Читать книгу Die Suizid-App - Peter Raupach - Страница 6

Das Medikament

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Eines Tages, für Felix mochten es gute vier Wochen nach seinem Arztbesuch gewesen sein, klingelte das Telefon.

Felix angelte sich sein iPhone mit zwei halbwegs trockenen Fingern, da er sich gerade rasierte. Obwohl er starken Bartwuchs hatte, rasierte er sich nur noch einmal in der Woche, wenn er nachmittags zur Gruppe ging. Das Wischen auf dem Display gestaltete sich schwierig, doch dann konnte er die auf laut gestellte Stimme gut verstehen. Er hielt das Telefon trotzdem zehn Zentimeter vom Ohr entfernt, weil er gerade sein Gesicht eingeschäumt hatte. Während er in den Spiegel schaute, murmelte er:

„Ja, hier Felix …“

„Guten Tag, Arztpraxis Doktor Schwenker, Schwester Evelin. Weshalb ich anrufe ist, der Doktor möchte wissen, ob bei Ihnen soweit alles in Ordnung ist? Die Packung, die Ihnen der Doktor mitgegeben hat, müsste ja nun auch schon so gut wie alle sein…oder?“

„Danke der Nachfrage. Bei mir ist soweit alles okay. Ich wollte sowie morgen…äh nein, nächste Woche wegen der Verlängerung der Krankschreibung…“

„Sie haben Glück, der Doktor macht mittwochnachmittags Telefonsprechstunde, kleinen Moment ich stell durch!“

„Aber…“

„Ja hier Doktor Schwenker?“

„Äh, ähm hier ist Felix…Die Schwester hat..“

„Ach Herr ….alles kein Problem. Dafür sind wir ja da. Weshalb zahlen Sie sonst Krankenversicherung?

Also wie sind Ihnen die Tabletten bekommen?

Herr …? Sind Sie noch dran?“

„Ja, ja bin ich. Also, Herr…Herr Doktor Schwenker, die Sache ist die…ähm…dass es mir schon wieder ganz gut geht, denke ich. Da brauchte ich die Tabletten nicht.“

„Aha, verstehe. Nun gut. Also hören Sie zu. Sie sollten die Tabletten nehmen. Nein nicht sollten, sondern müssen. Sie sind doch ein intelligenter Mensch. Was hatten Sie noch gerade gemacht…ach ja hier steht es…Sie sind Banker. Na da können Sie doch rechnen und verstehen doch sicherlich eine Menge von Ungleichgewichten zwischen Soll und Haben, stimmt‘s?“

„Aber ich…“, murmelte Felix.

„Na sehen Sie. Und so ein Ungleichgewicht liegt bei Ihnen jetzt vor. Da sind chemische Botenstoffe im Ungleichgewicht. Das geht nicht innerhalb von vier Wochen weg. Mag sein, dass es Ihnen im Moment etwas besser geht, denn Sie gehen ja auch zur Selbsthilfegruppe, wie man mir berichtete… Aber das ist ja gerade das Tückische an dieser Krankheit. Sie gaukelt Ihnen vor, es ist wieder alles in Ordnung, um dann mit voller Wucht wieder zu kommen. Also seien Sie vernünftig und nehmen dann gleich, wenn Sie aufgelegt haben die erste Tablette. Wir haben schon viel zu viel Zeit verloren. Ich stell zurück zur Schwester, danke!“

„Schwester Evelin…also die Verlängerung schicke ich Ihnen zu. Ach ja, noch eins. Es ist eine Bitte. Sollten Sie sich doch gegen den ärztlichen Rat entscheiden und die Tabletten nicht einnehmen, so bittet Sie der Doktor, dringend die Packung zurück zu bringen. Sie ist Eigentum der Praxis.“

„Ja, geht in Ordnung. Danke.“

„Auf Wiederhören.“

Gleich nachdem Felix aufgelegt hatte, nahm er die Tablettenschachtel, ging in die Küche und füllte ein Glas Wasser. Was soll‘s, dachte er und drückte sich eine der schwarzroten Kapseln in die Hand.

Wird mich schon nicht umbringen, war sein Gedanke, als er die Kapsel mit dem Wasser runter schluckte.

Dann kamen die Zweifel wieder. Waren die Kapseln der Ausweg aus der Depression oder der Einstieg in die Abhängigkeit von einem Medikament?, dachte er. Die Frage ließ ihn in den nächsten Minuten nicht mehr los. Das Internet konnte hier nicht weiterhelfen. Es gab nur Werbung für Arzneimittel und Foren, die ihn jedes Mal noch tiefer hinunter zogen.

