Читать книгу Die Suizid-App - Peter Raupach - Страница 5

Der übernächste Freitag

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Endlich hatte er sich nun doch aufgerafft. Es dauerte fast zwei Stunden bis er rasiert und geduscht war. Nun stand er mit freiem Oberkörper vor dem Badspiegel und begutachtete sich. Ihm begegnete ein noch immer fast faltenfreies Gesicht, in dem der Zweifel saß, vielleicht war es auch Angst. Doch das wollte er vor sich nicht zugeben. Seine braunen Haare trug er früher immer kurz und sauber gescheitelt. Neben dem Dresscode wollte auch dies sein Arbeitgeber so. Jetzt waren seine Haare mehr als doppelt so lang und begannen, sich an den Enden leicht zu kräuseln. An der linken Schläfe entdeckte er eine weiße Strähne. Er nahm dies hin, früher hätte er sich darüber geärgert. Nun zögerte er noch, da er im Moment nicht wusste, wie er sein Haar tragen sollte. Doch ein Blick auf seine vor ihm unter dem Spiegel liegende Armbanduhr sagte ihm, dass er bis zum Beginn des Treffens nicht mehr viel Zeit hatte. Deshalb kämmte er seine Haare einfach nach hinten. Jetzt sehe ich aus wie einer dieser Theaterkritiker oder Kleinstadtkünstler, dachte er sarkastisch. Die Auswahl der richtigen Kleidung gestaltete sich dagegen für Felix noch schwieriger. Früher musste er nicht lange überlegen. Seine Frau Simone hängte ihm Anzug, Hemd und passenden Schlips morgens in den Flur. Er musste sich nur um seine Socken und die Unterwäsche kümmern. In seiner Arbeitswelt galt man nur in grauem, blauem oder schwarzem Tuch als angezogen. Aber was trug man unter Leuten in einer Selbsthilfegruppe?, fragte sich Felix verunsichert. Doch dann erinnerte er sich an einen weinroten Freizeitpullover. Den hatte Simone ihm zu seinem zweiunddreißigsten Geburtstag geschenkt. Seitdem lag er ganz oben im Schrank. Er hatte ihn nie getragen, weil er sich in seiner Freizeit dabei zuhause wie in eine Fernsehsoap vorgekommen wäre. Doch angezogen erwies sich der Pullover nun für Felix als Desaster. Felix starrte in den Spiegel und beim Anblick der wegen des spitzen Ausschnittes herausschauenden Brusthaare, sagte er halblaut zu sich selbst: „Das geht ja gar nicht!“

Doch er hatte keine andere Wahl, ein Anzug kam nicht in Frage, er besaß praktisch kein Hemd mehr in gewaschenem Zustand und alle Shirts waren verschwitzt, da er darin meist schlief.

Also entschloss er sich, so zu bleiben und seine Lederjacke bei dem Treffen nicht abzulegen.

Dann, schließlich, war er bereit zu gehen. Doch an seiner geöffneten Wohnungstür zögerte er, Minuten vergingen. Langsam waberte der Geruch von Eintopf und Reinigungsmitteln aus dem Hausflur vorbei an Felix in die Wohnung. Felix konnte nicht gehen. Eine unsichtbare Kraft hielt ihn zurück.

Seit zwei, oder waren es drei Wochen, hatte er die Wohnung nicht mehr verlassen, dachte er und merkte, wie sich sein Armmuskel verkrampfte. Seine Hand, die die Wohnungstür offen hielt, wurde weiß und schmerzte. Er fühlte kalten Angstschweiß auf der Stirn. War es die Ungewissheit über die Dinge, die da draußen auf der Straße warteten oder war es die im Kopf gesetzte Grenze seines Lebensterritoriums, welches hier an der Wohnungstür seine Grenze fand? Felix wusste es nicht.

