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4.

Hans? Ihr Eindruck von ihm war positiv. Er ähnelte ihrem Bruder Hans-Walter, für den sie viel Sympathie empfand, obwohl der es ihr kaum vergalt. Sie war die Jüngere, und deshalb war es wohl normal, dass unter Geschwistern vom Älteren zur Jüngeren eine gewisse Distanz herrschte, die schon durch die Hierarchie geprägt wurde. Die Älteren waren einfach erfahrener, grösser und kräftiger. Sie konnten sich gegen die Jüngeren nach Belieben durchsetzen, wobei mitunter auch die Eltern eingreifen mussten, um richtige Handgreiflichkeiten unter den Geschwistern zu verhindern.

Dennoch blieb die altersbedingte Hierarchie bestehen. Und das war wohl auch richtig so! Obwohl sie zwei Brüder und zwei Schwestern hatte, war ihr Verhältnis zum ältesten Bruder aus ihrer Sicht besonders herzlich. Und der hiess auch noch Hans! Wie der Junge, der sich neben sie gesetzt hatte, der mit ihr gesprochen hatte und ihr den „legitimen“ Warenschmuggel so selbstverständlich angedient hatte, als seien sie alte Freunde. Wenn er nun den Inselrundgang nicht mitmachte, war es seine Sache, aber so ganz konzentriert war sie nun auch nicht mehr dabei! Hans hatte sich in ihr Empfinden eingeschlichen und darin einen Platz besetzt, der weit über die Eindrücke auf dem Rundgang hinaus reichte. Fast wünschte sie sich, er hätte den Rundgang an ihrer Seite mit gemacht. Sie wären nebeneinander her gegangen und hätten vielleicht dem Vortrag des Inselführers besser gemeinsam besser folgen können als sie nur allein. Sie hätten ihn kommentieren können und gemeinsam ihren Spass daran haben können.

Aber Hans musste ja erst einmal Preise vergleichen! Schade! Typisch! War Hans schon ein Mensch der Grossstadt? Hatte Hamburg schon auf ihn abgefärbt? Sie wusste inzwischen von ihm, dass er nahe bei Hamburg wohnte, aber sie wusste nicht, wie nahe! In Nordfriesland konnte der Begriff nahe etliche Kilometer bedeuten, wie sie auf der Insel Föhr gelernt hatte. Und im Raum Hamburg? Wie weit mochte er von der Grossstadt entfernt wohnen? Welchen Einfluss hatte sie auf ihn? Hatte sie sich auch verändert, seit sie in Heidelberg studierte?

Dennoch genoss Claudia der Rundgang! Er führte an der Westseite der Insel hoch oben fast unmittelbar an der Abbruchkante zum Unterland und zum Meer entlang. Wo er direkt an der Kante entlang führte, hatte man ein Geländer aufgestellt, damit niemand einen Schritt zu weit ging. Nur in der Nähe der Lummenfelsen war es an der Kante offen. Dafür duften sie die in den geringsten Felsspalten und auf den kleinsten Vorsprüngen nistenden Vögel bestaunen. Der Führer erklärte auch einiges dazu, aber Claudia hörte gar nicht hin. Der Flug der Vögel faszinierte sie so sehr, dass sie es kaum gewahr wurde, wie die Führung weiter ging. So musste sie fast hinterher laufen, um noch etwas davon mit zu bekommen. Aber der Rest des Rundganges war bei weitem nicht so interessant wie die Bewegung der Seevögel am Lummenfelsen und an der Langen Anna, dem turmartig aufragenden Einzelfelsen an der Nordwestecke der Insel. Es war faszinierend für Claudia, einmal zu sehen, wie Lummen zielgenau den Punkt ihres Geheges unter Hunderten ansteuerten, ihre Jungen fütterten und wieder auf Nahrungssuche gehend von dem schmalen Grat der Felsen abflogen. Und das ungestört: Möwen kamen nicht bis an die Felsen heran, andere Raubvögel erst recht nicht. Und an Land lebende Raubtiere gab es auf Helgoland nicht, jedenfalls keine, die den Vögeln gefährlich werden konnten.