Mechanisch zog er seine Schuhe an, nahm seine Jacke und verließ die Wohnung. Er wollte in eine möglichst weit entfernt gelegene Apotheke. Das Medikament hatte er mit.

Von der Westendstraße aus lief er einige Minuten fast ziellos durch die Straßen des abendlichen Regensburgs. Dann sah er, dass gerade ein Bus der Linie 6 im Begriff war zu halten. Er entschied sich einzusteigen. Am Dachauplatz stieg er aus und wechselte sofort in eine wartende Linie 13. Er hätte nicht sagen können, weshalb er das getan hatte. Er wusste nur, dass er weg von seiner Wohnung wollte…war es eine Art Verfolgungswahn? Felix spürte eine merkwürdige Veränderung seines Denkens, er nahm alle Geräusche überdeutlich wahr, schwitzte und sein Puls ging schneller. Er spürte sein Herz schlagen, als ob er gerade einen Dauerlauf absolvieren würde. Waren das Nebenwirkungen des Medikamentes?, fragte sich Felix verstört.

Dann, endlich sah er eine Apotheke, doch der Bus fuhr noch ein paar hundert Meter weiter. Er stieg aus und lief die Strecke zurück. Seine Sinne waren plötzlich hypersensibel. Er roch die Luft in der Straße, Laternen blendeten und er nahm einen Familienstreit aus einer Wohnung, die sich auf der anderen Straßenseite befand, wahr. Die Geräusche nahmen weiter zu und es wurde fast ohrenbetäubend für ihn. Felix hörte Dutzende von Menschen gleichzeitig sprechen, obwohl höchstens drei Personen ihm auf dem Gehweg begegneten. Dann veränderte sich sein Sehen innerhalb von Minuten. Alle Autos, Straßenschilder und Schaufenster erhielten einen eigenartigen Glanz. Seine Augen begannen zu schmerzen von all dem Licht. Sein Gehirn hatte bereits die Anzahl aller Fenster registriert, die sich in dem Straßenabschnitt befanden, den er gerade, von der Bushaltestelle kommend, passiert hatte. Es waren einhundertsieben…

Fast fotografisch prägte er sich die Öffnungszeiten, Werbeauslagen und den Namen des Inhabers von der Apotheke ein, die er gerade betrat. Der Inhaber hieß Damian Bergmann. Es war für Felix augenblicklich wie eine Art Befreiung, denn beim ersten Schritt durch die Eingangstür glaubte er sich wieder in größerer Sicherheit zu befinden.

Doch dann wirkte plötzlich der Verkaufsraum beängstigend eng auf Felix. Sofort duckte er sich etwas. Fast meinte er, dass sich die Warenständer jeden Moment auf ihn stürzen könnten.

Zum Glück sah er dann den Apotheker hinter seinem Verkaufstisch stehen.

„Guten Tag, Herr Bergmann“, begann Felix das Gespräch. Der Apotheker schaute etwas irritiert, da er selten von unbekannten Kunden mit seinem Namen angesprochen wurde.

„Können Sie mir etwas über die Wirkungsweise, oder besser noch etwas über die Nebenwirkungen dieses Medikamentes sagen? Kann ich davon süchtig werden?“, fragte Felix den Apotheker und hielt ihm die mitgebrachte Schachtel hin.

„Darf ich?“, fragte der Apotheker höflich und nahm die Schachtel.

„Herr Bergmann, mein Arzt hat sie mir gegeben, es soll bei einer Depression helfen. Ich denke, es ist ein ganz neues Medikament, es soll auch nicht müde machen…ähm, so sagte er.“

Der Apotheker hielt die Packung von Felix in der Hand und las, für Felix gefühlte zwei Minuten, den dürftigen Text auf den Seiten der Packung. Dann schob er seine Brille hoch und meinte:

„Also, etwas kann ich Ihnen mit Bestimmtheit sagen: Von Antidepressiva sind Abhängigkeiten kaum bekannt. Das heißt, Sie können von Beruhigungsmitteln und Schlaftabletten in kurzer Zeit abhängig werden, man kann dazu auch süchtig sagen, aber von Antidepressiva nicht.

In Ihrem Fall hier bin ich überfragt. Wir Apotheker kriegen solche, ja sicher, es wird sich bestimmt um so etwas handeln…also ich meine, wir bekommen solche Erprobungspackungen fast nie zu sehen. Ihre Packung hat auch keinen Strichcode, das heißt wiederum, dass dieses Medikament in keiner öffentlich zugänglichen Datenbank registriert ist. Das muss es aber auch nicht, da es ja noch in einer Entwicklungs- und Zulassungsphase ist.

