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5. Kapitel

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Der Rettung kleiner Nachen

Wird sofort in die Tiefe gezogen.

Mansur sog scharf die Luft ein. Sein Blick wanderte vom einen zum anderen. Sie schauten einander betroffen an. Die Situation wirkte völlig bizarr und unwirklich. Da sprach einer in aller Seelenruhe über einen Mord, der in seiner unmittelbaren Nähe begangen wurde. Und trotzdem schien das alles ganz normal zu sein. Es war schwer, den Menschen, der das jetzt alles erzählte, mit demjenigen in Einklang zu bringen, der das alles erlebt hatte. Fast schien es ihnen, als spreche Souliman über jemand ganz anderen.

Wir mussten unbedingt nach Agadez. Von hier starteten die LKW durch die Wüste. Auf Omar warteten wir vergeblich. Wir hatten keine Ahnung, was mit ihm passiert war. Doch wir schlugen uns durch. Zwei Tage dauerte die Fahrt mit dem Buschtaxi. Einmal entgingen wir knapp einem Überfall. Banditen schossen auf unseren Bus. Der Fahrer trat voll aufs Gas und wir entkamen.

Doch in Agadez angekommen, hatten wir ein Problem. Es gab keinen Kontaktmann für uns. Wie sollten wir nun durch die Wüste kommen? Es war ja schon alles bezahlt, aber was nützte das, wenn wir unseren Fahrer nicht finden würden? Iris glaubte, dass es nie einen Kontaktmann gegeben hatte und Omar nur deshalb verschwunden sei. Wahrscheinlich sei es von vornherein der Plan gewesen, uns hier irgendwo in Niger unserem Schicksal zu überlassen. Ich weiß nicht, ob sie recht hatte. Es kann auch durchaus sein, dass Omar festgenommen oder von jemand getötet wurde. Auf dieser Route konnte niemand sicher sein, ob er den nächsten Tag überlebt – ob als Flüchtling oder als Schleuser.

In Agadez jemanden zu finden, der uns an die libysche Küste bringt, war nicht besonders schwer. Allerdings sollte der Transfer 1 000 Dollar pro Person kosten. Ich hatte noch genau 1 000 Dollar, zehn Hunderter versteckt in meinen Schuhen und einem Lederbeutel. Das war meine eiserne Reserve. Aber was sollte mit Iris werden? Sie hatte fast nichts mehr. Irgendwie mussten wir an das Geld kommen. Iris deutete an, dass sie es notfalls auch mit Prostitution zusammenkriegen würde. Schließlich sei sie ja schon vergewaltigt worden, dann könne sie jetzt ja auch für Geld die Beine breitmachen. Ich war völlig schockiert und sagte ihr, dass sie es nicht machen dürfe, und ich würde das Geld schon zusammenbekommen.

Essam, einer der Lastwagenfahrer, war recht freundlich und gab mir Tipps. Er meinte, dass wir noch viel mehr bräuchten als die 1 000 Euro für die Fahrt.

›Jeder von euch muss 40 Liter Wasser dabeihaben. Wir fahren einmal quer durch die Sahara, Mann. Das ist kein Spaziergang. Und dann braucht ihr Proviant, der nicht gleich verdirbt. Geh zu Tarek Mussa. Dort bekommst du ein fertiges Paket mit allem, was du brauchst. Der hat sogar Malariatabletten – und er haut dich nicht ganz so brutal übers Ohr wie die anderen. Aber 150 Dollar wirst du schon anlegen müssen.‹

Ich wandte ein, dass ich mit dem Reiseproviant nichts anfangen könne, wenn ich mir die ganze Reise nicht leisten könne.