Hans dagegen stellte rasch fest, dass er sich diese Umschau unter den Angeboten der Geschäfte auch hätte ersparen können: Für die gleichen Waren wurden in jedem Geschäft auch die gleichen Preise verlangt. Nur bei Markenartikeln, die von einen Geschäft allein auf der Insel angeboten wurden, bei Kleidung, bei Schuhen, bei Wäsche oder Fotosachen, gab es markenbedingt Preisdifferenzen. Hier hatte jedes dafür eingerichtete Geschäft andere Produkte und andere Marken als die anderen, so dass ein direkter Vergleich gar nicht möglich war, wenn man die Preise auf dem Festland dafür nicht kannte. Aber die anderen Läden, deren zollfreie Produkte aus den am häufigsten erworbenen Massenwaren bestand, hatten alle gleiche Preise für gleiche Waren.

Er ärgerte sich ein wenig, dass er nicht mit dem Mädchen oder der Frau Claudia gemeinsam an dem geführten Inselrundgang teilgenommen hatte. Er fühlte sich angezogen von ihr. Sie war die Ältere und die Erfahrenere von ihnen, das hatte er schon gespürt ohne danach zu fragen, und wenn sie sich miteinander anfreundeten, würde Claudia es sein, die das weitere gemeinsame Vorgehen bestimmte. Er würde sich fügen müssen.

Zigaretten gab es nur stangenweise zu kaufen, jede Stange für 11,- DM, Schnaps war fast ausschliesslich in 1-l-Flaschen zu haben, und auch der kostete in jedem Geschäft das gleiche. Hans begab sich auf das Oberland, wobei er nicht den neu installierten Aufzug benutzte, sondern die Treppen hoch stieg, weil die Fahrt mit dem Fahrstuhl 20 Pfennige kostete. Und dann sah er sich die Preise am Falm an: Es waren die gleichen wie auf dem Unterland.

Jeder Händler hatte die gleiche Marge an den verkauften Waren, wenn auch sein Geschäft nicht die gleiche günstige Lage hatte. Man hätte denken sollen, dass ungünstiger gelegene Geschäfte vielleicht Kunden mit günstigeren Preisen anlockten, aber das war nicht so! Jedenfalls nicht bei den Artikeln, die in jedem Laden zu haben waren, bei Zigaretten wie auch bei Alkoholika.

Hans verspürte Hunger. Seit morgens um sieben war er unterwegs und hatte seitdem nichts mehr gegessen. Nun war es knapp halb zwei, da musste unbedingt etwas aufgefüllt werden, wenn sein etwas empfindlicher Magen sich nicht deutlich und unangenehm melden sollte. Aber wie und wo?

Er hatte auf dem Unterland zwar mehrere Restaurants gesehen, aber dort brauchte man Zeit, die er bei diesem kurzen Aufenthalt nicht hatte! Er begann zu rechnen. Es war nun 13:30 h. Um 16:00 h würde das letzte Börteboot Richtung Rüm Hart ablegen. Für um 15:45 h hatte er sich mit Claudia verabredet. Also blieben ihm gerade einmal zwei Stunden für alles, was er noch vor hatte. Da blieb fürs Essen kaum Zeit! Ein Imbiss würde ihn vielleicht gerade noch retten!

Ob es so etwas auf Helgoland überhaupt gab? Er meinte, auf dem Unterland einen Imbisstand gesehen zu haben, erinnerte sich aber nicht, wo das gewesen war. Sollte er etwa wieder zum Unterland hinuntergehen und danach suchen? Dann würde er sicher keinen Inselrundgang mehr machen können, allenfalls noch einen Rundlauf! Und danach war ihm nicht! Ausserdem wollte er beim Inselrundgang auch etwas sehen, und das im Laufschritt? Er war ohnehin nicht sonderlich sportlich. Sport war ihm eher lästig! Im Grunde war er bewegungsfaul. Aber hungrig war er nun auch!

Auf dem Oberland musste es doch auch so etwas wie ein Schnellrestaurant geben! Vielleicht nicht am Falm, aber sicher irgendwo in einer der Seitenstrassen!