Es gab nur einen Weg für Felix aus der Wohnung zu kommen. Er kannte dieses Gefühl, er hatte alles schon viele Male, seit seine Frau Simone nicht mehr da war, durchlebt. Er musste sich selber austricksen. Also schloss er wieder langsam die Tür von innen. Dann zwang er sich zur Ruhe und holte sein

iPhone aus der Hosentasche. Er rief sich ein Taxi und nannte neben der Hausnummer auch die Etage, da die Klingel unten defekt sei.

Dann wartete er lauschend an der Wohnungstür. Er wusste, dass sich der Taxistand keine hundert Meter von dem Mietshaus in der Westendstraße entfernt befand. Deshalb würde mit dem Taxi innerhalb kurzer Zeit zu rechnen sein.

Nach wenigen Minuten hörte Felix, wie jemand geräuschvoll die Treppen im Hausflur heraufkam. Felix hielt die Tür geöffnet und tat so, als ob er gerade die Wohnung verlassen wollte. Der Taxifahrer schaute etwas erstaunt, dass er wegen eines jüngeren Mannes ohne Gepäck die ganzen Treppen hochgestiegen war.

„Tja, tut mir leid, aber die Klingel ist unten am Eingang defekt. Und man weiß ja nie, wann das Taxi kommt. Ich stand auch schon bei regnerischem Wetter zwanzig Minuten vor der Haustüre“, versuchte Felix sich halbherzig zu entschuldigen.

Die gesamte Fahrt über fühlte sich dann der Taxifahrer dazu berufen, über Probleme des Taxiverkehrs in Regensburg zu erzählen. Bereits nach zehn Minuten entschied sich Felix innerlich dagegen, jemals selbst ein Taxi zu fahren. Das berufsmäßige Taxifahren schien ihm eher so ein Job zu sein, der zwischen Dazuverdienst für Studenten und Leuten, deren Karriere einen Knick aufweist, anzusiedeln ist. Oder aber es handele sich um eine Selbsttherapie von mäßig gestörten Persönlichkeiten, die das Dienen und den Service für andere gerne mit Macht über andere verwechselten. Denn allzu häufig war es Felix früher schon passiert, dass der Taxifahrer irgendwie davon ausgegangen war, dass sein Passagier ein Idiot im Straßenverkehr sein musste, wenn er bereit war sich in sein Taxi zu setzten. Frech und ohne mit der Wimper zu zucken wurden große Umfahrungen vorgenommen oder vermeintlichen Baustellen ausgewichen.

Als das Taxi das Ziel erreicht hatte, war Felix froh, wieder an die frische Luft zu können, da es im Innenraum so gerochen hatte, als wenn der Fahrer darin wohnen würde.

Trotz all dieser negativen Gedanken bedankte sich Felix höflich und gab auch etwas Trinkgeld, worüber er sich wie gewöhnlich im Nachhinein über seine eigene Unehrlichkeit ärgerte.

Das Haus Nummer 9 machte auf Felix einen eher abstoßenden und düsteren Eindruck. Hier soll man gesund werden?, fragte er sich zweifelnd. Was er sah, glich einem jener Häuser im viktorianischen Stil, denen seit hundert Jahren tapfer jeglicher Farbanstrich verweigert wurde.

Alle unteren Fenster waren vergittert und die Fenster besaßen bis zur halben Höhe Milchglasscheiben. Will hier jemand etwas verbergen oder wurde hier früher etwas verborgen?, dachte Felix unwillkürlich.

Die Klingelanlage mit eingebauter Kamera schien dagegen, hochmodern zu sein. Jetzt bemerkte Felix auch an einer Häuserecke in gut vier Metern Höhe eine Kamera.

Er drückte auf den Klingelknopf, konnte jedoch kein Klingeln oder irgendeinen Ton hören. Doch dann knackte es am Schloss und die Tür stand einige Millimeter offen.

Als er sich durch die schwere Holztür geschoben hatte, erwartete ihn eine überdimensionierte Empfangshalle mit einer nicht weniger ausladenden Treppe.