Essam begann in blumigen Worten etwas anzudeuten, was ich zunächst nicht recht kapierte. Dann wurde er deutlicher. ›Du musst dir die Reise verdienen und da gibt es Mittel und Wege. Manche Mittel und Wege sind so einträglich, dass schon der eine oder andere an der Küste umkehrte und wieder zurück nach Agadez kam. Das ist nicht schwerer als, sagen wir, Postbote. Während andere schwer an ihrer Last tragen, ist das, was du trägst, leicht wie eine Feder.‹

Ich zuckte ratlos mit den Schultern.

›Du willst doch nach Europa, weil du deiner Familie Geld schicken willst?‹, fragte er.

Ich nickte stumm.

›Oh, Mann, hier machst du das Geld, hier. Was willst du in Europa? Meinst du, die warten dort nur auf dich? Bleib hier und mach dein Glück.‹ Essam schien ehrlich besorgt um mich zu sein.

›Und wie soll ich mein Glück machen?‹, fragte ich ein wenig patzig.

Essams Augen verengten sich. ›Kann ich dir trauen?‹

Ich nickte. Mein Hals wurde trocken.

›Tja, die Sache ist ganz einfach. Geh zu Tarek und sag ihm, dass du Proviant brauchst. Sag ihm, Essam habe dich geschickt. Er wird seine Hand öffnen und da werden zwei Datteln auf der Handfläche liegen. Nimmst du eine davon und isst sie, wird Tarek dir deinen Proviant zusammenstellen. Wundere dich nicht, wenn drei Wasserkanister dastehen. Einer von den dreien enthält nicht nur Wasser. Sollte dich jemand mit dem anderen Inhalt des dritten Kanisters erwischen, dann …‹ Er hielt inne und fuhr sich mit dem rechten Daumen quer über die Kehle. So langsam dämmerte es mir. Ich sollte Drogen schmuggeln.

›Und was ist mit Iris?‹, wollte ich wissen.

Essam lachte. ›Die reist auf deinem Ticket. Ehepaare sind unauffälliger.‹

Ich wehrte mit den Händen ab, obwohl mir der Gedanke gefiel: ›Nein, nein, Iris ist nicht meine Ehefrau.‹

Essam lachte. ›Schade eigentlich, ihr passt gut zusammen.‹

Ich räusperte mich. ›Wie soll das gehen? Sie ist Christin, ich bin Muslim.‹

Essam verdrehte die Augen. ›Vergiss diese Religions-Kacke für einen Moment. Das, was ich jetzt sage, meine ich ernst. Wenn du mit dem Stoff erwischt wirst, bist du dran, aber deine kleine Freundin auch. Und ich rede hier nicht nur von den Behörden. Ich rede auch von eventuellen Mitreisenden. Es sind Leute hier schon wegen weit weniger umgebracht worden.‹ Ich musste sofort an Stuart denken, dessen Leben Iris ein ziemlich unerwartetes Ende bereitet hatte.

›Und wenn ich es nicht mache?‹, wollte ich wissen.

›Dann nimmst du beide Datteln, bedankst dich artig und lässt dich besser nie wieder bei Tarek blicken. Solltest du doch noch von hier wegkommen, gibt’s auch noch andere Händler.‹

Ich ging zurück zu Iris und erzählte ihr von dem Treffen mit Essam. Ich war hin- und hergerissen. Zwar schien mir das Risiko gar nicht mal so groß, aber es handelte sich immerhin um Rauschgift. Dass es Kokain war, habe ich erst später erfahren. Mit so etwas hatte ich keine Erfahrung und wollte auch keine machen. Aber wenn die Sache schiefgehen sollte, dann hing Iris auch mit drin. Und davor hatte ich Angst. Doch Iris machte sich über meine Bedenken lustig. ›Du bist ja süß, mein Lieber. Hast Angst, ein wenig zu schmuggeln, weil deiner Freundin, der Mörderin, etwas passieren könnte.‹ Ich war verblüfft und auch ein wenig ärgerlich. Ich wollte nicht, dass sie so über sich sprach. Doch irgendwie schien sie ihre Scheu und Zurückhaltung verloren zu haben. Sie wirkte ziemlich brutal – und ziemlich anziehend. An diesem Tag habe ich mich endgültig in sie verknallt. Und sie sich wohl auch in mich.

