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Die Religion vom unendlichen Wachstum
ОглавлениеDer Lehrer stellt seinen Schülern eine Rechenaufgabe: „Wenn ihr 100.000 Euro auf dem Konto habt und ihr hebt im ersten Monat 1.000 Euro ab, im zweiten 1.100 und in jedem weiteren Monat 100 mehr als im Vormonat, wie lange dauert es, bis das Guthaben aufgebraucht ist?“ - Da meldet sich der Sohn eines Wirtschaftswissenschaftlers: „Das Wachstum der Geldentnahmemenge hört nie auf. Also wird auch das Konto niemals leer sein.“
„ Die Wirtschaft muss wachsen, damit es uns gut geht!“ Das ist ein unumstößlicher Glaubenssatz für die meisten Menschen in unserer westlich geprägten Welt, besonders für die Führenden. Dabei heißt „Wachstum“, dass es immer mehr Menschen gibt und dass der Lebensstandard überall ständig steigt, dass man immer mehr produziert und immer mehr verbraucht. Daraus ergibt sich ein stetiger und steigender Gewinn. Dieser fließt aus den Geldbörsen wieder in den Konsum zurück. Das nicht konsumierte Geld wird dazu verwendet, die Produktion zu erhöhen.Damit beginnt die nächste Stufe des wirtschaftlichen „Aufschwungs“.
Wenn irgendein Offizieller ein Rezept anbietet, wie man aus einer Schwierigkeit herauskommt, heißt es mit Sicherheit „Wachstum“. Wir brauchen von allem mehr. Wenn das gelingt, erledigen sich die Probleme fast von selbst. Dabei bezieht sich das Wachstum, das „mehr“, nahezu ausschließlich auf materielle Güter. Von mehr Bildung, von mehr Kenntnis und von mehr Verstand statt Gefühl ist nicht die Rede. Damit es mehr materielles Wachstum geben kann, muss man investieren. Dazu nimmt man gerne Schulden in Kauf.
Dieser Ruf nach immer mehr lässt überlegen, was einem Privat- oder Geschäftsmann geschehen würde, befände er sich in der gleichen Lage wie der Staat. Hier das Szenario: Er kommt mit dem Geld nicht aus, geht zu seiner Bank und erhält einen Kredit. Es stellt sich bald heraus, dass ihm das Geld nicht reicht. Er erhöht den Kredit. Das geht noch ein paar Mal so. Dann fragt die Bank nach, wann das Geld endlich zurückgezahlt wird. Der Mann antwortet verwundert, dass er selbst die Schulden sicher nicht begleichen kann. Das sollen die Kinder und Enkel tun. Er selbst brauche erst einmal mehr Geld. – Ob er es wohl erhält?
Die stets beredten Politiker und Wirtschaftsführer werden merkwürdig still, wenn sie darlegen sollen, wie die Schulden abzutragen sind. Sie führen sich auf wie Helden und Sieger, wenn sie verkünden, dass sie in diesem Jahr weniger neue Schulden machen werden als im vergangenen. Man merke auf: „Neue Schulden“ heißt es. Damit ist gemeint, sie werden nicht mehr Schulden machen als im Jahr zuvor. Gewieft wie sie sind, geben sie diese Verringerung beim Aufnehmen von Schulden in Prozentpunkten statt in absoluten Zahlen an. Es heißt z.B.: die Neuverschuldung ist in diesem Jahr nicht höher als im vergangenen Jahr. Dabei steigt die absolute Schuldenmenge jedes Jahr bei gleich bleibendem Prozentsatz an, weil sich diese Prozente auf eine immer größere Summe beziehen, denn die neuen Schulden werden zu den alten hinzugerechnet. So wird die Ausgangssumme jedes Jahr größer als im Vorjahr. Fünf Prozent von 100 sind eben weniger als fünf Prozent von 1000. Die Prozente klingen nicht nach so viel. Die ihnen entsprechenden Geldbeträge sind gewaltig. Prozentangaben dienen oft der Irreführung, wenn nicht gleichzeitig mitgeteilt wird, worauf sie sich beziehen. Weiß man das nicht, sind die Angaben in Prozenten ziemlich wertlos. Das sollen sie wohl auch sein. Die Bürger sollen unwissend gehalten werden. Sie sollen sich nicht aufregen. Sie sollen vor allem nicht zu genau nachfragen und die Führenden dazu zwingen, die Karten auf den Tisch legen zu müssen. Die Menschen sollen manipulierbar sein, keine mündigen, unbequemen Bürger.