Darf ich fragen, wer Ihnen das Medikament ausgehändigt hat?“

„Ähm, eigentlich möchte ich das nicht. Ich kann Ihnen nicht sagen weshalb, aber ich möchte auch keine Schwierigkeiten mit meinem Arzt oder der Krankenkasse bekommen. Ich bin aber zum Glück in einer Selbsthilfegruppe gelandet und mir geht’s endlich seit Wochen das erste Mal besser.“

„Entschuldigung, kein Problem, ich habe dafür Verständnis. Ich möchte Ihnen trotzdem noch kurz einen wichtigen Hinweis geben, den man bei Antidepressiva bedenken sollte. Da ich bei Ihrem Medikament nicht weiß zu welcher Gruppe es gehört, kann es nur ein allgemeiner Ratschlag sein. Also es gibt zwei Arten von diesen Medikamenten. Die einen beruhigen und bremsen die Aktivität. Beruhigen, das heißt sie sedieren. Das ist jedoch nicht unbedingt gleichzusetzten mit müde machen. Die Angstzustände und anderen Beschwerden verschwinden in frühestens drei Wochen. Die andere Gruppe wirkt relativ schnell aktivitätsfördernd. Die eigentlichen depressiven Symptome verschwinden aber auch erst in…äh, okay warten Sie, ja in frühestens zehn bis vierzehn Tagen. Man braucht also etwas Geduld. Im Übrigen sollte man bei der letzteren Gruppe unter Leute gehen, sich ablenken, etwas tun, was man schon lange nicht mehr gemacht hat.“

„Weshalb wird das denn gerade bei der letzten…Sie nannten sie die, die Aktivität steigert, so empfohlen?“, fragte Felix interessiert.

„Na ja, das ist allemal besser, als zuhause zu sitzen und negative Gedanken zu bekommen…“, antwortete der Apotheker vorsichtig. Als er jedoch den fragenden Gesichtsausdruck von Felix bemerkte, fügte er hinzu:

„Nun gut, das überschreitet hoffentlich nicht meinen Kompetenzbereich, aber Sie haben gefragt.

Also, bei der Gruppe von Antidepressiva, die die Aktivität steigern, gibt es eine Gefahr…eine wahrscheinlich geringe Gefahr. Man könnte es sicher auch fachchinesisch als unerwünschte Wirkung umschreiben. Es besteht eine erhöhte Suizidgefahr…

Ähm, verstehen Sie? Es gibt Patienten, bei denen bewirkt die Aktivitätssteigerung, dass sie einen depressiven Entschluss, sich umzubringen, in die Tat umsetzen. Vor allem, wenn die Wirkung noch nicht antidepressiv ist, also in dem Zeitfenster von zehn bis vierzehn Tagen, da ist die Gefahr durchaus gegeben. Deshalb lässt man Jugendliche in dieser Zeit eben besser nicht allzu oft allein.“

„Okay…verstehe, nein, nein…das trifft alles für mich nicht zu. Aber haben Sie Dank! Auf Wiedersehen.“

Wie er aus der Apotheke gekommen war und ob er sich verabschiedet hatte, dass alles wusste Felix bereits nach Minuten nicht mehr.

Nachdenklich lief er durch die Straßen, dabei bemerkte er einen zunehmenden Kopfschmerz, auch schwindelte ihm leicht. Der Schmerz wurde stärker und wütete nun als stechender Krieger.

Nun ärgerte er sich, dass er in der Apotheke nicht gleich ein paar Schmerztabletten gekauft hatte. Von den Erfahrungen der Teilnehmer der Selbsthilfegruppe wusste er, dass Kopfschmerzen und Schwindel durchaus Nebenwirkungen zu Beginn einer Behandlung mit Antidepressiva sein konnten.

Die Kopfschmerzen wurden nach ein paar weiteren Minuten so stark, dass Felix aufstöhnte und seinen Handrücken auf die Stirn drückte. Schon halb blind vor Schmerz betrat er kurz darauf die nächste Apotheke. Die Apothekerin nickte freundlich und meinte:

„Lassen Sie mich raten, sie brauchen ein Schmerzmittel!“

„Ja, bitte…und es soll schnell wirken…und wenn Sie so lieb sind, bitte gleich ein Glas Wasser dazu.“

„Kein Problem, ich empfehle Ihnen Paracetamol. Möchten Sie zehn oder zwanzig Tabletten?“

„Ich nehme drei Packungen mit zwanzig“, sagte Felix.