Und er fand den Imbiss! Als er den Falm weiter nach Westen hinauf ging, fand er ein Restaurant, dass nach aussen hin für einen Strassenverkauf von Speisen eingerichtet war. Es gab zwar nur bestimmte kurzgebratene Gerichte, oder Suppen aus einem grossen Topf, aber das störte Hans wenig. Er wollte nur etwas zwischen die Zähne bekommen, damit er nicht auch noch auf der Rückreise mit Hunger zu kämpfen hatte. Denn auf der Rüm Hart gab es kein Essen, allenfalls einige abgepackte Kekse oder eine Tafel Schokolade, und beides war dort auch deutlich teuerer als die gleichen Produkte hier auf der Insel. Auf dem Schiff war zwar auch eine Kombüse eingerichtet, das hatte er gesehen, aber bei dem Seegang würden die Würstchen nicht im Topf bleiben! Die Kombüse war unbesetzt gewesen.

Dass mit dem gleichen Problem viele der Tagesgäste auf der Insel zu kämpfen hatten, bewies die lange Schlange von Hungrigen, die alle darauf warteten, etwas Essbares zu ergattern. Hans überlegte, ob er doch weitergehen sollte, aber als er sah, dass die Menschen ziemlich schnell bedient wurden, reihte er sich in die Schlange ein: er stellte sich hinten an. Es ging rasch voran, kurz darauf standen hinter ihm bereits so viele Leute, dass die Länge der Kette von Hungrigen nicht abzunehmen schien. Die Bedienungen waren schnell und geübt in der raschen Massenabfertigung von Tagesgästen: Es waren ja nur weniger als drei Stunden, in denen ein Geschäft zu machen war. Danach sassen die Tagesgäste schon wieder auf einem der Seebäderschiffe und fuhren heimwärts.

An einer Tafel waren die Gerichte angeschlagen, die hier ausgegeben wurden, mit den Preisen dahinter, so dass man bestellen und auch gleich bezahlen konnte. Dennoch gab es Menschen, die erst einmal mit den Bedienern diskutierten, bevor sie bestellten, was sie haben wollten, die erst dann, als das Bestellte dann vor ihnen auf dem Tresen stand, endlich ihre Geldbörse aus der Hosentasche zogen, lange im Kleingeld herumsuchten und schliesslich einen 50,-DM-Schein auf den Tisch legten, auf den dann auch noch zeitaufwändig herausgegeben werden musste. Und die den Verkaufstresen erst frei machten, wenn sich hinter ihnen bereits ein längerer Stau von murrenden Menschen gebildet hatte.

Hans hatten nur zwei von den Typen vor sich. Und das reichte ihm bereits! Er begnügte sich mit einer Bratwurst. Die konnte er zur Not auch im Gehen essen, obwohl genau das ihm immer wieder Probleme bereitete: ass er im Gehen, vergass er das Atmen, kam er dann doch zu Luft, bildete der letzte Bissen einen Pfropfen in der Speiseröhre, der sich nur dadurch auflösen liess, dass er etwas hinterher schluckte. Und wenn es ein Bier war! Aber die zehn Minuten für ein Bier standen ihm nicht mehr zur Verfügung! Wenn er den Inselrundgang noch machten wollte, musste er jetzt los, unabhängig von einer Führung mit Erklärungen. Dennoch stoppte er zunächst vor einem Schild, auf dem Inselrundgänge als Veranstaltung angepriesen wurden. Die nächste Führung war erst für 14:30 h angesagt!

Eine halbe Stunde zu spät! Nahm er daran teil, würde er nur mit Mühe noch das letzte Börteboot zur Rüm Hart erreichen! Und das bedeutete: Keine Einkäufe mehr, keinen Warenaustausch mit Claudia, um die Warenmengen für den zollfreien Einkauf der Zulässigkeit anzupassen!

Und das wurde ihm - so spürte er - zum Wichtigsten: Der Termin mit Claudia. Den durfte er auf keinen Fall versäumen! Schon wegen der Vereinbarung über das Schmuggelgut nicht! Ausserdem war er stets pünktlich! Also: Nichts ging mehr!