Plötzlich machte es mir gar nichts mehr aus. Was soll’s?, dachte ich, dann schmuggelst du halt ein wenig Rauschgift. He, hier geht es ums nackte Überleben, was scheren mich da noch Gesetze? Es war genau diese Einstellung, die Iris schon länger trug und die sich nun auf mich übertragen hatte. Und ich sage es euch ganz ehrlich: Ich würde es natürlich wieder tun. Da unten am Rande der Sahara gab’s keine Gesetze, und wenn doch, dann wurden sie von niemandem beachtet, schon gar nicht von der Polizei.

Ich weiß gar nicht mehr, wie lange wir in Agadez blieben. Es mochten vielleicht ein oder zwei Wochen gewesen sein. Wir hatten uns aus einer blauen Plastikplane und ein paar Sperrholzkisten eine Art Hütte zusammengebaut, die nun unsere Bleibe war. In der ersten Nacht, da hielten wir nur Händchen, in der zweiten küssten wir uns und in der dritten … naja, hinterher fiel es uns dann gar nicht mehr schwer, uns wie ein Ehepaar zu benehmen.

Eines Tages kam ein Junge, etwa zehn Jahre alt, angerannt und sagte, er käme von Essam. Wir sollten mit all unserem Gepäck in einer halben Stunde bei seinem LKW sein. 20 Minuten später standen wir vor seinem Siebeneinhalb-Tonnen-Truck. Das Fahrzeug war nicht gerade groß. Allerdings war seine Größe nicht exakt zu erkennen, weil es über und über mit Bündeln, Kisten, Kanistern, Körben und Paketen beladen und behängt war.

Ich riss die Augen auf und fragte, wo denn da noch Platz für uns beide sei.

Essam grinste und deutete aufs Dach, wo sich ebenfalls schon meterhoch das Gepäck stapelte. ›Das ist gar kein Problem. Das machen wir immer so. Es schaukelt zwar ein wenig, aber ihr seid da völlig sicher. Es kommt übrigens noch ein Paar. Dann seid ihr zu viert, dann wird es nicht so langweilig.‹

Das Paar, das wenige Minuten später auftauchte, war etwa in unserem Alter. Sie kamen aus dem Sudan, genauer aus Darfur, und hatten sich durch den Tschad bis nach N’Djamena und von dort nach Agadez durchgeschlagen. Sie hatten eine Reise von fast tausend Kilometern hinter sich. Besonders gesprächig waren beide nicht. Sie war scheu und stets verängstigt, er stumm und ernst. Wenn man sie ansprach, lächelten sie freundlich, aber zurückhaltend und gaben keine Antwort. Ob sie uns nicht verstanden oder völlig traumatisiert waren – ich weiß es nicht. Ich habe von den Reitermilizen in Darfur gehört. Wahrscheinlich waren sie vor denen geflohen. Die Fahrt begann und es wurde ein grauenvolles Erlebnis. Wir saßen dort oben auf Bündeln von Gepäck, sicher mehr als vier Meter über der Straße. Krampfhaft hielten wir uns an allem fest, um nicht von Dach heruntergeschleudert zu werden. Recht bald wurde uns allen schlecht. Die Frau aus dem Sudan musste sich als erste übergeben. Wir hatten keine Möglichkeit, anzuhalten und uns zu säubern. Der Gestank war so erbärmlich, dass wir drei in kurzer Folge ebenfalls kotzen mussten.

Der Frau war es schon bei ihrer Ankunft in Agadez ziemlich schlecht gegangen. Doch jetzt wurde es mit jedem Kilometer schlimmer. Sie begann zu schreien, dann stöhnte sie nur noch.

Der LKW schwankte, schien manchmal zu kippen, wenn er in ein Schlagloch geriet, doch Essam blieb unerschütterlich am Steuer.

