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3. Kapitel

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Sie sind arm.

Sie sind ohne Obdach.

Sie sind ohne Freunde.

Es war einer jener nasskalten, grauen Tage, die den Winter in Berlin so unerträglich machten. Der Himmel, der nur eine Handbreit über den Dächern der Stadt hing, konnte sich nicht so recht entscheiden, ob er regnen sollte oder nicht. Also nieselte er ab und an. Es war kein Wetter zum Fahrradfahren.

Mansur und Roland waren natürlich mit dem Auto nach Kreuzberg gefahren. Mansur hatte in aller Frühe noch ein Mountainbike für 900 Euro gekauft. Er würde es nach dieser Tour vermutlich nie wieder benutzen, dachte er mit ein wenig Bedauern. Sie hatten die Räder in Rolands Volvo verstaut und waren bis zum Wassertorplatz gefahren. Dort stellte Roland den Wagen ab und beide schwangen sich aufs Rad.

Am südlichen Ende des Oranienplatzes warteten Silke und Benny vor einem mehreckigen Holzpavillon.

Nach einer kurzen Begrüßung kam die Bürgermeisterin zur Sache. »Das ist das Dokumentationszentrum, das den Refugees so wichtig war«, erklärte sie. Mansur fiel auf, dass sie nicht mehr von Flüchtlingen sprach. In dem Dokumentationszentrum spiegelte sich der zweijährige, verzweifelte Kampf von rund 100 Flüchtlingen wieder. Sie waren eines Tages im Herbst von München ausgezogen zu einem Protestmarsch nach Berlin. Alleine damit hatten sie sich schon strafbar gemacht, weil sie gegen die Residenzpflicht verstoßen hatten, jener Pflicht also, die es jedem Asylbewerber auferlegte, den Ort nicht zu verlassen, an dem er seinen Asylantrag gestellt hatte oder an den ihn die Ausländerbehörde befohlen hatte. Der Protestmarsch richtete sich gegen diese Regelung ebenso wie gegen das Arbeitsverbot, das es jedem Asylbewerber unmöglich machte, sich durch eigener Hände Arbeit zu ernähren.

In Berlin hatten sie zunächst am Brandenburger Tor demonstriert und schließlich hier auf dem Oranienplatz ein Zeltlager aufgeschlagen. Zwei Winter hatten sie hier verharrt und stets erklärt, sie würden erst wieder weichen, wenn diese Gesetze gefallen seien.

Silke hatte damals zwischen allen Stühlen gesessen, berichtete sie. Einerseits war sie immer davon überzeugt gewesen, dass die Flüchtlinge völlig recht damit hatten, diese Forderungen zu erheben, andererseits konnte sie als Lokalpolitikerin nichts, aber auch gar nichts dafür tun, diese Forderungen zu erfüllen. Im Gegenteil: Gerade, weil ihre Haltung sehr deutlich war, agierte der Innensenator bei jeder Gelegenheit gegen sie. Umgekehrt differenzierten die Flüchtlinge nicht besonders. Für sie war die Bürgermeisterin eine mächtige Frau, so mächtig, dass es ihr doch ein Leichtes sein musste, die Gesetze zu ändern. Warum tat sie es dann nicht?

Viele Flüchtlinge waren im ersten Winter in einer leerstehenden Schule untergebracht worden. Doch auf den Oranienplatz rückten andere nach. Die sanitären Verhältnisse wurden zum Problem, die Gewalt stieg deutlich an, und immer neue Flüchtlinge kamen nach Berlin. Mit den Sprechern der Flüchtlinge wurde verhandelt, um welchen Preis sie den Oranienplatz im Herzen Kreuzbergs verlassen würden. Die Forderungen blieben die Gleichen. Schließlich kam es zu Übereinkünften, die am Ende aber meist wieder platzten. Dann warfen sich beide Seiten gegenseitig Lügen vor, wo es doch offensichtlich um ein gegenseitiges Unverständnis ging.