Während Felix bezahlte, erklärte die Apothekerin:

„Bitte überschreiten Sie nicht die Maximaldosis von vier Gramm pro Tag, sonst könnten Sie Ihre Leber schädigen. Ansonsten ist Paracetamol gut verträglich. Einen Wasserspender finden Sie dahinten neben der Eingangstür.“

Felix ging zum Wasserspender und fragte:

„Weshalb gibt es eigentlich von diesem Mittel nur so kleine Packungen?“

Die Apothekerin war schon auf halbem Weg in einen der hinteren Räume, drehte sich um und sagte:

„Gute Frage…, bis vor einigen Jahren gab es tatsächlich größere Packungen. Der Gesetzgeber hat dies jedoch geändert. Ich sag‘s Ihnen frei heraus: Es gab zu viele Suizide, also Selbstmorde damit. Da reichen leider schon einige Tabletten. Bestimmt kein schöner Tod, so ein Leberversagen. Natürlich ist das nicht die offizielle Version, aber ich sage immer, wer sich umbringen will schafft das auch.“

„Also ehrlich gesagt interessiert es mich mehr, ob…“, Felix verzog kurz das Gesicht als er zwei Tabletten mit einem Schluck Wasser herunterschluckte, „also ob diese Schmerzpillen sich mit Pillen gegen eine Depression vertragen werden“, dabei hielt er kurz seine Schachtel mit dem Präparat 463 hoch. Die Apothekerin schaute nun doch interessiert über Ihren Brillenrand, umrundete den Verkaufstresen und kam zwei Schritte näher. Felix aber winkte ab, schien seine Frage bereits vergessen zu haben und steckte die Schachtel wieder in seine Jackentasche.

„Es nennt sich 463…und soll was Neues sein…hab mich schon bei der Konkurrenz erkundigt…wird schon schief gehen. Schönen Abend noch.“, murmelte Felix, drehte sich etwas steif wirkend um und verließ die Apotheke.

Die Apothekerin sah angestrengt durch das Schaufenster hinaus auf die Straße. Es regnete und der schwarzglänzende Asphalt wurde von Zeit zu Zeit durch die Autoscheinwerfer in stumpfgraue Streifen zerteilt.

Die Schritte des letzten Kunden wirkten unsicher und man hätte meinen können, er sei betrunken.

Mit zitternder Hand griff die Apothekerin in die Kitteltasche nach dem Handy.

Auf was hatte sie sich da eingelassen, war es das wirklich wert? Doch sie brauchte das Geld, denn die Geschäfte liefen schlecht und die Bank machte Druck.

Trotzdem musste sie jetzt unbedingt den Vertreter von UCD informieren. Die Firma United Company of Drugs and IT, kurz UCD, galt in Fachkreisen als so genannter forschender Arzneimittelhersteller, der sich mit einer überaus seriös wirkenden und äußerst innovativen Aura umgab. Die Mutterfirma produzierte seit den neunziger Jahren in Tschechien vorrangig Psychopharmaka. Forschung, Logistik und Vertrieb erfolgten von Deutschland aus. Die Administration allerdings befand sich in den USA. Die Aufteilung der Geschäfts-und Produktionsbereiche warf in Fachkreisen immer mal wieder Fragen auf, wurde jedoch mit einer optimalen Ausnutzung steuerlicher Bedingungen begründet. Elisa Maria von Bärenfels, Inhaberin der Apotheke am Regina Filmtheater, wusste es jedoch besser. Hartnäckiges Fragen hatte sie der Wahrheit etwas näher gebracht. Sie wusste von Berger, dem persönlichen Ansprechpartner der UCD für sie, dass es weniger um steuerliche Vorteile, vielmehr um gesetzliche Unterschiede in den einzelnen Staaten ging. Trat die Firma zum Beispiel als Sponsor für Arzneimittelstudien am Menschen auf, so wäre sie in den USA gesetzlich dazu verpflichtet, den Namen der Firma zu offenbaren. In Deutschland gab es dieses Gesetz nicht. Was in den Staaten streng verboten war, galt in Deutschland und anderen Ländern nicht und umgekehrt. Dazwischen gab es zu nutzende Grauzonen, mit denen sich allein zwei unabhängige Rechtsabteilungen zu beschäftigen hatten. Aus einer dieser Abteilungen stammte letztlich auch der Vertrag, den Elisa Maria unterzeichnet hatte. Am Tag der Unterschrift lieferte sie bereits je fünfundzwanzig Packungen des Präparates 672 an die teilnehmenden Ärzte. Es war ein Vorgängerpräparat dessen, was der eben verabschiedete letzte Kunde ihr gezeigt hatte.