Einmal sahen wir einen LKW, der am Straßenrand liegen geblieben war. Vermutlich ein Achsbruch. Fünf Flüchtlinge und der Fahrer flehten, unser Truck solle doch anhalten. Doch Essam machte keine Anstalten zu stoppen und trat wie zur Bekräftigung nur noch einmal aufs Gas.

Kurz vor Sonnenuntergang erreichten wir den ersten Rastplatz, wo auch schon andere Lastwagen, die die Sahara von Süd nach Nord bezwingen wollten, haltgemacht hatten. Alle waren sie so vollbepackt wie unser LKW und sahen dadurch eher aus wie in einer Karikatur.

Wir halfen dem schweigsamen Sudanesen, seine Frau vom Dach des Trucks herunterzuheben. Alleine war sie nicht mehr in der Lage dazu. Ihr Mann legte sie vorsichtig unter eine Tamariske. Sie hatte offensichtlich hohes Fieber und schien zu fantasieren. Iris nahm etwas von unserem kostbaren Wasser, und versuchte damit unser Lager auf dem LKW-Dach zwischen all den Kisten. Bündeln und Truhen einigermaßen zu reinigen. Ich wollte und konnte sie nicht davon abhalten, obwohl ich Angst hatte, dass wir diese Verschwendung von Wasser vielleicht noch bereuen würden.

Der ganze Körper tat mir weh. Ich hatte überall Prellungen, die es mir schwer machten, mich überhaupt richtig hinzulegen. Wenn ich die Augen schloss, dann schwankte alles. Obwohl ich entsetzlich müde war, fand ich kaum Schlaf. Iris ging es da besser. Sie war sofort neben mir eingeschlafen. Doch es waren auch noch andere in dem großen Lager wach. Man hörte Lachen und Rufen. Aber auch Schreie, schlimme Schreie. Es klang, als würde jemand gequält – oder umgebracht.

Essam, der in Agadez noch so freundlich zu uns gewesen war, wechselte nun kein Wort mehr mit uns, tat so, als seien wir gar nicht da, und als ich ihn während der Rast einmal ansprach – ich wollte wissen, was mit den Menschen aus dem gestrandeten LKW passierte – fuhr er mich ärgerlich an und brüllte, ich solle mich zum Teufel scheren. Da wurde mir klar, dass wir für ihn nur noch Waren waren, nichts anderes als all die Kisten und Körbe, die an seinem LKW hingen.

Am nächsten Morgen scheuchte er uns kurz vor Sonnenaufgang auf und schrie, wir sollten uns schleunigst auf den Wagen machen, sonst lasse er uns hier zurück. Die Sudanesin atmete nur noch sehr flach. Ihrem Mann stand die Sorge ins Gesicht geschrieben, Sorge, die sich langsam aber sicher in Angst verwandelte. Ich hatte mir überlegt, an was für einer Krankheit sie wohl leide. Iris, die ja von sich selbst immerhin behauptet hatte, Krankenschwester zu sein, war auch ratlos. Als das Fieber einsetzte, hatte sie eine der Malariatabletten, die wir in Agadez erstanden hatten, angeboten. Der Mann schien zunächst erfreut, studierte dann die Tablette eingehend und runzelte schließlich die Stirn. Mit einem bedauernden Schulterzucken gab er sie zurück. Offensichtlich kannte er das Medikament und offensichtlich glaubte er, dass die Krankheit seiner Frau nichts mit Malaria zu tun hatte. Da das Fieber blieb, glaubte Iris, dass der Mann recht hatte, denn Malariaanfälle zeichneten sich eher durch Fieberschübe aus. Ich jedenfalls wurde nervös. Was, wenn das eine ansteckende Krankheit war und wir uns nun auch damit infizierten? Iris versuchte mir die Angst zu nehmen und erklärte mir allerhand schlaues Zeug, von dem ich nicht einmal die Hälfte verstand.

