer seid, da werden die Abende länger und ihr werdet früh aufstehen müssen, damit euer Tagesablauf nicht gar zu hektisch wird.“ Mama reicht ihr das Brotkörbchen.
„Frühstücke noch einmal richtig mit Vollkornbrot, die nächsten Wochen bekommst du nur Pane bianco.“
Alle am Tisch lachen. Julia überlegt, ob sie von ihrem Traum erzählen soll, aber sie beschließt, diesen Traum für sich zu behalten, da bestimmt alle noch mehr lachen würden.
Julia ist tief in den Beifahrersitz gerutscht, hat ihre nackten Füße, trotz Papas Protest, auf die Ablage vor sich gelegt und schaut verträumt aus dem Fenster. Sie haben gerade den Brenner überquert, die leer stehenden Zoll- und Grenzgebäude passiert und Papa erzählt von früher, als sie noch gar nicht auf der Welt war, dass dies hier eine richtige Grenze war mit Schlagbaum, Polizeibeamten, denen man seinen Reisepass zeigen musste und langen Wartezeiten im Stau. Auf dem Heimweg von Italien hatten sie immer Bammel, wenn der Zollbeamte seinen Kopf durch das heruntergeleierte Fenster steckte, als ob er die zwei, drei Flaschen Wein, die sie zu viel mitgenommen hatten, riechen konnte und mit strenger Stimme fragte, ob sie etwas zu verzollen hätten.
„Das ist schon eine feine Sache, dass wir in Europa fast keine Grenzen mehr haben, das bringt die Menschen näher zusammen. Für deine Generation wird das ganz selbstverständlich sein“, lächelt Julias Papa frohgelaunt und beginnt ein Lied von Eros Ramazotti zu summen.
Julia hat zwar zugehört, aber immer wieder spukt der Traum von heute Nacht durch ihren Kopf.
Sechs
Peters Vater ist am Telefon. Er ist schon seit zwei Wochen in Indien und arbeitet dort gemeinsam mit einer großen Firma an einem Flugzeug-Projekt.
„Hi Peter, ich möchte dir nur einen lustigen Urlaub wünschen, Mami bringt dich doch heute zum Meeting-Place. Hier bei mir ist es jetzt Mittag, dann ist es bei dir neun Uhr morgens. Frühstückt ihr gerade? Vergiss nicht deine Badesachen, Tennisschläger und......“
„Aber Papa, ich denke erst morgen beginnt das Camp“, unterbricht ihn Peter aufgeregt.
„Nein, nein heute, ich habe es mir extra in meinen Terminkalender notiert, gib mir bitte die Mama.“
Die Eltern diskutieren und Mamas Stimme wird, wie meistens, am Anfang schriller, um dann plötzlich ganz ruhig und kühl zu enden.
“Okay, okay, wir packen, wir haben noch sechs Stunden Zeit, um pünktlich am Sammelpunkt zu sein.“
Selma ist inzwischen in das Wohnzimmer gekommen. „Komm Peter, mein Schatz, wir fangen schon einmal an, deine Sachen zusammenzupacken.“
„Nehmen Sie am besten Peters Reisetrolley, da passt alles rein. Peter, ich muss für kurze Zeit in die Firma, ich bin aber um zehn Uhr wieder hier, dann haben wir noch genügend Zeit, um rechtzeitig zu deinem Abholtermin dort zu sein“, ruft ihnen Peters Mama hinterher.
„Willst du etwas Bestimmtes mitnehmen?“, fragt Selma, während sie die T-Shirts und Sweatshirts ordentlich zusammenlegt und in dem Trolley verstaut.
„Ist mir egal“, antwortet Peter lustlos, während er überlegt, ob er sein i-Pad oder sein i-Phone mitnehmen soll.
„Soweit ich es mitbekommen habe, sind Handys in deinem Ferien-Camp nicht erlaubt.“, macht Selma ihm die Entscheidung leicht - als ob sie seine Gedanken erraten könnte.
„So, jetzt sei nicht mehr so mürrisch und freue dich auf das Camp, das ist bestimmt viel spannender, als immer nur mit den Eltern in schicken Hotels am Swimmingpool oder Strand sich anständig benehmen zu müssen. Im Camp wird sich niemand aufregen, wenn du die ganze Woche mit einem T-Shirt herumläufst. Ich halte dir die Daumen, dass alles gut läuft und dir nichts passiert.“
Da fällt Peter plötzlich seine Schatzkiste ein. Er schaut in seinem Zimmer herum, wo habe ich die nur versteckt. Unter dem Bett ? Dort würde sie Selma beim Saubermachen finden, also im Regal, ganz unten, hinter den Schachteln mit den alten Puzzles. Schon liegt Peter auf dem Bauch und zieht die Kartons aus dem Regal heraus. Viel zu hastig, sodass die oberste Schachtel herunterrutscht und die vielen bunten Teilchen überall auf dem Boden verstreut sind.
„Scheiße!“, zischt Peter, schiebt die anderen Schachteln achtlos beiseite. Früher hatten sie oft, wenn es draußen regnete oder stürmte, gemeinsam im Wohnzimmer auf dem Boden gelegen und die vielen Teilchen zusammengefügt. Am PC ist es jetzt interessanter und ich brauche hinterher nicht immer aufzuräumen... ach, da ist sie ja die Schatzkiste... aber zu dritt war es lustiger.
„Scheiße!“, flucht Peter lauter und versucht wütend alles auf einen Haufen zu schieben.
„Wieso fällt mir gerade jetzt diese olle Schatzkiste ein?“ brummelt er ärgerlich über sich selbst.
„Ich räume das Puzzle dann zusammen, jetzt musst du dich beeilen.“
´Warum verwöhne ich ihn eigentlich so sehr, er wird nie lernen, Ordnung zu halten, wenn ich ihm stets sein Zimmer aufräume´, fragt sich Selma und sucht ein Ecke für die Tennisschuhe in dem fahrbaren Koffer.
Die Schatzkiste ist eine rechteckige Blechdose mit einem aufklappbaren Deckel, auf dem ein Wappen geprägt ist, ein Name, eine Jahreszahl. Die restliche Dose ist mit dunkelroten Ornamenten, Weintrauben, Blättern und einem Schloss auf goldenem Untergrund bemalt. Sein Vater hatte sie von Freunden geschenkt bekommen und wollte sie entsorgen, nachdem er die braune, bauchige Flasche mit dem wertvollen Inhalt entnommen hatte.
Peter setzt sich auf sein Bett, klappt den Deckel auf, so genau kann er sich nicht mehr erinnern, was er alles gesammelt und in seine Schatzkiste nur für sich, als alleinigem Besitzer, verwahrt hat. Mit der einen Hand, Peter ist Linkshänder, wühlt er in seinem Schatz, eine Steinmaus, die er im Kindergarten gebastelt hat, ein rotes Taschenmesser mit einem weißen Kreuz darauf, zwei bunte Armreifen seiner Mama, einen schmalen Papierblock mit am unteren, halb aufgerollten Ende aufgemalten Strichmännchen – sein Papierkino, ein verrostetes Vorhängeschloss ohne Schlüssel und dann ein dünnes braunes Lederband. Er zieht es behutsam heraus bis auch der Stein, der daran hängt, zum Vorschein kommt. Der Stein ist hellgrün, glatt und als er seine Hand um ihn schließt, fühlt er dessen halbrunde Form, er ist nicht kalt, er hat die gleiche Wärme wie seine Hand.