Das alles erzählte Silke mit bewegenden Worten dem Mann aus Ägypten. »Ich weiß nicht, ob du das auch nur annähernd nachfühlen kannst.«

Mansur lächelte schwach. »Meine Eltern mussten aus Ägypten flüchten – vor Nasser. Ja, unsere Familie war damals schon reich, aber Nasser hat uns enteignet, und so konnten Vater und Mutter nur noch das nackte Leben retten und flohen nach Libyen. Dort hat mein Vater dann den Grundstein für das Familienvermögen gelegt.«

»Hier wäre ihm das wohl nicht so leicht gelungen«, sagte Silke. »Hier hätte er erst einmal nicht arbeiten dürfen.«

»Warum verbietet man Flüchtlingen zu arbeiten? Ich verstehe es nicht. Es ist doch besser, sie arbeiten, als dass der Staat sie versorgen muss.«

Benny mischte sich ein. »Sie könnten ja einem Deutschen den Arbeitsplatz wegnehmen. Vergiss nicht, bis vor kurzem gab es hier noch sehr viele Arbeitslose.«

Mansur schüttelte heftig den Kopf. »Wie kann man nur so einfältig sein?«, zischte er wütend.

Sie radelten die Oranienstraße hinunter, jene Straße, die wie kaum eine andere das multikulturelle Berlin widerspiegelte. Hier fand sich die typische chaotische Mischung, die Kreuzberg berühmt gemacht hatte: Künstler und Autonome, Türken und Araber, Inländer und Ausländer.

An der Mariannenstraße bogen sie ab. Wenige Meter weiter führte Silke sie in einen Hinterhof. Am Hauseingang trat ein Wachmann von einem Fuß auf den anderen. In dem Hinterhof stand eine kleine Turnhalle aus Backstein. Sie sprach kurz mit einem Mitarbeiter der Johanniter, der die Ankömmlinge schon misstrauisch beobachtet hatte. Dann führte er Silke und die drei Männer in die Turnhalle. Etwa ein Dutzend Frauen und Kinder verloren sich in der Halle, die auf den ersten Blick aussah, als bestünde sie nur aus grauen Doppelstockbetten. 40 waren es an der Zahl. Es war ein trostloser Anblick, der an Kasernen in amerikanischen Kriegsfilmen erinnerte – mitten im Frieden.

»Das ist auch so ein Problem. Wir müssen geschützte Räume für Frauen und Kinder schaffen. Durch die beengte Unterbringung, die Unsicherheit über den Ausgang des Verfahrens, das sich oft ewig hinzieht, und vor allem durch die Langeweile wächst in den Sammelunterkünften die Aggressivität. Zu spüren bekommen das dann oft die Kinder und die Frauen. Hier haben sie nichts zu befürchten. Sie haben – jetzt noch – mehr Platz, weil noch nicht einmal die Hälfte der Betten belegt ist. Aber ganz ehrlich. Schön ist auch was Anderes.«

Sie verließen die Turnhalle und fuhren die Reichenberger Straße hinunter. An der Ecke Ohlauer Straße bremste Silke wieder.

»Und das ist unsere berühmt-berüchtigte Gerhart-Hauptmann-Schule. Eigentlich sollten die Flüchtlinge nur den ersten Winter dort verbringen. Doch dann hat sich das Ganze verselbständigt. Und bald waren nicht nur Flüchtlinge in dem Haus, sondern auch Obdachlose, Punks, Autonome und, tja, auch Dealer. Es kam immer wieder zu Schlägereien, zu Übergriffen und allen möglichen Sexualstraftaten. Schließlich wurde auch ein Mann umgebracht. Am Ende wurde größtenteils geräumt. Drei Tage herrschte drei Blöcke um die Schule praktisch der Ausnahmezustand. Über tausend Polizisten waren hier im Einsatz.« Ihre Stimme war ganz monoton geworden. Doch plötzlich wurde sie wieder scharf und hatte einen fast verzweifelten Unterton. »Ist euch klar, wo die Leute herkommen, was sie erlebt haben, was sie auf ihrer Flucht an Not und Elend gesehen haben – und wir spielen hier mit ihnen Bürgerkrieg. Ist das zum Kotzen oder nicht?«

Mansur schwieg betroffen. Er sah Silke verunsichert an und wusste nicht genau, ob sie nun eine Reaktion erwartete. Als sie schließlich kam, war sie so unbeholfen wie falsch.