Sie hielt noch zwei Tage durch. Dann kam das Ende schnell. Der LKW rollte über eine einigermaßen ruhige Wüstenpiste. Völlig unvermutet geriet er aber mit dem rechten Vorderrad in ein tiefes Schlagloch. Es hob uns alle fast einen halben Meter in die Höhe, ehe wir wieder unsanft auf die Fracht krachten. Da schrie sie laut und riss ihre Augen weit auf. Sie umklammerte mit beiden Händen die rechte ihres Mannes und sagte ihm in schnellen, stakkatoartigen Worten etwa in einer Sprache die wir nicht verstanden. Dann lehnte sie sich zurück – und sie lächelte, der Kopf sank zur Seite, die Augen wurden glasig. Es war aus. Ihr Mann sagte nichts. Es klagte nicht, er schrie nicht. Nur Wasser stand in seinen Augen, als er die Lider seiner Frau zudrückte.

Souliman machte eine Pause und schluckte. Seine Stimme war in den letzten Minuten immer monotoner geworden. Es schien, als habe er gar nicht mehr zu den vier Leuten am Tisch gesprochen, sondern zu irgendeinem weit entfernten, stummen Auditorium, das von ihm nichts anderes erwartete, als einen kühlen, sachlichen Bericht über das Vorgefallene. Doch gerade die Monotonie seiner letzten Worte hatte Mansur tief berührt und ihm deutlich gemacht, wie tief das alles in Souliman drinsteckte, wie sehr ihn die Emotionen in der Tat noch beherrschten. Es war wie ein Schutzschild, das dafür sorgte, dass Souliman bei seiner Erzählung nicht von seinen Gefühlen, dem Schmerz und der Trauer überwältigt wurde.

Die anderen sagten kein Wort. Was hätten sie jetzt auch sagen können? Minutenlang herrschte Schweigen und es kam eine bedrückende Stille auf. Die Geräusche im Hintergrund, das Klirren von Gläsern, das Klingen von Besteck und das Piepsen der Registrierkasse nahm Mansur überhaupt nicht wahr. Die Realität des orientalischen Restaurants in Kreuzberg war unendlich weit weg. Nach langer Pause begann Souliman dann wieder – fast entschuldigend.

Es sind auf der Fahrt noch viele andere schlimme Dinge passiert, über die ich eigentlich nicht mehr reden will. Wichtig ist nur, dass wir drei schließlich heil in Libyen ankamen. Der Sudanese stellte sich uns nach fast einer Woche dann doch einmal vor. Er hieß Mo, einfach Mo. Ob das sein richtiger Name war oder eine Abkürzung – ich weiß es nicht. Er sprach immerhin ein paar Brocken Englisch und so konnten wir uns wenigstens verständigen. Viel sprach er deswegen trotzdem nicht. Die Trauer um seine Frau ließ ihn nicht los.

Als wir endlich an der Küste waren, dachte ich, dass wir gleich irgendwie nach Europa weiterreisen könnten. Doch ich wurde bitter enttäuscht.

Zunächst lieferte uns Essam an einer riesigen Lagerhalle ab und versicherte uns, dass von hier aus die Fracht – und er meinte uns damit – nach Europa abgeholt werde. Im Übrigen würde die Passage auch etwa 1 000 Dollar kosten. Wo sollte ich 1 000 Dollar herbekommen? Als ich ihn fragte, wie ich das anstellen solle, sagte Essam, der seine Menschlichkeit inzwischen vollständig zurückgewonnen hatte: ›Du hast ja schon mal das Geld für die Fahrt durch die Sahara zusammenbekommen, eigentlich solltest du es jetzt ja wissen, wie man es macht. Du kannst es aber auch als Bauarbeiter versuchen. Die nehmen jeden. Falls dir das zu mühsam ist – ich bin noch genau eine Woche da. Du findest mich da, wo mein Truck steht – und der steht da, wo alle stehen.‹