Peter steckt das Taschenmesser in seine Hosentasche. Als er sich das enge Lederband um seinen Hals hängen will, bleibt es an seiner Nase hängen. Er drückt es über die Nasenspitze, dabei fällt ihm ein, diesen Stein hatte er seiner Oma abgebettelt.
Das Lederband mit dem durchbohrten Stein hing mit anderen bunten Halsketten an einem Haken neben eingerahmten Urlaubsfotos in ihrem Bügel- und Arbeitszimmer, in dem er auch immer schlief, wenn er bei seinen Großeltern zu Besuch war. Vor dem Einschlafen, nach der Gutenachtgeschichte, wenn er seine Leselampe ausknipste und nur noch das Licht vom Flur durch die halboffene Tür in das Zimmer fiel, schien der Stein zwischen den Ketten hindurch zu leuchten. Er konnte dann seinen Blick nicht mehr von dem grün- schillernden Flecken an der Wand wenden. Es gruselte ihn sogar ein wenig. Wenn er seine Augen schloss und sie nach einer Weile wieder öffnete, erschien ihm der Stein wie eine kalte Mondsichel, manchmal sogar wie ein böses Auge, das ihn ständig beobachtete. Er zog sich dann die Zudecke über den Kopf bis er eingeschlafen war.
Eines Abends, als ihn sein Opa fragte ob er ihm eine Geschichte vorlesen solle, deutete er auf den Stein an der Wand, der jetzt kaum zu sehen war zwischen all den Ketten. „Wo kommt dieser Stein dort her“?
„Welcher Stein? Ach der grüne da.“
Sein Opa war vom Bettrand aufgestanden und hatte das Lederband mit dem Stein daran vom Haken genommen.
„Den hat deine Omi vor vielen Jahren von einer .. mmh... von einer Fee“, er lächelte versonnen, “nein, sie war mehr eine Hexe, oder besser, sie hat ihn von einer Kräuterhexe geschenkt bekommen.“
Er setzte sich wieder zu Peter auf das Bett und sah im warmen Licht der Nachttischlampe wie der junge Mann von damals aus.
„Es passierte auf der letzten Etappe unserer Heimreise von Indien. Deine Omi und ich haben zwei Jahre in diesem außergewöhnlichen Land gelebt und mitgeholfen, die Universität von Madras aufzubauen. Wir waren noch jung, idealistisch, wir wollten die Welt verbessern. Ich habe als Dozent für Maschinenbau gearbeitet, deine Omi als Praktikantin im Hospital. Kannst du dir vorstellen.....“
Jetzt geriet er so richtig in Fahrt. Peter hörte gerne die Geschichten aus all den Ländern, in denen sein Opa gearbeitet hatte, obwohl er die meisten schon kannte.
„Opa, du wolltest von dem Stein erzählen“, versuchte Peter ihn zu bremsen.
„Natürlich, der Stein....“ Mit einem glückseligen Seufzer löste sich Peters Opa aus seinen Erinnerungen.
„Also, wir sind dann am Ende unserer Mission mit unserem alten, klapprigen VW-Bus quer durch das Land gezuckelt und...“ Jetzt bekamen seine Augen einen ganz besonderen Glanz , „....und haben dann noch ein paar Wochen in Goa , in einer Hippie-Kolonie verbracht, bevor wir auf einem halb verrosteten Frachter von Bombay , heute heißt es ja Mumbai, zurück nach Genua geschippert sind.“
„Was ist aus eurem Klapperbus geworden“? unterbricht Peter ihn neugierig, er war überhaupt nicht mehr müde.
„Den haben wir natürlich mitgenommen, der war ja voll von Erinnerungen“, schmunzelte sein Opa.
„Wir sind dann über Milano gemütlich Richtung Heimat gefahren und haben von unserem restlichen Geld endlich wieder italienisches Essen genossen.
Deiner Omi ging es plötzlich gar nicht gut. Wir dachten, anscheinend hatte sie den Fisch oder die Muscheln nicht vertragen, vielleicht war es die Mayonnaise im Krabbensalat am letzten Abend. Jedenfalls musste sie sich während der ganzen Fahrt oft übergeben. Ich wollte eigentlich durchfahren bis München, aber dann hat deine Omi wegen des hohen Flüssigkeitsverlustes auch noch Fieber bekommen. Da bin ich einfach von der Hauptstraße abgebogen, um ein Dorf, ein Hotel oder einen Campingplatz zu finden. Es dämmerte bereits und es fing auch noch an zu regnen. Irgendwann wusste ich nicht mehr, wo wir uns befanden. Kein Licht aus einem Fenster, kein Kirchturm, damals wurden sie noch nicht beleuchtet. Deine Omi neben mir stöhnte im Fieber, nuschelte etwas von Händen, die nach ihr greifen, ich verstand es nicht, bekam aber immer mehr Angst. Ich stoppte an einer Abzweigung, ich dachte ich hätte ein Licht gesehen. Als ich ausstieg, um nach einen Wegweiser zu suchen, stand sie plötzlich vor mir.
Ich war so erschrocken, dass ich kein Wort herausbrachte. Sie war klein, zierlich in ihrem langen, dunklen Umhang, aber ihre Augen funkelten unter ihrer Kapuze, dass ich einen Schritt zurück von ihr wegstolperte. Sie fragte mich mit einer so sanften Stimme ob ich mich verirrt hätte, dass ich ihr, trotz dieser dunklen, allwissenden Augen, unsere ganze Geschichte erzählte.
„Da hast du Glück gehabt“, sagte sie und holte aus den vielen Falten ihres Umhanges eben diesen Stein hervor. Ich sollte ihn meiner Liebsten auf die Stirn legen und wieder zurück zur Hauptstraße fahren. Es gäbe nur ein unbewohntes Haus hier in der Gegend.
Ich habe anscheinend so verdattert geguckt, dass sie mich mit blitzenden Augen anfuhr: „Tu was ich dir sage, fahr nach Hause, deiner Frau wird es besser gehen, sie wird etwas Wunderschönes träumen.“
Als ich mich stotternd bedanken wollte, nahm sie meine Hand, in der der Stein immer heißer wurde, fest in ihre kleinen aber kräftigen Hände und knurrte mit ihrer heiseren eindringlichen Stimme:
„Du brauchst dich nicht zu bedanken, aber vergiss nicht, etwas Gutes dafür zu tun, dann kommt er irgendwann wieder zu mir zurück und der Kreis wird sich schließen.“
„Ich habe es ihr versprochen bei allem was mir lieb und heilig war.“
„Und..was habt ihr getan?“, hatte Peter neugierig gefragt.
„Eigentlich nichts.“ Verlegen blickte er auf den Stein und schnaufte tief durch.
„Ach, die Geschichte hatten wir schnell vergessen. Obwohl, deiner Omi ging es auf der Weiterfahrt besser und sie hat bis nach Hause mit dem Stein auf ihrer Stirn geschlafen und geträumt.
Wie sich später herausstellte hatte deine Omi einen Malariaanfall. Sie hatte sich in Indien, trotzt der Tabletten, die wir regelmäßig jeden Tag einnahmen, die Malaria eingefangen. Sie hätte in dieser Nacht sterben können.