Sie suchte in der Kontakteliste ihres Handys das Wort Notfallmanagement UCD. Sie fand die Festnetznummer und eine Handynummer, sie wählte die Handynummer, denn im Firmensitz würde sie wahrscheinlich wegen der schon vorgerückten Zeit nur einen AB erreichen.

„Ja…hier Rolf Berger?“

„Entschuldigen Sie…äh, von Bärenfels, Apotheke am Regina Theater, am Apparat.“

„Grüß Gott, Frau von Bärenfels, kein Problem, wo brennt‘s denn?“, fragte Berger betont aufgeräumt.

„Da läuft gerade eine Zeitbombe durch die Stadt und stellt Apothekern dumme und gefährliche Fragen. Wie kann das denn sein, Herr Berger? Ich dachte, die Patienten erhalten das Medikament nur stationär, völlig freiwillig und sind umfassend aufgeklärt…sie erzählten doch was von Belegbetten, von Fachleuten…Außerdem werden die Phase I-Testungen doch zwingenderweise nur an Gesunden durchgeführt, außer vielleicht aus ethischen Gründen bei sonst unheilbar Krebskranken! Will hier jemand noch mehr Geld sparen? Der Patient, der eben bei mir war, sah aber nicht gesund… “

„Ach …ach ja, danke für die Information. Haben Sie zufällig den Namen des behandelnden Arztes? Äh…wir würden uns sofort um den Sachverhalt kümmern…“

„Habe ich nicht! Aber der Patient war im Besitz eines Medikamentes der neuen Versuchsreihe…ich meine das geht doch nicht!

Ich habe genau dieses Medikament vor knapp sechs Wochen an die Praxen ausgeliefert…“

„Okay, okay…bleiben Sie ruhig und machen Sie sich da mal nicht so viele Gedanken. Ich nehme mal an, dass das Präparat so effizient wirkt und möglicherweise extrem wenig Nebenwirkungen aufweist, dass einzelne Ärzte…äh, äh in Ihrem Fall ein Arzt, sich leichtfertig über die dringende Empfehlung hinweggesetzt hat…ähm, na ja er hat ganz einfach die Behandlung ambulant vorgenommen. Aber Sie wissen doch selbst als Apothekerin wie manche Ärzte sind. Da kann man mit Engelszungen reden und reden…“

„Apropos Engelszungen! Herr Berger, könnte es sein, dass es sich bei dem neuen Medikament, ich meine konkret das Präparat 463, doch wohl eher um eine Art Teufelszeug handelt? Der besagte Kunde hatte gerade wahnsinnige Kopfschmerzen, einen erschreckend emotionslosen starren Gesichtsausdruck und…“

„Das soll nicht Ihr Problem sein, meine liebe Frau von Bärenfels…falls es Ihnen um die rein wissenschaftliche Einordnung des Präparates gehen sollte, muss ich Sie daran erinnern, dass dies nicht Bestandteil ihres Liefervertrages …“

„Oh, oh warten Sie Herr Berger. Ich liefere eben dieses Medikament an verschiedene Ärzte und somit führe ich es persönlich… mit meiner Reputation in den Markt ein, das heißt, ich bringe es in den Verkehr! Laut Arzneimittelgesetz…“

„Genau, Frau von Bärenfels, und dafür erhalten Sie Geld…gutes Geld! Aber lassen wir doch an dieser Stelle das rein Monetäre mal beiseite…“, parierte Berger kalt mit einem lauernden Unterton in der Stimme.

„Also, Herr Berger, da wir schon mal beim Geld sind…ich frage mich nach diesem Vorfall nun ehrlich, ob das Verhältnis zwischen dem jetzt vorhandenen Risiko und der Bezahlung noch vertretbar günstig…“

„Liebe Frau von Bärenfels, es gibt Situationen im Leben, aber wem sage ich das! Ja, es gibt Situationen, da muss man sich entscheiden. Und dann, ja und dann muss man die Entscheidungen konsequent umsetzen. Man kann ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr anders handeln. Verstehen Sie mich, liebe Frau von Bärenfels? Sie können nicht mehr anders handeln! Sie können nicht mehr zurück!