Ich hatte den Wink mit dem Zaunpfahl schon verstanden. Er wollte, dass ich wieder Drogen für ihn schmuggle. Aber was würde passieren, wenn man mich in Europa, gar in Deutschland, mit Drogen erwischen würde? Würden sie mich nicht sofort wieder zurückschicken? Und was würde passieren, wenn ich ohne Geld wieder zurückkäme? Ich hatte inzwischen schlimme Dinge gehört, von Flüchtlingen, die wieder zurückgeschickt worden waren – und die ohne Geld in der Heimat ankamen. Es gab Fälle, in denen hatte der Familienclan den Rückkehrer umgebracht. Von anderen Flüchtlingen hatte ich gehört, dass sie sich lieber umgebracht hatten, als ohne Geld zur Familie zurückzukehren. Ob mich meine Familie auch umbringen würde? Meine Mutter würde es sicher zu verhindern suchen. Aber würde sie sich durchsetzen können? Meine Onkels, da war ich mir ziemlich sicher, würden meinem Vater empfehlen, mich aus der Familie zu verbannen – oder mich totzuprügeln.

Die Lagerhalle war völlig überfüllt. Es war heiß und es stank, aber es war der einzige Ort, an den wir konnten. Die Aggressivität lag wie ein dicker Nebel auf den Menschen. Es verging kaum eine Minute, in der man nicht lautes Schreien, Flüche oder Schmerzensschreie hörte. Mitten in dem Chaos lagen Männer auf Bambusmatten, zugedröhnt bis obenhin oder völlig betrunken. Das war nicht besonders schlau, denn es gab andere, die genau nach solchen wehrlosen Opfern Ausschau hielten, um sie vollends auszuplündern. Wer eingreifen und das verhindern wollte, sah sich sehr schnell mit einem Messer bedroht. Drohen und Zustechen lagen oft nah beieinander.

Iris und ich hatten uns einigermaßen eingerichtet. Nach vier Tagen hatten wir zumindest ein kleines Fleckchen an der Wand der Halle ergattert, was wir bereits als großes Privileg betrachteten. In dieser Zeit lernte ich Gabriel kennen. Einen jungen, drahtigen, kleinen Mann aus Mosambik. Er machte aus seiner Abneigung gegen Westafrikaner keinen Hehl, aber irgendwie verstanden wir uns dann doch.

Gabriel war hier in der Nähe von Tripolis hängengeblieben. Er hatte sich schon vor drei Jahren auf den Weg gemacht, dann aber die Überfahrt gescheut und versuchte sich seither, hier in Libyen durchzuschlagen, was ihm überraschend gut gelang.

›Es ist Wahnsinn, zu versuchen, von hier nach Europa zu kommen‹, erklärte er uns. ›Es ist ja nicht einmal klar, ob du lebend dort ankommst. Die Schiffe, mit denen sie die Leute da rüberbringen, sind so alt und morsch, dass viele nicht mal den halben Weg schaffen. Wenn das Schiff absäuft und du großes Glück hast, dann fischt dich die italienische Marine aus dem Wasser. Die bringt dich dann auf eine Insel. Wir nennen sie nur Der große Käfig. Da lebt ihr zwei ja fast wie in einer Luxusherberge in eurer Lagerhalle hier. Wenn du erst im großen Käfig sitzt, dann brauchst du Glück. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder winken sie dich einfach durch und sagen dir, dass du fünf Tage Zeit hast, Italien zu verlassen. Wenn du weniger Glück hast, setzen sie dich ganz schnell in ein Flugzeug und du bist wieder hier in Tripolis. Und auch dann brauchst du wieder großes Glück. Entweder bringt man dich zurück nach Agadez oder sie fahren nur hinaus in Richtung Ténéré und setzten dich ein einfach ohne Essen und Trinken in der Wüste aus. Du siehst, die Chancen, dieses Abenteuer lebend zu überstehen sind nicht sehr hoch, wenn du eines der Schiffe besteigen solltest.‹

Ich biss mir auf die Unterlippe. Nein, ich hatte so viel durchgemacht, ich würde jetzt nicht einfach aufgeben. Und Iris würde es mir nie verzeihen, wenn ich jetzt einen Rückzieher machen würde. Wir hatten schon gemeinsame Pläne gemacht. Sie würde wieder als Krankenschwester arbeiten, und ich, so meinte sie, könnte dann zu Ende studieren – sie würde schon für alles sorgen.