Den Stein hat sie dann, wie eine Arznei, oder wie ein Wundermittel immer bei sich getragen. Sie hatte ihn zwei Mal verloren und schon aufgegeben, aber er ist immer wieder an den unmöglichsten Orten aufgetaucht. Später hat sie dann ein Loch durch den Stein bohren lassen und ihn an dem Lederband um den Hals getragen, bis ich ihr irgendwann eine schicke Goldkette geschenkt habe.“
Als Peters Mama nach zehn Uhr mit ihrem Sportwagen viel zu schnell, mit quietschenden Reifen, in die Einfahrt einbiegt, sitzt Peter mit saurem Gesicht auf seinem knallroten Trolley vor der Garage.
„Jetzt ist es viel zu spät, wir können zu Hause bleiben, ich will sowieso nicht in das blöde Camp.“
„Es tut mir leid, aber ich konnte nicht früher weil......ach was soll´s, komm steig ein, wir schaffen das schon.“
Während Peter seinen Trolley auf den Rücksitz wuchtet, kommt Selma aus dem Haus gelaufen. „Hier sind für jeden zwei Sandwiches und zwei Flaschen Mineralwasser, da braucht ihr unterwegs nicht anzuhalten.“
Sie drückt Peter an sich, der seine Arme um ihre runde Taille schlingt und gibt ihm einen Kuss auf sein Haar.
„Tschüss mein Liebling, pass gut auf dich auf“!
Peter rutscht auf den Beifahrersitz und schnallt sich an. Er fummelt an dem Schloss zwischen den Sitzen herum, damit keiner seine Träne sieht, die ihm über die blasse Wange kullert.
“Ciao Selma“. Er weiß, dass er sie am meisten vermissen wird.
Sieben
„Du kannst ruhig schneller fahren, auf den Autobahnen in Italien ist hundertdreißig erlaubt. Übrigens hat dein Auto einen Tempomat, wir können locker mit hundertvierzig cruisen.
„Du hast es aber eilig, in dein geheimnisvolles Tal zu kommen.“ grinst Nikos Opa ohne zu ahnen, was ihn dort alles erwartet.
Die beiden haben ein inniges Verhältnis zueinander. Sein Opa ist der Ruhepunkt in seinem bisweilen turbulenten jungen Leben, auf seinen Opa kann er sich verlassen.
Niko hat viel Zeit bei seinen Großeltern verbracht. Schon als Baby, noch mehr, als seine Mama ihren Traumjob in Indien annahm. Erst vor kurzem hatten sie, als sie auf dem Dachboden nach Papas alter Dampfmaschine suchten, aus einem Umzugskarton, auf dem mit Filzstift groß “NIKO“ geschrieben stand, einen Stapel loser Zeichenpapiere gefunden.
„Diese Aquarelle waren deine Erstlingswerke. Mit meinem alten Farbkasten habe ich dir die Farben beigebracht. Mein Gott, war das immer eine Panscherei. Du hast immer viel zu viel Wasser mit dem Pinsel in die Farben gerührt. Du kanntest schon lange, bevor du in den Kindergarten gingst, alle Farben.“
Stolz und ein bisschen Traurigkeit klingt aus Opas Stimme. Niko hatte viel von seinem Opa gelernt. In den ersten zwei Jahren in der Grundschule erzählten die Lehrer während eines Elternabends, das Niko schwer zu überzeugen sei , da er oft eine Diskussion mit dem Argument beendet – das hat mein Opa gesagt.
„Weißt du, wie der Ort heißt, wo der Treffpunkt sein soll? Das Tal kenne ich, glaube ich, aber den Namen des Ortes hat mir dein Papa in der ganzen Hektik nicht genannt, oder ich habe ihn einfach überhört.“
Es war schon, wie des Öfteren, wieder alles unklar gewesen. Erst hieß es, Nikos Mama käme für zwei Monate aus Indien zurück, da dieses Jahr der Monsun in der Region um Kanpur, wo sie arbeitet, besonders heftig sei. Deswegen wäre Niko auch nicht ins Feriencamp gefahren, um bei seiner Mutter zu sein. Dann rief sie über ein Satellitentelefon an - das indische Festnetz funktioniert in der Monsunperiode in den entlegeneren Regionen nicht mehr - dass sie doch nicht käme. Ihr Team ist in den Süden nach Bangalore umgezogen. Dort sei das Klima erträglicher, nicht so feucht und heiß, und weil sie sich gerade in der wichtigsten Phase des Projektes befinden.
So kam es, dass ihn heute Morgen Niko ganz aufgeregt anrief: „Opa, Opa kannst du mir helfen, ich fahre jetzt doch in das Feriencamp, Papa kann mich nicht hinbringen, weil er ausgerechnet heute nach Berlin muss, aber i..i..i..ich muss heute Nachmittag um drei Uhr am Treffpunkt sein!“
Niko redet immer sehr schnell, aber wenn er aufgeregt ist, Angst hat, fängt er an zu stottern. Sein Opa weiß das. „Wann soll ich kommen“?
„Gleich......bitte“!
„Soviel ich weiß, liegt das Camp am Ende des Tales. An der Straße dorthin gibt es keine Ortschaft, also muss der Meeting- Place am Taleingang liegen.“
„Okay, ich war zwar schon lange Zeit nicht mehr in diesem Tal, aber wir beide schaffen das doch, wie immer.“
Sie grinsen sich beide an.
„So, und jetzt suchst du `mal eine fetzige CD im Handschuhfach.“
„Und du gibst jetzt endlich Gas, Opa!“
Nachdem sie eine Zeit lang schweigend den Rhythmus, Opa am Lenkrad, Niko auf seinen Oberschenkeln, von „Highway to Hell“ mitgetrommelt haben, ruft Nikos Opa durch das Dröhnen des Basses: „Ich erinnere mich jetzt an das Tal, dreh` doch bitte mal` etwas leiser.“
„Es war im Herbst nach meinem Staatsexamen, ich war mit Freunden auf einer Bergtour am Monte Stella. Wir sind nach drei Tagen Klettern in das Tal hinuntergestiegen und den langen ermüdenden Weg am Fluss entlang durch das Tal gewandert. Es dämmerte schon, wir waren alle ziemlich erschöpft, als plötzlich, wie aus dem Nichts, eine junge Frau vor uns stand. Sie war ganz aufgeregt, fuchtelte mit ihren Armen wild herum und schrie mit schriller Stimme auf Italienisch, wir sollten schnell einen Arzt holen. Erst waren wir so erschrocken, dass wir kaum verstanden, was sie wollte, es musste etwas ganz Schlimmes passiert sein. Dann beruhigten wir sie und versuchten ihr klar zu machen, dass ich Arzt sei. Sie nahm mich sofort bei der Hand und zog mich auf einen Seitenweg, der in einen lichten Laubwald führte. Wir hatten den Weg gar nicht bemerkt, er sah auch nicht so aus, als ob er viel befahren oder betreten wurde.
„Venga, venga, presto presto, kommen Sie schnell!, rief sie mit immer noch angstvoller Stimme.