Hans machte sich auf den Weg um die Insel herum, sah den Lummenfelsen, auf dem nun Basstölpel nisteten, sah die Lange Anna, Helgolands Wahrzeichen, vollgeschissen mit Vogelkot, sah die Gebäude für die Energieversorgung Helgolands und das neue beheizte Meerwasserschwimmbad, das alles ohne Erklärung, kehrte auf den Falm zurück und blickte auf das Unterland.

Vom Falm aus sah er Claudia schon auf dem Lung Wai! Sie schlenderte von Geschäft zu Geschäft, eine selbstbewusste Frau, so sein Eindruck. Sie hatte ihre Windjacke ausgezogen und über die Schulter geworfen. Sie trug eine helle Bluse, die sie mit einem bunten Halstuch verziert hatte. Von hier oben gesehen wirkte Claudia ausgesprochen attraktiv auf Hans, und spontan fühlte er, dass er ihr sehr gern näher gewesen wäre.

Sie war sich wohl sehr sicher, denn sie ging zielstrebig und verschwand schliesslich in einem Geschäft, in dem sie vermutlich alles kaufen konnte, was sie oder er gern von Helgoland mit nach Föhr nehmen wollten.

Hans rannte die Treppen hinunter, fast rücksichtslos, denn einige Leute, die er hinter sich gelassen hatte, schüttelten erbost ihren Kopf, um noch das Geschäft zu erreichen, in dem Claudia verschwunden war. Auch auf dem Lung Wai rannte er fast - aber er verfehlte sie!

Im Laden war sie nicht mehr! Oder hatte er von oben gesehen eine andere Frau für Claudia gehalten? Aber er selbst hatte ja auch noch nicht eingekauft! Das musste er nun unbedingt nachholen! Als erstes fragte er nach dem Whisky, um den sein Vetter Werner ihn gebeten hatte. Den gab es in diesem Geschäft nicht! Aber man wusste, dass er ihn in den Hummerbuden bekommen würde. Er stellte dann dort fest, dass auch die meisten anderen Waren etwas günstiger angeboten wurden als im Lung Wai oder am Falm. Hans machte seine Einkäufe hier. Dann blickte er auf seine Uhr. Bis zum vereinbarten Treffen waren es noch knapp zehn Minuten Zeit. Bis dahin musste er zurück sein. Es waren nur fünf Minuten zu gehen.

Aber die Frau namens Claudia war noch nicht am Treffpunkt. Es waren ja auch noch einige Minuten bis zur vereinbarten Zeit! Hans konnte sich nicht vorstellen, dass diese angenehme Frau mit ihrem hübschen Gesicht diese Zeit wartend am vereinbarten Treffpunkt zubringen würde! Dafür war sie zu geradlinig, zu selbständig und zu selbstbewusst. Sie hatte auf ihn den Eindruck gemacht, als wäre sie eine Frau, die es nicht nötig hatte, auf jemanden zu warten. Und er überlegte: Wenn sie sich gleich auf die Inselführung eingelassen hatte, und wenn sie nun dem Einkauf allen Vorrang eingeräumt hatte, dann musste sie jetzt einen mörderischen Hunger haben, den sie an Bord der Rüm Hart kaum würde stillen können. Also suchte er nach Möglichkeiten, wo man rasch und unkompliziert zu einem halbwegs sättigenden Essen kam. Er entdeckte einen Imbiss vor einem Restaurant, fast in Sichtweite der Zollabfertigung, und ähnlich dem auf dem Oberland, wo er sich sein Mittagessen geholt hatte. Und dort sah er sie!

Auch hier hatte sich eine beachtliche Menge Menschen eingefunden, die alle noch schnell etwas essen wollten, bevor sie wieder an Bord eines der Schiffe gingen. Und auch hier wurden die Kunden rasch bedient.

Man wollte das Geschäft machen, und dazu hatte man hier unten nur dreieinhalb Stunden Zeit: vom ersten Börteboot an, das um die Mittagszeit von einem der Schiffe kam, bis vor dem letzten Boot, das die Nachzügler wieder auf das letzte Schiff brachte, das dann wieder Richtung Festland abfuhr. In diesen knapp vier Stunden musste das Mögliche verdient sein! Bis zum nächsten Tag.

Liebesbeben

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