»Also, wenn ich etwas tun kann … ich habe viel Geld. Ich könnte dem Bezirk ein paar Millionen Euro überweisen, ohne dass mir das wehtäte.«

Zu seiner Überraschung winkte die Bürgermeisterin ab. »Bloß nicht. Der Senat würde sich das Geld schneller krallen, als du es überweisen kannst. Natürlich könntest du hier direkt humanitär irgendetwas tun, aber das löst doch die Probleme nicht. Kommt Jungs, ich zeig euch mal, wie manche unserer Refugees ihr Geld verdienen.«

Wieder schwang sie sich aufs Rad und trat wütend in die Pedale. Die drei kamen der durchtrainierten Politikerin kaum hinterher. Doch schon nach wenigen Hundert Metern verlangsamte sie ihren Tritt. Sie hatten die Wiener Straße erreicht, hinter der sich der Görlitzer Park erstreckte. An einem der Parkeingänge stiegen sie ab und schoben ihre Räder in den Park – durch ein Spalier von Schwarzafrikanern, die durch einige Zischlaute ganz unverfroren Rauschgift anboten. Plötzlich blieb Roland wie angewurzelt stehen und deutete auf den letzten Mann des Spaliers. Er hatte sich gerade abgewandt und erzählte laut und wild gestikulierend einem anderen irgendetwas und deutete dabei immer wieder auf ein dickes Pflaster auf der Stirn.

Mansur riss die Augen auf. »Wenn das nicht unser Freund Souliman ist!«, rief er verblüfft aus.

Benny hob die Augenbrauen und bedachte ihn mit einem vielsagenden Seitenblick.

Mansur tippte Silke an. »Und die verkaufen hier alle Drogen?«

»Jepp!«

Er reichte Roland den Lenker seines Rades. »Halt mal, ich muss da, glaube ich, etwas regeln.«

Zur sichtlichen Verblüffung von Silke ging Mansur auf einen der Dealer zu, der ihn zunächst nicht bemerkte, doch als Mansur ihn leicht an der Schulter berührte, fuhr er herum und zuckte im gleichen Moment zurück. Seine Augen rollten hin und her, als suche er einen Fluchtweg.

»Du bist doch Souliman? Eigentlich wollte ich dich im Krankenhaus besuchen«, sagte Mansur in einem sehr flüssigen Französisch.

Souliman stammelte irgendetwas Unverständliches.

Silke trat dazu, hob überrascht die Augenbrauen. »Du kennst ihn?«, fragte sie.

Mansur nickte und erzählte zum Entsetzen von Roland die Geschichte vom Vorabend. Er berichtete, wie sie eigentlich die Polizei rufen wollten, Souliman dann aber lieber direkt ins Krankenhaus gebracht hatten.

Silke quittierte die Erzählung mit einem leisen ironischen Lachen. »Schätze, dein Freund hat sich noch in der Nacht selber entlassen. Er hatte sicher viel zu viel Angst davor, dass ihn die Polizei hochnimmt und er abgeschoben wird.«

»Dann ist es aber nicht besonders klug, hier Drogen zu verkaufen.«

»Es ist die einzige Möglichkeit für ihn, an Geld zu kommen. Nicht alle, die hier rumstehen, sind Flüchtlinge, aber ganz, ganz viele. Und die, die keine sind, rekrutieren den Dealernachwuchs bei den Flüchtlingen.«

Mansur nickte leicht. Er überlegte einen Moment. »Mich würde seine Geschichte interessieren. Können wir hier irgendwo in ein Restaurant, einen Happen essen und dann erzählt uns Souliman alles?«

Silke zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Ich kenne einen netten Laden am Lausitzer Platz, keine fünf Minuten von hier.«

Mansur wandte sich an Souliman, der unbehaglich in die Runde schaute, die ihn umringte. Er fragte ihn auf Französisch: »Hättest du Lust auf ein Mittagessen? Aber nur, wenn du mir dann deine Geschichte erzählst.«

Diesmal fand Souliman die Sprache schnell wieder. »Oh ja, das wäre mir wirklich eine große Freude, Monsieur.«

»Sag Mansur zu mir.«

»Wer sind all die anderen?«, fragte Souliman misstrauisch und deutete auf Silke und Benny.

»Das sind Freunde von mir.«

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