Was würde denn Ihre Bank sagen, wenn wir als Ihr Kunde, ja Sie hören richtig, wir sind Ihr Kunde, denn Sie bringen als Apothekerin unsere Produkte in den Verkehr…hören Sie bitte jetzt genau zu! Ja, was würde Ihre Bank sagen, wenn wir denen sagen müssten, dass wir nicht mehr gerne Ihr Kunde sein wollen? Antworten Sie jetzt nicht übereilt, sondern hören Sie mir genau zu!“ Bergers Stimme klang nun fast monoton, als ob er aus einem Backbuch vorlesen würde:

„Sie als Apothekerin und Unternehmerin würden es sich aufgrund einer fixen Idee leisten können, ein international agierendes Unternehmen als Kunden zu verlieren? Glauben Sie wirklich, dass das Ihrer Bank egal wäre?

Und denken Sie doch mal einen Moment an Ihre Tochter. Nur durch Ihr bisher sehr besonnenes Handeln konnten Sie Ihr ein Studium an der Harvard University ermöglichen.“

„Aber ich könnte meine Approbation…meine Berufszulassung verlieren und dann…“

„Ich verstehe…Ach die Welt ist doch kompliziert. Und glauben Sie nicht, dass mir das alles leicht fällt…aber ich kann nicht anders. Ich bin ein Mensch, der mit offenem Visier kämpft…und lassen Sie mich Ihnen Eines versichern, ich mag Sie, weil Sie so ehrlich sind. Deshalb haben Sie mein Wort. Ich werde mich beim Controller 463 dafür einsetzen, dass Sie unseren Beratungszuschlag in Höhe von zehn Prozent erhalten…völlig unkompliziert, ohne zusätzliche Forderungen und Sicherheiten. Ja! Ja, das mache ich für Sie!

Ist das ein Wort, Frau von Bärenfels?“

„Ja,…okay, machen Sie das bitte“, antwortete Maria fast flüsternd und drückte den Namen Berger auf ihrem Touchscreen mit dem Daumen weg, fast so, als würde sie ein Insekt zerquetschen.

Maria löste sich aus ihrer Starre und ging zur Personaltoilette. Sie nahm das auf dem Waschbecken stehende Desinfektionsspray und sprühte mehrfach auf ihr Handy, um es schließlich kurz darauf doch unter heißem Wasser abzuspülen.

Berger war während des Telefonats die ganze Zeit durch sein Arbeitszimmer gelaufen. Für die tief stehende Abendsonne, die durch das Villenfenster zartrote Strahlen warf, hatte er keinen Blick, geschweige denn einen Gedanken geopfert. Blanke Panik hatte ihn während des Gespräches gepackt. Sein Anzughemd klebte noch immer auf der Brust. Doch er war sich sicher, dass seine Gesprächspartnerin von seiner Schwäche nichts mitbekommen hatte.

Nun warf er sich völlig erschöpft in seinen Arbeitssessel und stierte ins Nichts.

„Liebling kommst Du? Du weißt hoffentlich, dass wir Karten haben?“, hörte er seine Frau aus dem Ankleidezimmer rufen. Erst jetzt merkte er, dass die Tür des Arbeitszimmers nur angelehnt war.

„Ja, ja sofort…ich muss nur noch ein Telefonat machen“, antwortete er laut zurück und bemühte sich, möglichst unbeschwert zu klingen.

Doch seine Frau Ivon stand, bekleidet mit einem hellgelben Abendkleid, einen Moment später schon in der Tür und meinte tadelnd:

„Ich hätte es mir denken können. Jedes Mal dasselbe mit Dir. Wir kommen nie pünktlich weg. Heute lasse ich Dir das aber nicht durchgehen. Du telefonierst bitte im Auto. Wofür haben wir eine Freisprechanlage? Mach Dich bitte sofort fertig!“ Dann ging sie erhobenen Hauptes wieder in ihr Ankleidezimmer.

Er liebte seine Frau viel zu sehr, als dass ihn die kleinen Vorwürfe und die fordernde Art und Weise wirklich getroffen hätten. Auch die große Liebe zu dieser Frau war letztlich eine Triebfeder für sein Engagement in der UCD.

Er konnte und wollte dieser Frau nichts abschlagen. Wenn sie glücklich war, war er es auch. Deshalb durfte und sollte Geldmangel nie eine Rolle spielen. Doch was er bereit war dafür zu tun…das durfte sie nie erfahren. Berger hatte sich das nach den ersten Todesfällen, die im Zusammenhang mit der Erprobung eines neuen Antipsychotikums der UCD vor zehn Jahren auftraten, geschworen. Gerade jetzt und hier musste er wieder an das Gespräch denken, dass das damalige Mitglied der Geschäftsleitung, ein Herr Alexander Schönherr und jetzige Vorstandsvorsitzende der UCD mit ihm in einer der oberen Etagen eines Bürokomplexes der UCD in New York City geführt hatte.