Wir begannen zu laufen, ich sage dir, jetzt wurde es mir mulmig. Von wegen Arzt, ich hatte gerade mein Examen gemacht, aber praktisch hatte ich zu dieser Zeit kaum Erfahrung. Mein Herz klopfte mehr vor Angst als vom schnellen Laufen. Was erwartet mich dort, wohin sie mich mit all ihrer Angst und Verzweiflung zerrte. Ich weiß gar nicht mehr, wie lange wir gerannt sind. Irgendwann eilten wir durch ein großes, offenes schmiedeeisernes Tor, quer durch einen Park mit alten mächtigen Bäumen auf eine herrschaftliche, aber schon etwas heruntergekommene Villa zu. Ich erinnere mich noch, da war ein runder schlanker Turm, ohne Fenster, irgendwie passte er nicht zu dem Gebäude.
Wie auch immer, wir betraten durch einen Seiteneingang die große Küche, wo auf einem langen, derben Holztisch ein junger Mann, stöhnend in seinem Blut lag. Ein springender Ast hatte ihm bei Holzfällarbeiten die rechte Kniescheibe zertrümmert. Er blutete stark aus einer klaffenden Wunde. Ich wusste gar nicht, wo ich zuerst anfangen sollte.
„Aiutarlo, helfen sie ihm.“, flüsterte die junge Frau nur noch und schaute mich mit ihren dunklen verzweifelten Augen an. Ich habe wie in Trance gearbeitet, die Wunde zugenäht, das Bein gerichtet und geschient. Ich höre heute noch seine Schmerzensschreie. Gott sei Dank ist er irgendwann in Ohnmacht gefallen, wir hatten ja kein Betäubungsmittel.
Ich war froh, dass er nicht verblutet ist. Sein Bein habe ich mehr schlecht als recht zusammengeflickt. Das war wirklich kein Meisterwerk, ich habe noch heute ein schlechtes Gewissen. In meiner Verzweiflung habe ich ihm fest versprochen, wieder zu kommen, um ihn zu einem Spezialisten zu bringen.
Mein Gott, ich war ja noch so jung und er fast noch ein Kind.“
„Und weiter...?“Niko sah seinen Opa von der Seite an, er spürte, wie sehr ihn diese alte Geschichte berührte.
„Später einmal hat er mir geschrieben, sich bedankt, sein Bein sei zwar steif, aber mit einem Gehstock könne er laufen, nicht lange aber er könne sich fortbewegen.“
„Mensch Opa, was du schon alles erlebt hast, und...?“
„Ich bin hingefahren, ich wollte ihn holen. Nach diesem Brief wünschte ich mir, dass er wieder einigermaßen gehen könnte, aber meinst du, ich hätte diese alte Villa wiedergefunden. Im Dorf waren die Leute sehr verschlossen, als ich mich nach ihm erkundigte, auch meine Frage nach dem Weg beantworteten sie nur mit einem abweisenden Schulterzucken. Ich bin dann bis zur nächsten Stadt weitergefahren. Dort erzählten die Leute von einem Hinkefuß, der mit Zigeunern und dem Teufel im Bunde gewesen sei. Über die Zeit habe ich die Geschichte dann vergessen oder einfach verdrängt.“
Nachdenklich schaut er auf die grünen Autobahnschilder.
„Bei der nächsten Ausfahrt müssen wir raus.“
Acht
Nach zweihundert Metern haben sie ihr Ziel erreicht - und dann - sie haben ihr Ziel erreicht. Peter mag die angenehm sanfte, weibliche Computerstimme. Er hat sie für sich auf den Namen Fee getauft. So, konnte er sich vorstellen, sprechen Feen.
Sie haben die letzten Häuser der Ortschaft hinter sich gelassen.
„Wohin denn nun?“ Peters Mama hat am Straßenrand angehalten und sich auf ihren Fahrersitz gestellt. Mit der einen Hand hält sie sich am oberen Rand der Windschutzscheibe fest, mit der anderen deutet sie auf die Berge rings herum.
„Irgendwo muss es da reingehen. Ich kann doch nicht - Abzweigung mit Fluss, Brücke, dicke Eiche – in den Navi eingeben.“
Sie sieht Peter an: „Hast du auch bemerkt, das Dorf hinter uns wirkt wie ausgestorben, ich habe niemanden gesehen.“
„Vielleicht machen die alle Siesta“, meint Peter und steigt ebenfalls auf seinen Sitz.
„Wenn wir weiter an dem Fluss dort drüben entlangfahren, müssten wir doch an eine Brücke oder an einen anderen Fluss aus einem Seitental kommen, wo dann bestimmt auch der große Baum steht.“
„Du bist ja ein echter Pfadfinder, die Beschreibung des Treffpunktes ist wirklich, besch..., äähh, unklar. Ich hätte sie doch noch einmal durchlesen oder mitnehmen sollen. Also los, du bist jetzt der Navigator.“
Peter bleibt auf seinem Sitz stehen, hält den Rand der Windschutzscheibe wie ein Steuerrad fest, er fühlt sich wie Captain Sparrow, als der Fahrtwind ihm die Haare zerzaust.
„Dort vorn zweigt ein Weg ab, ich glaube er führt in das Tal hinein.“ Peter beugt sich zu seiner Mama hinunter, damit sie ihn auch versteht. „Ich kann zwar keinen großen Baum sehen, aber es ist die erste Abzweigung nach dem Dorf. “
Langsam biegen sie in den schmalen, holprigen Weg ab. Peter hat sich wieder hingesetzt, denn das Cabrio schaukelt und rumpelt durch die Löcher und über die Steine wie ein Schiff bei starkem Seegang.
„Ich glaube wir sind falsch abgebogen, mein schönes Auto, ich kann hier ja nicht einmal wenden.“
Die Äste der Sträucher rechts und links am Wegrand kratzen bei jedem Ausweichmanöver quietschend über den Lack und Peters Mama wird nun richtig wütend.
„Mist, Mist, Mist!“, faucht sie“, es musste ja dieses blöde Camp sein!“
„Ich wollte nicht hierher, ich wollte mit euch ans Meer!“ faucht Peter zurück.
„Dein Vater hat immer so komische Ideen.... So, wer will denn jetzt `was von mir, hast du mein Handy gesehen.“ Nervös fingert sie an den Taschen ihrer schicken Lederjacke herum.
„Hier !“ Peter reicht seiner Mama das Handy aus der Mittelkonsole.
„Hallo - ich bin noch unterwegs - wo - das würde ich selber gerne wissen - ja, ich komme heute noch ins Büro – bis heute Abend. Peter kannst du irgendwo den Treffpunkt erkennen“?
Der Weg wird plötzlich breiter, die Sträucher weichen zurück, eine bunt blühende Wiese liegt vor ihnen. Trotz des Fahrtwindes hören sie das Rauschen eines Flusses.
„Da vorne, ich sehe ein Brückengeländer und auf der anderen Seite steht der große Baum“, ruft Peter ganz aufgeregt.
„Na endlich, ich habe schon befürchtet, dass wir umkehren müssen.“, atmet Peters Mama auf und gibt etwas mehr Gas, sodass die Holzbohlen der schmalen Brücke unter den Rädern rattern.
Die mächtige Eiche steht mitten auf dem Weg, der sich teilt, um auf beiden Seiten an ihr vorbei zu führen.