Er ging die knarrenden Stufen hoch, vorbei an geschnitzten Putten und Sagengestalten. Sie schienen geradewegs der Hölle entkommen zu sein und wandten sich mit schmerzverzerrten Gesichtern hinauf zur nächsten Etage.

„Ah, kommen Sie doch rein Herr… Sie wurden uns schon angekündigt. Na nicht so schüchtern! Aber natürlich können Sie auch dort erst mal stehen bleiben. Wir halten das immer so. Jeder soll am Anfang so viele Schritte machen, wie er persönlich mag.“

Felix schloss die Tür hinter sich und stand nun unschlüssig im Raum, dabei schaute er etwas angestrengt auf den Sprecher und die übrigen Anwesenden.

„Also ich bin Felix…und wollte einfach mal vorbeischauen“, stellte er sich vor.

Acht Leute saßen auf Stühlen, die im Halbkreis aufgestellt waren.

Nur wenige drehten sich kurz um. In der Mitte stand eine Musikanlage. Einige hatten Kopfhörer auf, andere schrieben etwas auf kleine Kärtchen.

„Und ich bin hier der, wie sagt man es, ja ich bin hier der Moderator, mein Name ist Reißmann und von Beruf bin ich Diplom-Psychologe. Natürlich benötigt eine Selbsthilfegruppe keinen Leiter, deshalb der Begriff Moderator.

Übrigens, indem Sie die Tür gerade hinter sich geschlossen haben, zeigen Sie der Umwelt ihren Entschluss, sich einer Gruppe anzuschließen. Sie zeigen noch mehr! Sie zeigen, dass Sie bereit sind, sich über das eigene Leiden zu informieren und sich das Ziel zu setzen, nicht an der bisherigen Starre festzuhalten. Das ist bereits der bedeutendste Schritt zur Heilung.“

Reißmann stand auf und ging zu Felix, bot ihm die Hand an. Felix schlug ein.

„Willkommen!

Hier nehmen Sie bitte meinen Stuhl, ich hole in der Zwischenzeit Ihr Aufnahmeformular.“

„Aufnahmeformular?“,fragte Felix erstaunt während er sich zu den anderen setzte.

„Ja, ja, nichts Schlimmes. Nur ein wenig Bürokratie. Wir verdanken unsere Möglichkeiten hier einer Stiftung, die sich wiederum aus Geldern einer kleinen, aber umso großherzigeren Anzahl an Unternehmen der forschenden Arzneimittelindustrie speist. Wir nutzen das Geld zum Beispiel zur Anschaffung der Tontechnik, zur Deckung der Mietkosten, sicherlich wird damit auch mein Honorar aufgebracht. Ich kann Ihnen versichern, dass wir Ihnen hier mit größter Offenheit begegnen. Im Gegenzug nehmen wir bei jedem Neuankömmling kurz seine Ausgangssituation auf, ein paar persönliche Daten, welche Medikamente er einnimmt, von wem er die Medikamente erhalten hat, welche Vorerkrankungen er und seine nahen Angehörigen hatten. Dann haben wir noch einen kleinen Psychotest. Da kreuzen Sie zwischen 0 und 4 einfach das Kästchen an, was Ihnen am meisten zusagt. Ähm, okay, manche haben damit so ihre Schwierigkeiten, denn der ist in Englisch. Das ist nun mal so, bei modernen Studien. Aber natürlich können Sie mich fragen, wo Sie nicht weiterkommen. Wie gesagt: Nichts Schlimmes. Sie können das alles in Ruhe zu Hause dann ausfüllen“, meinte Reißmann und war schon aus der Tür.

Felix hielt die Formulare unschlüssig in den Händen und hatte im Moment keine Lust, sich darum zu kümmern. Stattdessen musterte er die im Halbkreis sitzenden Leute. Ein großer kräftiger Mann hatte Kopfhörer auf und schien Musik zu hören. Drei Frauen lauschten konzentriert einer sehr jungen Frau, die unter Tränen über ihr bisheriges Leben berichtete.