Die bisherige Entwicklung in nahezu allen Bereichen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens gründet sich auf das Grundprinzip: mehr – mehr – immer mehr. Aufschwung wurde bisher nur durch steigende Mobilisierung von Ressourcen bewirkt. Die so erreichten Verbesserungen sind die Folge industrieller Fertigung in immer größerem Stil. Sie produziert über den eigentlichen Bedarf hinaus. Die Ware muss aber auch abgesetzt werden. Dazu muss der Mensch unzufrieden gemacht werden mit dem, was er hat. Ihm wird eingeredet, mehr Besitz bedeute auch mehr Glück und Freude. Als am leichtesten zu beurteilende Größe ist der Besitz Maßstab und Ausdruck der sozialen Rangordnung, und das schon immer. Die Produktion macht sich von den wirklichen Bedürfnissen unabhängig. Sie schafft über die verschiedensten Formen der Werbung neue Wünsche, die der Einzelne sich erfüllen soll und letzten Endes auch will. So schrauben Produktion und Konsum einander in immer neue Höhen. Es entsteht der Konsum – Mensch mit unaufhörlicher Konsumsteigerung als Lebensziel.
Man kann die Situation auch beschreiben als Beziehung von Bevölkerungswachstum und Steigerung des Lebensstandards auf der einen Seite sowie Verbrauch der Ressourcen durch Produktion von Waren auf der anderen. In den Industrieländern, aber nicht nur dort, hat sich der Glaube verfestigt, Fortschritt bestehe darin, von allem immer mehr und immer Besseres haben zu können. Für die Entwicklungsländer sind die Lebensverhältnisse in den Industrieländern wie die Verheißung des Paradieses auf Erden. Sie folgen dem Weg, den die Menschen in den Industrieländern genommen haben. So konsumieren zu können, wie ihnen von den Medien dargestellt wird, ist der Traum vieler Menschen. Sie können nicht wissen, dass bei allem verführerischen Glanz auch viel Schatten besteht. Die Industrieländer bestärken die Menschen anderswo in ihrem schiefen Bild, weil sie so zu guten Verbrauchern werden. Selbstverständlich sollen sie die Waren der Industrienationen oder ihrer Unternehmen kaufen und am besten in Naturalien bezahlen. Diese Wunschvorstellungen regen die Nachfrage stark an. Beide Entwicklungen, die der Bevölkerungszunahme und der gleichzeitigen Steigerung des Lebensstandards, lassen sich nur über eine Steigerung der Produktion erreichen. Auf Dauer aber ist dieser Weg nicht möglich. Rohstoffmangel, Energieknappheit und die Begrenztheit landwirtschaftlich nutzbarer Flächen setzen dem dauernden Wachstum unerbittlich ein Ende. Das Lebensmittelproblem wird durch das verantwortungslose Verhalten der Industrieländer sehr verschärft. Ausführlichere Darlegung des Problemkreises finden Sie in den Kapiteln, die von Globalisierung sprechen und davon, dass wir bei unserem heutigen Lebensstil zwar unbekümmert verbrauchen, dass aber die Nachkommen dafür bezahlen müssen.
Das Ungleichgewicht von Verbrauch und Reserven, also von Konsum und Produktion einerseits und der begrenzten Menge an Rohstoffen andererseits, führt unweigerlich zu einem Zusammenbruch der Zivilisation weltweit, die von einer ständigen Verfügbarkeit der Ressourcen abhängt. „Jede Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied“, sagt man. Wenn wesentliche Rohstoffe fehlen, wird die gesamte Kette der modernen Lebensabläufe unterbrochen. Eines hängt vom anderen ab. Wenn keine Computer mehr gebaut werden können, weil die dazu nötigen seltenen Elemente nicht mehr da sind, dann bricht alles zusammen. Dasselbe gilt auch für fossile Brennstoffe und vieles andere mehr. Deshalb können wir die Produktion nicht so weit steigern, dass alle Menschen ein Lebensniveau erreichen wie in den Industriestaaten heute üblich. Selbst der heutige Verbrauch lässt sich nicht auf Dauer halten.
Wollen wir auf Dauer als wissenschaftlich – technisch orientierte Kulturen überleben, müssen wir den Verbrauch an die Möglichkeiten anpassen, die uns die Erde bietet. So besteht der einzige Ausweg darin, das Wachstum umzukehren. Die Bevölkerung muss schrumpfen. Statt immer mehr zu fordern und mehr zu erwarten, müssen wir schleunigst lernen, Maß zu halten und unsere Forderungen zurück zu schrauben. Das gilt für alle reichen Länder. Nicht mehr das Wünschenswerte darf unser Handeln bestimmen, sondern das Vernünftige, das Notwendige. Wir müssen damit jetzt anfangen, nicht morgen oder gar übermorgen. Überall auf der Welt. Gleichzeitig. Wir haben keine Wahl. - Dabei können wir nicht hinnehmen, dass die Menschen in den Entwicklungsländern nicht einmal die Grundbedürfnisse befriedigen können, die zu einem Leben in Würde gehören. Die Industrieländer müssen ihre Anforderungen an die materiellen Güter senken, die Entwicklungsländer müssen den Weg aus Hunger und Elend finden. Wir müssen Solidarität üben.