Dank Gabriel fand ich auch einen Job. Ich half beim Be- und Entladen der Trucks. Doch was dabei übrigblieb, war kaum der Rede wert. So würde ich Jahre brauchen, um das Geld für die Überfahrt zu sammeln. Alles, was ich verdiente, brachte ich zu Iris. Sie verwaltete unser Geld. Meistens blieb sie in der Halle, bewachte unser kleines Lager und beobachtete, was sich um sie herum tat. Langweilig war das offenbar nicht, im Gegenteil. Es war schlimm zu beobachten, wie etwa bei Neuankömmlingen Tag um Tag die Wut und die Frustration anstiegen und sich dann irgendwann in Gewalttätigkeiten entluden. Und dann die Schwachen. Wer sich nicht aufplusterte, größer machte, als er war, wurde schnell zum Opfer und geschlagen, ausgeraubt oder vergewaltigt.

Iris machte sich stark. Sie begegnete jedem mit vorgerecktem Kinn, arroganter Sprache und obszönen Gesten. Mir machte das zunächst ein wenig Angst, aber es schien zu funktionieren. Sie hatte sich so einen Bannkreis von vielleicht zehn Metern geschaffen, in dem sie völlig unangreifbar schien und jeder sie mit dem größtmöglichen Respekt behandelte. So vermied sie es allerdings auch, diesen imaginären Bannkreis zu verlassen. Vielleicht ahnte sie ja schon, dass sie dann ihren Schutz verlieren würde.

Etwa zwei Monate später war Essam wieder hier. Natürlich traf ich ihn auf dem LKW-Platz. Er erinnerte sich sofort an mich und bemerkte spöttisch, dass ich offenbar eine Karriere als Kofferkuli seinem lukrativen Angebot vorgezogen habe. Tatsächlich hatte ich in den ersten beiden Monaten gerade mal 18 Dollar angespart, die nun bei Iris lagerten. Sie selbst trug auch zu unserem Lebensunterhalt und zu unserem Traum einer Passage nach Europa bei. In der Halle hatte es sich herumgesprochen, dass Iris Krankenschwester war. Und da es hier natürlich keinen Arzt gab, war sie für viele so eine Art Ersatzarzt. Viel konnte sie indes auch nicht tun. Sie kam auf den Gedanken, dass von unserem wenigen Geld, das wir noch hatten, die Anschaffung einer Großpackung Aspirin eine sinnvolle Investition wäre. So verkaufte sie die Tabletten einzeln für 50 Cent das Stück. Die armen Leidensgenossen in der Halle fanden den Preis mehr als fair und so verdiente Iris bald deutlich mehr als ich mit meinen Kisten. Wenn ich Zweifel äußerte, sagte sie nur locker: ›Natürlich kann ich mit dem Aspirin nichts heilen, aber dann lassen wenigstens die Schmerzen nach, das ist in Anbetracht der Lage wohl schon eine ganze Menge.‹ Da hatte sie zweifellos recht.

Tags darauf kam ich von der Arbeit zurück. Iris saß aufrecht auf unserem Lager. Das linke Auge war zugeschwollen. Sie hatte Schürfungen an den Armen. Ihr Kleid war zum Teil zerrissen. Wie eine Statue saß sie da, stolz und unbeugsam, aber sie zitterte am ganzen Körper.