Felix nahm seinen Stuhl und rückte näher in den Halbkreis. Er nickte, ohne jemanden direkt anzuschauen und grüßte: „Bin der Felix.“ Keine der Frauen beachtete jedoch Felix groß. Nur sein neuer Sitznachbar, hielt ihm die Hand hin und sagte leise: „Willkommen im Club, ich bin der Roland.“

Die junge Frau schaute hoch, schnäuzte sich kurz die Nase und erzählte dann weiter mit gleichbleibend leiser Stimme:

„Tja, was soll man zu solchen Gefühlen weiter sagen. Ich trage sie seit zehn Jahren mit mir rum. Ich habe Geschichte auf Lehramt studiert und direkt vor meinem Staatsexamen standen alle schlechten Sachen dieser Welt plötzlich Schlange vor meiner Tür. Ich bekam eine Hausstaub- und Tierhaarallergie, ich nabelte mich von meinem Elternhaus ab, weil ich die ständigen Belehrungen nicht mehr ertragen konnte, mein Freund verließ mich wegen einer anderen, ich musste HartzIV beantragen, weil die Eltern nicht mehr zahlten und dann kam der Prüfungsstress dazu. Was willst du mehr? Super, oder? Was folgte, war der erste Nervenzusammenbruch. Den zweiten hatte ich im Referendariat. Ich merkte, dass ich Kinder hasste, aber da war alles schon zu spät. Super, oder? Alles verloren, geil, nicht?

Ich werde, wenn ich aus der Misere wieder rauskomme, einen normalen Beruf erlernen, vielleicht Ergotherapie…aber keine Kinder!

Jetzt habe ich die neuen Tabletten bekommen, viel Sinn sehe ich da aber nicht drin…“

In der Pause gingen die Raucher in den Hof, der weitläufig von einer zwei Meter hohen Efeu begrünten Steinmauer umfasst wurde.

Roland, der Sitznachbar von Felix, blieb auch diesmal in der Nähe von Felix.

Während Felix das Aufnahmeformular studierte, entpuppte sich Roland als Kettenraucher.

Felix kam an eine bestimmte Stelle im Formular und las die Frage halblaut vor:

„Welcher Arzt übergab, beziehungsweise verschrieb Ihnen das oben genannte, die oben genannten Medikamente? -

Komisch hier sind ja gleich zehn Ärzte schon eingetragen, man soll bloß noch ankreuzen? Wie denn das? Was macht jemand, der von einem anderen Arzt kommt?“

Roland zuckte mit den Schultern und meinte:

„Ja, ist schon so hier, alles etwas elitär, kreuze einfach an, dann hast Du Ruhe. Die wollen doch bloß alle was abrechnen…“

„Na gut, okay, aber hier geht’s jetzt um: physical well-being, social/family well-being, additional concerns, emotional well-being und funktional well-being…das ist ja der Hammer, da brauche ich ja zwei Stunden dafür, um alles zu beantworten! Okay, zumindest die Fragen unter „physical well-being“ kann ich ja schon mal angehen, also: I have lack of energie…da kreuze ich die Ziffer 2 an, mit „Somewhat“.

Dann: Because of my physical condition, I have trouble meeting the needs of my family…mhh, da kreuze ich die Ziffer 3 an, mit „Quite a bit“…Ach ich geb’s doch auf. Ich mache das später zu Hause.“

„Was nimmst Du eigentlich zur Zeit?“, fragte Roland, während er den kläglichen Rest seiner Zigarette an der Hauswand ausdrückte.

„Du meinst, welches Medikament ich nehme? Ich nehme zurzeit gar nichts. Aber mein Arzt hat mir so‘n Zeug mitgegeben. Das Mittel hat keinen richtigen Namen. Es war eine Zahl…warte, ich hab‘s, 463, ja genau. Alles ohne Beipackzettel. Ich glaube, die Ärzte halten uns alle für Idioten. Schluck und frage nicht, so ist deren Devise“, antwortete Felix.