„Das ist ja ein richtiger Kreisverkehr, schau und hier zweigt der Weg zu deinem Camp ab. Aber wo ist denn der Bus, der euch abholen soll? Es ist auch niemand da, wir sind die einzigen“, lacht Peters Mama unsicher.
„Entweder sind wir zu früh, oder der Bus hat die erste Fuhre schon abgeholt“.
Ihr fallen die Sandwiches ein, die Selma ihnen eingepackt hat. Sie hebt die Kühltasche aus dem Cabrio, zieht ihre Lederjacke aus, breitet sie unter dem Baum auf der Wiese aus, schaut auf ihre Armbanduhr und lässt sich mit einem erleichterten Seufzer neben der Kühltasche in die Wiese fallen.
„Komm` mein Schatz, wir machen jetzt Picknick, bis der Bus kommt, wir haben ja noch ein bisschen Zeit.“
„Mmmh, Selma macht die besten Sandwiches der Welt“, stöhnt Peter. Er hat seine zwei und einen von seiner Mama verdrückt, die zum wiederholten Male nervös auf ihre Armbanduhr schaut.
„Ich hätte nie gedacht, dass Wasser so viel Lärm machen kann, aber ich glaube der Bus kommt. Hörst du auch die Motorengeräusche“?
„Ja!“ Peter setzt sich auf “Aber sie kommen aus der Richtung wo wir herkamen.“
In diesem Augenblick taucht schaukelnd ein Jeep aus den Sträuchern auf und kommt über die Brücke auf sie zu.
„Schau Julia, da ist schon jemand. Das haben wir ja super geschafft.“ Julias Vater parkt seinen Allrad hinter dem Cabrio und steigt frohgelaunt aus.
„Tolle Leistung mit dem Cabrio auf diesem Trampelpfad hierher zu kommen“, grinst er und schüttelt Peters Mama kräftig die Hand.
„Mädchen, auch das noch“, knurrt Peter und schielt in Richtung Julia, die barfuß aus dem Jeep gesprungen ist, in die Wiese läuft und in einem Bogen auf ihn zukommt.
„Ich heiße Julia und du“? In ihren grau grünen Augen funkelt so viel Selbstbewusstsein, als sie ihm ihre schmale braun- gebrannte Hand entgegenstreckt, die Peter zögernd mit ausgestrecktem Arm nimmt.
„Mein Name ist Peter.“ Abweisend, hochnäsig schaut er Julia von oben bis unten an und entzieht ihr seine Hand, als sie ihm kräftig die seine schüttelt.
Aufgedrehte Zicke, denkt er sich und wendet sich in Richtung der Eltern ab.
„Arrogantes Weichei.“ Julia mag keine weichen, feuchten Hände.
Inzwischen haben sich die beiden Eltern bekanntgemacht und Peters Mama schlüpft in ihre Jacke, wobei sie schon wieder eilig auf ihre Armbanduhr schaut. Als sie Peter auf sich zukommen sieht, eilt sie ihm entgegen.
„So mein Schatz, jetzt bist du nicht mehr alleine. Da schaffe ich meinen Termin heute Abend noch. Komm, gib Mama noch einen Abschiedskuss“, sie geht leicht in die Knie, breitet die Arme aus und spitzt ihren lippenstiftroten Mund.
„Maamaa, das ist peinlich“, flüstert Peter und gibt ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
„Ich muss noch meinen Trolley aus dem Auto holen“, und ist schon auf dem Weg zum Cabrio, bevor sie ihn umarmen kann.
Zornig holt sie Luft, um Peter zurechtzuweisen, in diesem Moment klingelt ihr Handy. „Ja, ich bin schon auf dem Weg zurück – das mit dem Termin geht in Ordnung – ciao.“
Mit seinem Trolley an der Hand steht Peter neben dem Auto.
„Mach´s gut, mein Großer und viel Spaß“, tätschelt ihm seine Mama die Wange mit zusammengekniffenen Augen, steigt ein, schaut zu Julia und ihrem Vater: „Wir sehen uns hier wieder, in drei Wochen, beim Abholen, tschüss.“ Sie fährt los, winkt ohne sich umzuschauen und verschwindet nach der ersten Kurve zwischen den Sträuchern.
Peter schaut ihr nach und fühlt sich alleingelassen. Mit einem beklemmenden Gefühl im Bauch wendet er sich zu Julia und ihrem Vater, die gerade Julias Rucksack und die Wanderschuhe aus dem Jeep holen.
„Hier hat sich in den letzten Jahrzehnten fast gar nichts verändert. Das Dorf scheint genau so unbewohnt wie damals. Wenn ich mich richtig erinnere, müssen wir nach dem Dorf rechts in das Tal hinein abbiegen. Euer Camp ist wirklich am Ende der Welt. Es gibt noch Gegenden, die wurden einfach vergessen. Die Jungen ziehen weg, weil es keine Arbeit gibt und die Alten sterben.“ Nikos Opa blickt versonnen auf die Bergkämme, die rechts und links das Tal säumen.
„Das Tal ist deshalb so schwierig zu finden, weil es die Form einer Flasche hat. Der Taleingang ist so eng wie ein Flaschenhals, aber je weiter man in das Tal hineingeht, umso breiter wird es. An den Südhängen wurde früher sogar Wein angebaut.
Schau, die Frau in dem roten Cabrio hat bestimmt auch gerade ihr Kind zum Treffpunkt gebracht.“
Beide lachen, winken, die Frau winkt zurück und gibt Gas.
„Das ist ja wirklich ein holpriger Flaschenhals“, ächzt Niko und schaut gespannt nach vorn. Zuerst sieht er Julia, die im seichten Wasser am Ufer des Flusses steht, dann Peter, der gelangweilt auf seinem Trolley unter der Eiche sitzt.
Julias Vater steigt aus seinem Jeep und alle drei schauen sie auf die Neuankömmlinge.
„Jetzt sind sie schon zu dritt.“ Julias Vater geht auf Nikos Opa zu und schüttelt ihm herzlich die Hand. Auch ihm brennt die Zeit unter den Nägeln, er will rechtzeitig am Hof sein, um dem Tierarzt zu helfen, das Kälbchen zur Welt zu bringen.
Nikos Opa schaut sich um: „Hier sollen die Kinder also abgeholt werden, das Camp liegt wohl am Ende des Tales. Hoffentlich kommt der Bus, bevor sich das Wetter ändert. Sehen Sie die Wolken, die sich da hinten über den Berg schieben, das kann hier in den Bergen ganz schnell gehen.“
Julia balanciert mit ausgebreiteten Armen über die Steine im Fluss zum Ufer. „Ich bin Julia “, ruft sie in Richtung Niko.
Als Peter sich auf seinem Trolley nicht rührt,- er hat die Kopfhörer im Ohr, den Kopf in die Hände gestützt und blickt teilnahmslos über die Wiese,- fügt sie noch mit leicht spöttischer Stimme hin zu: „Und das ist Peter.“
„Hi Julia !“ Niko gefällt ihre fröhliche Art.
„Julia, ich werde jetzt fahren, du weißt doch Gertrud....... der Bus wird jeden Moment kommen.“
Julia schlingt die Arme um den Hals ihres Vaters und gibt ihm einen dicken Kuss.
„Pass gut auf dich auf, du wirst mir fehlen, meine Prinzessin.“
Julia winkt, bis der Jeep nicht mehr zu sehen ist. Dann dreht sie sich zu Niko und seinem Opa um, die beide zum Himmel hinaufschauen.