Die Sätze hatten sich in sein Gehirn gebrannt. Schönherr sagte: „Jeder forschende Arzneimittelhersteller rechnet mit einer bestimmten Anzahl von Toten. Hier geht es nicht um Schuld, noch weniger um Mitschuld des einzelnen Verantwortlichen in der UCD. Hier geht es um die große Tat mitzuwirken, vielen kranken Menschen geholfen zu haben. Schauen Sie in einen Beipackzettel eines beliebigen modernen Medikamentes. Sie werden dort immer eine Tabelle finden. Unter der Rubrik Nebenwirkungen, in dieser Tabelle, finden Sie die Effizienz auch unserer Arbeit abgebildet. Was erfahren Sie unter der Rubrik seltene Nebenwirkung? Sie finden, dass von 10000 Patienten 1 bis 10 Patienten betroffen sind. Ich frage Sie, Herr Berger: Können Sie zukünftig mit 10 toten Patienten leben, ruhig leben…, wenn sie damit aber 9990 ein besseres und erfülltes Leben bieten können?“

Berger konnte es…bis heute.

Zuerst hatten ihn diese Worte belastet. Doch bereits auf dem Rückflug nach Deutschland, weit über den Wolken, ließ die Spannung nach und er versuchte, seine Arbeit in der UCD als eine Art Wohltätigkeit zu sehen.

Doch all dies war, das wusste Berger, nur die halbe Wahrheit.

Monate später erfuhr Berger, dass es bei der Erprobung neuer auf das Gehirn einwirkender Medikamente nicht nur um irgendwelche Nebenwirkungen ging, die es zu minimieren galt. Es ging um die Minimierung der akuten Suizidgefahr von Kranken, die sich einer Behandlung mit modernen Medikamenten gegen Depressionen unterzogen. Allerdings waren in den letzten Jahren weniger stark die normalen Kranken in den Fokus der Arzneimittelforschung gerückt als vielmehr die stetig wachsende Anzahl von Soldaten mit posttraumatischem Syndrom.

Bei dieser Art der Forschung konnte von einem wachsenden Markt und somit von einer sicheren Rendite ausgegangen werden. Zum anderen war man sich der gesellschaftlichen Akzeptanz dieser Forschung und Entwicklung sicher, da diese Soldaten unter Umständen eine akute Gefahr für die Gesellschaft darstellen konnten. Sie hatten Kämpfen und Töten gelernt, konnten mit modernen Waffen umgehen und fanden sich plötzlich in einer zivilen Gesellschaft wieder, die in großen Teilen mit allem Militärischen schon seit Jahrzehnten gebrochen hatte. Traumatisiert, kaum verstanden, wenig anerkannt, suchten diese Soldaten beginnend seit dem letzten Golfkrieg, später wegen der Konflikte in Afghanistan und anderswo auf der Welt, verstärkt die dafür zuständigen Therapiezentren auf. Davon gab es aber zu wenige. Die eigentlich dafür zuständigen militärischen Einrichtungen waren per se aber nicht dafür vorgesehen, den ehemaligen Soldaten monatelang auf die Wiedereingliederung in die zivile Gesellschaft vorzubereiten. Sie hatten und haben, wie zu allen Zeiten in der Armee, dafür zu sorgen, die Kampffähigkeit ihrer Militärangehörigen wieder herzustellen.

Es war für Berger mittlerweile ein offenes Geheimnis, dass die Zahlen, die ihm Schönfeld vor Jahren vorrechnete, schon lange für diese Art Klientel, also die traumatisierten Soldaten, nicht mehr zutrafen. Die in den Fachinformationen und Beipackzetteln dokumentierten Informationen galten für zivile Durchschnittsbürger, nicht aber für trainierte junge Kampfmaschinen, denen man ihre Aufgabe weggenommen hatte. Nicht zehn Patienten hatten und folgten suizidalen Absichten unter der Einnahme der neu entwickelten Medikamente, sondern hunderte. Lag es am Durchschnittsalter, an den durchgemachten Traumen? Niemand wusste es. Doch dies alles durfte niemals publik werden, deshalb entschied man sich bei der UCD andere, völlig andere Wege zu gehen…Doch diese werden, zumindest zu Beginn, noch mehr…noch vielmehr Tote kosten, wusste Berger.