„Du, die Zahl, die habe ich schon mehrfach gehört. Hier waren schon eine Reihe von Typen. Jeder von denen hatte schon mindestens das fünfte Präparat. Dann tönten sie, dass sie neuerdings 463 bekommen hätten. Ja und was soll ich Dir sagen, keiner kam das nächste Mal wieder zur Gruppe. Ich habe keinen von denen je wieder hier gesehen. Vielleicht hast Du Schwein und bei Dir klappt‘s ja auch mit dieser Wunderheilung“, meinte Roland, während er sich eine neue Zigarette anzündete.

„Eh, Roland, nicht noch eine, wir müssen wieder rein.“

„Na gut, aber eins machen wir noch. Hier!“, sagte Roland und hielt Felix grinsend einen Flachmann mit Schnaps vor die Augen. Aus welcher Tasche er den gezogen hatte, blieb für Felix ein Rätsel.

„Okay, aber nur zwei Schluck.“

Von da an waren die beiden in jeder Pause die Letzten.

Bei den folgenden Treffen trat genau das ein, was auch Roland gegenüber Felix schon angedeutet hatte.

Es kamen Leute zur Selbsthilfegruppe, die nach anfänglichem Zögern begannen, sich vor völlig fremden Menschen zu öffnen und über ihre Probleme zu reden. Die gerade aktuelle Medikation spielte dabei immer eine große Rolle. Relativ schnell wurde Felix so etwas wie ein Spezialist in Sachen Nebenwirkungen der verschiedensten Arzneimittel gegen eine Depression. Aber er wusste auch, dass das alles für ihn nur graue Theorie war, denn er selbst nahm bisher nichts.

Leider kamen keine Leute zu Wort, die das Medikament mit der Bezeichnung 463 eingenommen hatten. Es waren schlichtweg momentan keine in der Gruppe. Felix hatte nun für sich entschieden, solange zu warten, bis einmal jemand auftauchen würde, der Erfahrungen mit eben jenem Medikament gemacht hatte.

Beim Rauchen in der Pause fragte Felix einmal Roland:

„Sag mal, weshalb bist Du eigentlich schon solange hier in der Gruppe? Was suchst Du hier? Sorry, aber entschuldige, Du kommst mir völlig gesund vor. Ich meine…“

Roland fing an zu lachen und meinte dann voll Heiterkeit:

„Echt, echt? Ich bin normal? Ne, Du hast gesagt, ich komme Dir völlig gesund vor! Herrlich! Ach Du bist wirklich goldig! Mann, hätten wir uns bloß schon früher kennen gelernt, ne echt wirklich!“

„Du hast mir meine Frage nicht beantwortet. Ist ja auch nicht schlimm, dachte nur…“

„Okay, okay. Ich versuch‘s zu erklären. Also, es stimmt, ich habe keine mittelschwere oder schwere Depression. Ein Arzt hat bei mir mal eine leichte Depression diagnostiziert. Ich habe mir das nie durch eine Zweitmeinung bestätigen lassen. Ich habe dann nicht nur abends mein Quantum an Alkohol getrunken, sondern auch mittags und schon ging es mir besser.“

„Und was hast Du in die Aufnahmepapiere geschrieben?“

„Ich sage Dir, dem Reißmann kannst du ohnehin nichts vormachen, der hat schnell kapiert, dass ich in der Gruppe für etwas gut bin. Ich bin das Stückchen Normalität für Euch, sorry, den Kranken. Aber eigentlich scheine ich mehr für Reißmann und seine, wie soll ich sagen, für seine Studien zu sein. Ich denke, ich bin das Placebo in dieser Gruppe. Ihr schluckt alle fleißig Eure Mittelchen, bekommt Blut abgenommen und ich schlucke Alkohol in überschaubaren Mengen, genauso wie es der brave Bürger draußen auch macht.“