Die Sonne ist hinter dicken grauen Wolken verschwunden, die wie überkochende Milch von den Bergkämmen herunter in das Tal quellen. Die Farben der Wiese sind verblasst und das hellgrün sprudelnde Wasser des Flusses rauscht dunkel, bedrohlich zwischen den Felsbrocken.
„Hoffentlich kommt euer Bus noch, bevor es zu regnen beginnt. Ich dachte auch, dass viel mehr Kinder kommen würden.“ Nikos Opa zieht sich fröstelnd seinen Pullover über.
„Ich werde mit euch warten bis der Bus kommt.“
„Opa, wir sind doch keine Babies mehr, die haben bestimmt schon den ersten Schwung Kinder abgeholt und uns werden sie auch noch holen. Bestimmt haben die Leute im Camp eine Liste über alle Anmeldungen und werden uns nicht vergessen. Wir werden hier brav warten. Du kannst ganz beruhigt nach Hause fahren.“
Julias Füße sind inzwischen wieder trocken. Sie sitzt im Gras und schlüpft in ihre Wanderschuhe. „Am liebsten würde ich in einem Land leben, wo ich nur barfuß laufen könnte.“
„Wie wäre es denn mit Grönland“, giftet Peter, der seine Hörknöpfe aus den Ohren genommen hat.
Sie beachtet ihn gar nicht, obwohl sie ihm am liebsten gesagt hätte, wie doof sie ihn findet. Stattdessen wendet sie sich zu Nikos Opa, den sie auf den ersten Blick gleich gemocht hat.
„Wir sind ja schon zu dritt“, wobei sie Peter einen grimmigen Blick zuwirft. „Es werden bestimmt noch ein paar Nachzügler kommen, die der Bus dann einsammeln wird.“
„Genau“, bekräftigt Niko und grinst seinen Opa an. „Das ist der Lumpensammler, von dem du immer erzählst, wenn du verspätet aus dem Ausland zurückkommst“.
Julia blickt fragend von einem zum anderen.
„Mit dem bin ich auch schon geflogen“, meldet sich Peter, der sich von seinem Trolley erhoben hat und betont lässig auf die drei zu schlendert. „Das ist doch der letzte Flieger von Frankfurt nach München, der jeden Abend alle Leute, die mit verspäteten Flügen aus dem Ausland kommen, einsammelt.“
„Oh, ihr habt ja einen erfahrenen Weltenbummler bei euch“, lacht Nikos Opa, “da kann ich ja beruhigt nach Hause fahren“. Obwohl ihm das, nach einem erneut besorgten Blick auf die nun tief hängenden Wolken, gar nicht gefällt.
Peter schaut triumphierend von Niko zu Julia. Diese kann sich einen bewundernden Blick auf Peter nicht verkneifen. Niko wendet sich heftiger als er es wollte an seinen Opa. „Okay, wenn dich das beruhigt, kannst du jetzt losdüsen.“
Nikos Opa spürt die Spannung zwischen den dreien, aber das findet er ganz normal. Das Wetter und die Unzuverlässigkeit der Camp-Verwaltung macht ihm die Entscheidung schwer, die Kinder alleine zu lassen. Doch ein Blick in ihre entschlossenen Gesichter bringt ihn letztendlich doch zu dem Entschluss jetzt loszufahren. So gerne er Niko umarmen würde, weiß er doch, dass dies heute nicht passt. So wendet er sich forsch an die drei.
„Give five“, klatscht die cool entgegengestreckten Kinderhände ab und geht rückwärts zu seinem Auto.
Niko begleitet ihn, er weiß, dass er vorhin zu barsch war. „Fahr` vorsichtig Opa“, flüstert er vertraut.
„Pass auf dich auf, Großer“, schaut ihm sein Opa lächelnd in die Augen.
„Ach ja, hat einer von euch sein Handy dabei?“, ruft er hoffnungsvoll beim Einsteigen.
„Handys sind im Camp nicht erlaubt“, kommt es verärgert wie aus einem Munde zurück.
„Das macht die Sache nicht leichter“, murmelt Nikos Opa und lässt die Seitenscheibe herunter.
Er blickt in das Tal hinein. Der Fluss, der sandige Weg am Fluss entlang, der lichte Lärchenwald auf beiden Seiten, die dunklen Wolken, die zwischen den Bergen eingeklemmt scheinen, wie damals. Ein ungutes Gefühl beschleicht ihn. Irgendwo war doch hier dieses sonderbare Haus gewesen.
Neun
Der Blitz und der darauffolgende Donnerschlag lässt die drei zusammenfahren. Mit weit aufgerissenen Augen blicken sie in das immer düsterer werdende Tal hinein.
Seit fast einer Stunde warten sie nun auf den Bus. Peter hatte sich etwas abseits wieder auf seinem Trolley unter der dicken Eiche niedergelassen und sich seine Kopfhörer in die Ohren gesteckt. Ein klares Zeichen, in Ruhe gelassen zu werden. Julia und Niko unternehmen gar nicht erst den Versuch, mit ihm zu reden. Julia hat Niko von ihrem Bauernhof, von Babu, Elsa und Gertrud erzählt. So war die Zeit schnell vergangen, dass sie gar nicht bemerkten, wie die schweren, dunkelgrauen Wolken immer tiefer von den Bergen herab in das Tal gekrochen sind. Alles um sie herum hat seine Farben verloren, die Konturen verschwimmen in dem bedrohlichen Grau des Himmels.
Peter kommt schneller als er eigentlich will auf Julia und Niko zugelaufen.
„Das war aber nahe “, versucht er cool zu bleiben.
„Bin ich erschrocken“, haucht Julia mit ängstlicher Stimme.
„Im Gebirge können Gewitter ganz schön gefährlich werden.“Nikos Stimme zittert leicht.
Sie schauen sich an und unwillkürlich rücken sie näher zusammen.
„Die haben uns vergessen“, rufen sie fast gleichzeitig und müssen lachen, auch wenn es sehr unsicher klingt.
Niko blickt zu den tief hängenden Wolken hinauf. „Wenn es jetzt zu regnen beginnt, dann wird´s richtig bescheuert.“ Noch bevor er zu Ende gesprochen hat, klatscht ein dicker Regentropfen auf seine Stirn.
„Scheisseeeeee !“ Sie packen ihre Rucksäcke und rennen gemeinsam zur Eiche, wo Peter bereits seinen Anorak aus dem Trolley zieht.
Ein heftiger Windstoß erfasst den mächtigen Baum, die kräftigen Äste ächzen qualvoll wie unter Schmerzen. Aus dem Rauschen der Blätter klingen klagende Stimmen, als wollten sie die Kinder warnen.
Die Regentropfen formen kleine Krater im sandigen Staub der Straße. Noch dringt kein Regen durch die dichte Krone der Eiche.
Auch Julia und Niko haben ihre Windjacken aus ihren Rucksäcken gewühlt und sich die Kapuzen übergestülpt. Mit Julia in der Mitte kauern sie am runzeligen Stamm der uralten Eiche.
Vom Ende des Tales hören sie das Gewitter grummeln, der Donner rollt durch das Tal und wird lauter und lauter. Mit einem peitschenden Knall entlädt sich der Blitz über ihnen.