Und er würde mit daran schuld sein!

Erst vor einem halben Jahr forderte Schönherr in einer Beratung vor einem ausgesuchten Kreis, zu dem auch Berger gehörte:

„Was ich in dieser Phase, zur Beantragung der Zulassung bei den Behörden, brauche, sind bessere Zahlen bei den Nebenwirkungen! Machen Sie das irgendwie, haben Sie mich verstanden? Und…und hören Sie,…falls ein Proband einen Unfall erleidet oder von mir aus unauffindbar ins Ausland übersiedelt, zählt er offiziell nicht mehr zur Studie und wird auch in der Statistik nicht mehr berücksichtigt. Also, wie gesagt, in der jetzigen Situation können wir nichts mehr am Wirkstoff ändern, der schon in der Pipeline ist, sondern nur noch an den Zahlen. Ist Ihnen das klar? Hier geht es nicht um Ihren Arsch, sondern um Millionen von Entwicklungskosten!“

Während an Berger all dies gedanklich vorüberzog, versuchte er telefonisch, eben jenen Mann in New York City zu erreichen, für dessen Geld, so schien es ihm heute, er seine Seele geopfert hatte. Ja, denn er hatte nicht nur seine Moral abgelegt, sondern sich ganz in den Dienst der Sache gestellt, so wie er es immer getan hatte, wenn es um die Erreichung eines Ziels ging. Diese Eigenschaft wurde von Machtmenschen, wie Schönherr, nur allzu gern ausgenutzt. Doch wenn Berger nun vor sich selber endlich ehrlich war, dann konnte er die ganze Schuld nicht nur auf die eine Charaktereigenschaft schieben, sondern es war vielmehr auch seine Eitelkeit, die ihn antrieb. Eitelkeit ist eine der großen Todsünden, dachte Berger, wie konnte er diesen Spruch seines alten Pfarrers aus Kindheitstagen nur vergessen haben.

Dann endlich erreichte er Schönherr. Doch das Telefonat war kurz und für Berger, innerhalb der wenigen Sekunden des Gespräches, eine Art Schlussstrich. Er hatte schon vor sich zu viel Schuld aufgeladen. Jetzt war ihm die Rückendeckung entzogen worden, er spürte es. Das alles würde er nun nicht mehr länger ertragen können. Während er mit diesen Gefühlen kämpfte, suchten seine Hände in der Schublade seines Schreibtisches.

Ivon hatte in der Zwischenzeit, von Berger fast unbemerkt, das Arbeitszimmer betreten. Mit über der Brust verschränkten Armen stand sie ein paar Schritte vom Schreibtisch entfernt und starrte vorwurfsvoll auf ihren Mann.

Als der nach dem Telefonat zu ihr hochschaute, änderte sich sofort ihr Gesichtsausdruck.

„Okay, okay…aber ich musste doch mit New York telefonieren“, sagte Berger leise, in einem resignierenden Tonfall.

„Wie siehst Du eigentlich aus? Du bist ja schneeweiß im Gesicht…ist Dir nicht gut?“, fragte Ivon beunruhigt und ging besorgt schauend auf ihren Mann zu.

„Lass sein, Ivon, ich habe nur etwas Ärger…kann uns höchstens diese Villa und mich ein paar Jahre hinter Gittern kosten…“, meinte Berger leise. Er drehte sich langsam mit dem Arbeitssessel zum großen Fenster und schaute nun doch auf einen der letzten zartrosafarbenen Strahlen der untergehenden Sonne. Ivon hörte ihren Mann in Richtung des Fensters sagen:

„Da rast ein alles zerstörender Komet auf unsere kleine, so schöne Welt zu, meine liebe Ivon…Willst Du wirklich länger mit einem Verbrecher verheiratet sein?“

Dann schwang der Arbeitssessel wieder zurück. Berger hielt sich eine Pistole an die Schläfe und sagte zu seiner Frau, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte:

„Lebe wohl, meine Ivon!“

Der Schuss klang ohrenbetäubend und der Geruch nach Blut war plötzlich allgegenwärtig.

Ivon hörte selbst ihre Stimme nicht mehr, da sie vom lauten Knall der Pistole taub war. Während sich ihr gelbes Abendkleid langsam orange vom Blut ihres Mannes färbte, stammelte sie immer wieder dieselben Worte: „Ich habe Dir doch immer gesagt…eine Waffe in der Wohnung bringt Unglück…ich habe es Dir doch immer…gesagt…eine Waffe…“

Die Suizid-App

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