„Wieso Blut abgenommen, ich denke das ist hier‘ne Selbsthilfegruppe?“

„Okay, dann weißt Du es eben jetzt. Sobald Du beginnst, dein Medikament einzunehmen, wird in regelmäßigen Abständen eine kleine Blutprobe genommen. Da machen bisher auch alle ganz lieb mit, denn sie erfahren, ob ihnen das Mittel wirklich gut tut oder eben auch nicht.“

Die wenigen Stunden in der Selbsthilfegruppe taten Felix jedenfalls, wie er selbst meinte, gut. Er legte wieder mehr Wert auf sein Äußeres.

Zuhause nach den Treffen angekommen, kümmerte er sich um seine Wäsche und fing sogar zu bügeln an. Wenn alles erledigt war, begann er sich zu langweilen. Dieses Gefühl kannte er schon lange nicht mehr. Während er immer häufiger an all die Lebensgeschichten und Schicksale der anderen Gruppenmitglieder dachte, nahm er den Zustand seiner Wohnung plötzlich auch wieder mit anderen Augen wahr.

Hier kann ich niemanden einladen, hier darf niemand rein, viel zu schmutzig und unaufgeräumt, dachte Felix bedauernd.

Nach zwei weiteren Tagen, die Felix als einen Zeitraum mit erdrückender Leere wahrnahm, brüllte er laut in Richtung Fernseher:

„Schluss jetzt!“

Sofort klopfte es von der Wohnzimmerdecke und jemand rief:

„Ruhe! Ich hab die Schnauze voll von diesem Haus. Ich habe Feierabend!“

Felix schwang sich von der Couch, das heißt er versuchte es und wollte aufstehen. Im selben Moment spürte er einen stechenden Kopfschmerz, sein Knie stieß hart an den kleinen Tisch vor ihm. Langsam rollte die leere Schnapsflasche auf dessen Rand zu. Felix wollte die Flasche halten, aber er war viel zu langsam. Scheppernd, aber ohne kaputt zu gehen, knallte die Flasche auf den staubigen Dielenboden.

„Ich habe Ruhe gesagt, sonst…“, rief die Stimme wieder von der Decke. Dann klirrte es über Felix, ähnlich wie eben bei ihm im Wohnzimmer.

Felix schleppte sich zum Fenster und hielt sich dabei seinen Kopf. Es war früher Nachmittag. Er machte das Fenster weit auf, hob die Gardine über den oberen Fensterrahmen zurück ins Wohnzimmer. Während er das Fenster geöffnet ließ, ging er in die Küche, um den Abfall nach unten zu schaffen.

Beim Anblick der Massen an leeren Flaschen und der vielen bis an den Rand gefüllten Abfallbeutel, hätte er sich beinahe wieder umgedreht, um von dem schier unlösbaren Vorhaben wieder abzulassen. Doch ein fixer Gedanke beherrschte ihn im Moment.

Es waren noch zehn Tage Zeit bis zum nächsten Treffen der Selbsthilfegruppe. Wie sollte er die überstehen, vor Langeweile? Felix konnte und wollte nicht mehr so weiter machen wie bisher.

Ob er es wirklich schaffen würde, seine Depression wieder los zu werden?, dachte Felix. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er sich dieser Frage in den zurückliegenden Wochen nie gestellt hatte. Woher kam dieser plötzliche Wandel?, fragte er sich nun doch.

Er nahm in jede Hand zwei Beutel mit Abfall und machte mit dem Ellenbogen seine Wohnungstür auf. Gerade als er rausgehen wollte, fiel ihm die Antwort auf seine Frage ein. Es war ganz einfach. Er hatte der Gruppe angekündigt, bei der nächsten Zusammenkunft über sich zu reden, sein Problem und so…, eben über seine Krankheit.

Die Suizid-App

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