Wieder ein dreistimmiges “Scheisseeee !“
„Wir müssen hier weg“, schreit Julia durch den Donner.
„Natürlich, Eichen sollst du weichen, Buchen sollst du suchen, oder so ähnlich.“ Peter ist schon aufgesprungen und hat seinen Trolley gepackt.
„Quatsch, alle Erhebungen sind bei Gewitter gefährlich. Im Freien ist es am sichersten sich flach hinzulegen. Aber hier ist es noch trocken. Also was machen wir jetzt“? Niko schaut die beiden fragend an.
„Am besten, wir suchen das verflixte Camp, es muss doch hier im Tal sein und da führt nur dieser eine Weg hin, oder“?
„Peter hat recht, wir sollten zum Camp gehen, bevor es ganz dunkel wird, ich möchte nicht im Freien übernachten“, bestimmt Julia und huckt sich ihren Rucksack auf.
Wie ein grauer Schleier umgibt der Regen die schützende Baumkrone. Mit hochgezogenen Schultern und eingezogenen Köpfen marschieren sie in die Regenwand. Inzwischen haben sich schon große Pfützen in den Schlaglöchern der Sandstraße gebildet. Niko stupst Julia an und deutet mit seinem Blick auf Peter, der immer noch seine Flip-Flops an hat und seinen Trolley durch die Wasserlachen hinter sich her zieht.
„Typisch verwöhnter Stadtjunge, der war noch nie Bergwandern.“, spöttelt Julia. Als ob Peter es gehört hätte, dreht er sich um: „Ihr könnt barfuß, laufen das Wasser ist ganz warm.“
Sie lachen. „Er hat eigentlich recht, meine Turnschuhe lassen eh schon das Wasser durch.“
„Gute Idee“, ruft ihm Julia entschuldigend zu, “meine Bergstiefel sind auch schon bis zum Rand voll.“
Jauchzend und johlend patschen sie durch die braunen Pfützen, sie fühlen sich verbunden und marschieren gut- gelaunt drauf los.
Der Regen hat nachgelassen, die drei stolpern still, verdrossen vor sich hin. Über ihnen ein Himmel ohne Mond und Sterne, die Dunkelheit senkt sich in das Tal.
Es wird ihnen allen ganz mulmig, aber keiner will als erster seine Angst zugeben, dass sie das Camp nicht finden werden.
„Irgendetwas stimmt da nicht“, unterbricht Niko dann doch das beklemmende Schweigen. Erlöst beginnen Julia und Peter gleichzeitig loszuplappern.
„Hier gibt es kein Camp, oder wir haben uns verlaufen. Normalerweise müssten sie nach uns suchen.“
„Vielleicht sind wir im verkehrten Tal, hätten wir nur ein Handy dabei, so ein Blödsinn, Handys im Camp zu verbieten.“
„Das Camp ist am Ende des Tales und das Tal ist lang, sonst würden sie uns ja nicht mit dem Bus abholen. Die haben uns einfach vergessen, weil wir zu spät am Treffpunkt waren. Wir laufen jetzt weiter, wir müssen eng beieinander bleiben damit wir uns nicht verlieren, oder gar in den Fluss fallen.“
Keiner kann darüber lachen, aber Niko findet, einer muss cool bleiben und das Kommando übernehmen.
„Mir tun die Füße weh, barfuß laufen war doch keine gute Idee“, stöhnt Julia.
„Hast du nicht gesagt du würdest dein Leben lang“….
„Hört auf mit der Streiterei“, fährt Niko dazwischen, “ich glaube, ich habe ein Licht gesehen.“
„Das Camp, das Camp“, jubeln Julia und Peter.
„Bestimmt schlafen schon alle, in solchen Camps muss man ja immer so früh aufstehen“, lästert Peter, schon wieder oben auf. Die Angst ist verflogen, sogar die kalten, müden Füße sind vergessen.
„Jetzt ist es wieder verschwunden“, ruft Niko enttäuscht.
„Ich kann es sehen, ich kann es sehen, dort drüben, wir müssen hier abbiegen.“ Julia ist ganz aufgeregt.
Der schmale Weg ist gerade noch zu erkennen, doch sie können das Licht zwischen den Baumstämmen tanzen sehen.
Aufgeregt, bemüht, das Licht nicht aus den Augen zu verlieren, laufen sie den holprigen Weg entlang, der durch einen lichten Wald führt, bis sie plötzlich vor einem großen schmiedeeisernen Tor stehen.
„Das ist nicht das Camp.“ Enttäuscht umfasst Peter die geschwungenen Eisenstäbe des einen Torflügels, der mit einem hässlichen Quietschen einen Spaltbreit nachgibt.
„Ich kann zwei beleuchtete Fenster sehen, auf alle Fälle wohnt hier jemand, den wir fragen können.“ Julia zwängt sich durch den engen Spalt zwischen den beiden Torflügeln. Niko folgt Julia, Peter bleibt mit seinem Trolley zwischen den Torflügeln hängen, flucht leise vor sich hin, bis er ihn endlich hochkant durchziehen kann und das schwere Tor sich mit einem Ächzen schließt.
Eine vollkommene Stille umgibt sie, nicht einmal das Rauschen des Flusses ist noch zu hören, nur das Rascheln von modrigem Laub aus vielen Herbsten unter ihren nackten Füssen erscheint den Kindern unnatürlich laut, als sie sich auf die beleuchteten Fenster zu bewegen. Der schwache Lichtschein aus den beiden Fenstern lässt kurz die schwarze Oberfläche eines mit Seerosenblättern bedeckten Wasserbeckens aufblinken, darüber schwebt eine graue Gestalt. Wie eine übergroße Fledermaus starrt sie auf die Eindringlinge herab.
„Lasst uns umkehren“, raunt Julia ängstlich.
„Nichts wie raus hier“, flüstert Niko.
„Ich glaube, das geht jetzt nicht mehr, irgendetwas verfolgt uns“, meldet sich Peter mit zittriger Stimme. Die drei fassen sich an den Händen, rücken näher zusammen und drehen sich langsam um.
Aus der Dunkelheit kommt ein schwarzer Schatten auf sie zu. Sein glänzendes Auge verfolgt jede ihrer Bewegungen. Ein tief rollendes Knurren lässt die Kinder zu Salzsäulen erstarren.
„Was ist denn das für eine Bestie“, stößt Niko schlotternd hervor. Peters Zähne klappern hörbar aufeinander. Julia ist ganz ruhig, sie spürt, dass dieses Knurren, so furchterregend es auch klingt, mehr eine Warnung als eine Drohung ist.
„Hey, du Monstrum, bist du hier der Wächter“, ruft sie leise aber mit fester Stimme in Richtung des Schattens, der nun auch stehen geblieben ist.
In diesem Augenblick reißt ein heftiger Windstoß die Wolken auseinander, ein fahler Mondstrahl fällt durch die Bäume und taucht den Park in ein blau-silbernes, unwirkliches Licht.
Die riesige Fledermaus, die so bedrohlich auf sie zu zu schweben schien, steht als silberner Engel auf einem Sockel zwischen grauen Grabsteinen nahe am Wasserbassin.
Das glänzende Auge starrt sie immer noch unverhohlen feindselig an. Der mächtige Kopf, aus dem dieses eine Auge funkelt, gehört einem zotteligen Ungetüm von Hund.
„Wir gehen ganz langsam rückwärts, in Richtung Haus, nur nicht rennen“, flüstert Niko.
Julia blickt auf den großen, schwarzen Hund, der nun auch durch das Mondlicht besser erkennbar ist. Neben dem schwarzen Auge verdecken die strubbeligen Haare einen kleinen milchweißen Fleck.
„Der Arme ist ja auf einem Auge blind und ur-uralt. Ich glaube, du bist gar nicht so böse wie du ausschaust.“ Langsam streckt Julia ihre kleine Hand zur kalten Nase des Wachhundes. Der schnuppert kurz daran, humpelt an den Kindern vorbei und wendet seinen Kopf, als wolle er sie auffordern, mitzukommen.
„Kommt “, wendet sich Julia an die beiden Jungen, die sich mit einer Mischung aus Furcht und neuer Bewunderung über Julias Mut, langsam aus ihrer Erstarrung lösen. „Er führt uns zum Haus“.
Sie folgen zaghaft dem Hund auf dem nun breiter werdenden Weg.
Die Bäume am Wegrand werden weniger, bis sie auf einem mit Kies und Laub bedeckten Vorplatz, mit einem kleinen ausgetrockneten Springbrunnen in der Mitte, ankommen.
Sie stehen vor der dunklen Silhouette eines Hauses. Aus zwei großen Fenstern fällt gelbes sanftes Licht auf den Vorplatz. Die Kinder schauen zu den beleuchteten Fenstern hinauf. Nichts rührt sich, kein Laut ist zu hören. Als sie wieder auf den Vorplatz schauen, um den Eingang zu suchen, ist der schwarze Wachhund lautlos verschwunden.
Unruhig blicken sie sich um. „Wo ist denn dein Freund“, fragt Niko immer noch mit Bewunderung in der Stimme.
„Ich glaube, er sollte uns nur hierher führen“, raunt Julia und steigt vorsichtig die wenigen Stufen der breiten Treppe hinauf, auf die mit glitschigem Moos und feuchtem Laub bedeckte Terrasse. Ein kalter, modriger Hauch weht ihnen vom Haus entgegen.
„Lasst uns wieder auf die Straße zurückgehen und das Camp suchen“, krächzt Peter, sein Herz klopft bis zum Hals.
Die drei zittern vor Kälte und Angst. „Ich bekomme langsam Hunger.“ Nikos Stimme hallt über die Terrasse, lauter als er es eigentlich wollte. In diesem Augenblick sehen sie in einem der beleuchteten Fenster eine gebeugte Gestalt vorbeihumpeln. Sie wendet den Kopf, blickt zu ihnen herunter und verschwindet, als das Licht im Fenster erlischt.
„Das ist er“, murmelt Niko, mehr zu sich selbst.
„Wer ?“ Julia und Peter schauen ihn mit großen fragenden Augen an.
„Mein Opa hat mir auf der Fahrt hierher von diesem Haus erzählt, er war hier schon einmal vor vielen Jahren und hat damals jemandem geholfen.“
„Dann ist es vielleicht doch kein Geisterhaus“, lacht Peter unsicher.
Trotzdem, wohl ist es ihnen nicht, obgleich sie etwas erleichtert sind, als sie nun gemeinsam, ganz nahe beieinander, auf die Eingangstür zugehen, die im fahlen Licht erscheint, als würde sie sich nie mehr wieder öffnen, wenn man sie einmal durchschritten hat.
„Seht ihr irgendwo eine Klingel.“ Sechs Augen wandern suchend über den Türrahmen. Peter tastet mutig unter den von Spinnennetzen verwebten Blättern des Weinstockes, der den Torbogen umwuchert, nach einem Klingelknopf.
„Hier gibt es keine Klingel, wir müssen klopfen.“ Julia zeigt auf die matt glänzende Fledermaus, die in der Mitte der Tür als schwerer Türklopfer hängt.
Sie fasst mutig nach dem kalten Metall und lässt die Fledermaus zweimal auf die darunter liegende Platte fallen.
Das Tok, tok zerreißt die Stille, die Kinder lauschen gespannt. Nichts …...
Julia greift nochmals nach der Fledermaus, da hören sie aus dem Haus schlurfende Schritte sich der Tür nähern.
„Vengo, vengo“, krächzt eine Stimme aus dem Ungewissen hinter der Tür. Durch den Spalt unter der Tür sehen sie einen Lichtschein, der langsam näherkommt, bis ein Riegel, knirschend zur Seite geschoben wird. Die Tür öffnet sich mit einem gequälten Ächzen, als sei sie über Jahre hinweg nicht geöffnet worden. Eine Petroleumlampe wird durch den Spalt geschoben und leuchtet in ihre blassen Gesichter.
„Guten Abend, wir haben uns verlaufen und möchten fragen ob wir...“, sprudelt es im Chor aus den dreien heraus.
„Si, si, si, certo, aspetovi“, unterbricht sie die Krächzstimme, “e tu sei Julia“?
Überrascht, mit offenen Mündern starren die Kinder in das Licht der Lampe. Das Gesicht dahinter ist nicht zu erkennen.
„Sie kennen mich“, haucht Julia erstaunt.
„Si, certo...... sicher, kenne ich euch. Ich habe euch erwartet.“
„Wieso? “, rutscht es Niko heraus.
„Non importa.... das ist jetzt nicht wichtig“, kichert meckernd die Gestalt hinter der Lampe, die sich nun langsam senkt.
Das aschgraue Haar hängt wirr in langen Strähnen bis auf die schmalen nach vorn gebeugten Schultern, das strenge, knöcherne Gesicht ist von einer ledernen, olivfarbenen Haut überzogen. Aus dem engen Netz von Falten blicken Augen, die schon vieles gesehen haben. Sie sind flink, jung und bergen trotzdem die Weisheit von hundert Jahren. Ihr durchdringender Blick springt von einem zum anderen und die Kinder haben das Gefühl, dass diese Augen schon alles wissen.
„Das ist eine Hexe, da geh ich nicht hinein“, wispert Peter und will schon kehrtmachen.
„Non sono una strega“, murmelt die Gestalt, und etwas lauter, keinen Widerspruch duldend, „nun kommt schon herein, ihr seid ja tropfnass und Hunger habt ihr bestimmt auch. Das Camp erreicht ihr heute Nacht sowieso nicht mehr. Venga, venga, kommt schon, kommt schon“.
Mit ihren dünnen Armen drückt sie die Tür mit aller Kraft noch weiter auf, dreht sich um und schlurft, ohne auf die Kinder zu warten, in das Haus zurück.
„Das ist keine Hexe, kommt schon“, flüstert Julia, packt Peter am Ärmel seines Anoraks und zieht ihn mit durch die Tür.
Niko folgt ihnen zögerlich: „Wenn das keine Hexe ist, dann hat sie sie jedenfalls nicht mehr alle“.
Der Lichtschein vor ihnen verliert sich im Dunkel der Eingangshalle. Nur ein leuchtender Punkt bewegt sich mit den Schritten und dem schleifenden Geräusch ihres langen Rockes vor ihnen.
Hinter ihnen fällt die Tür mit einem traurigen Seufzer ins Schloss.
„Jetzt hat sie uns “, zischt Peter.