›Unser Geld ist weg, 687 Dollar‹, sagte sie tonlos.

›Was ist passiert?‹, wollte ich wissen.

Sie streckte den Arm aus und deutete auf einen bulligen Mann, der vielleicht 30 Meter entfernt mit einem anderen Mann sprach. Er sah Iris und ihre Geste, er sah auch mich und dann erkannte ich ihn. Es war John. Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Doch er grinste nur breit und zeigte uns beiden den ausgestreckten Mittelfinger.

Iris war nicht das einzige Opfer gewesen. John hatte sich mit einem anderen zusammengetan und offensichtlich hatten sie ein ziemlich einträgliches Geschäft entdeckt, mit dem sie sich relativ schnell die Überfahrt nach Europa erarbeiten konnten. Sie raubten einfach die anderen Flüchtlinge aus.

Iris schaute sich das Treiben noch zwei Tage an, dann war auch ihr Gesicht wieder einigermaßen abgeschwollen.

›Bring mich zu Essam!‹, sagte sie, und sie sagte es in einem Ton, der keine Widerrede zuließ.

Ich versuchte es dennoch. ›Liebling, wie können nicht beide hier weg. Entweder verlieren wir den Platz oder unsere ganzen Habseligkeiten. Wir können doch hier nichts liegen lassen.‹

Sie lächelte nur und meinte: ›Wir können.‹ Sie wandte sich an eine junge Frau, die mit drei Kindern und ihrem Mann das Lager neben uns aufgeschlagen hatte: ›Ada, hast du ein Auge auf unser Zeug hier?‹ Die junge Frau strahlte vor Freude, dass sie von Iris nicht nur angesprochen, sondern auch noch mit einem Auftrag beehrt wurde. Ich staunte nicht schlecht. Sie flüsterte mir zu: ›Der Kleine hatte Durchfall, nichts Ernstes. Ich hab’s geschafft, ein wenig Blockschokolade und etwas Holzkohle zu organisieren – und weg war der Durchfall. Seither hält sie mich für eine Wunderheilerin.‹ Sie zuckte mit den Schultern.

Wir kamen zu Essam. Er erkannte auch Iris gleich wieder. Sie bedeutete mir ziemlich barsch, dass ich mich wieder in die Halle begeben sollte. Ich war völlig vor den Kopf gestoßen, ging aber wieder zurück.

Eine halbe Stunde später kam sie wieder zurück und hatte die Lippen zusammengekniffen. Ich fragte sie, was denn nun gewesen sei.

›Geschäfte‹, murmelte sie nur und drehte sich von mir weg.

In der Nacht gab es einen großen Tumult. Tumulte waren an sich nichts Außergewöhnliches. Aber dieser hatte es wirklich in sich. Offensichtlich handelte es sich um eine Art Bandenauseinandersetzung. Ich hörte Schreie, Schläge und dann ein fürchterliches Knirschen, gefolgt von einem markerschütternden Schmerzensschrei. Dann nur noch leises Wimmern, wie von einem jungen Hund, das fast die ganze Nacht anhielt. Als endlich der Morgen ein klein wenig Licht in die Halle sandte, sprang Iris auf, zog mich hoch und kämpfte sich mit mir durch ein Labyrinth schlafender Leiber. In der Mitte der Halle blieb sie stehen. Da lag John, den rechte Arm abgeknickt, und schien offensichtlich noch Höllenqualen zu leiden. Sein Kumpan lag zur Seite gerollt, zusammengekrümmt und röchelte. Die beiden waren in der Nacht von einem Rollkommando übelst zugerichtet worden. Iris sah verächtlich auf John hinunter, spuckte auf den Boden und dreht wieder um. Ich rannte ihr hinterher.

›Du … du hast das gewusst?‹, fragte ich atemlos.

Sie blieb stehen, sah mich an, umarmte mich und sagte: ›Es ist lieb von dir, wie du dich für uns beide abschuftest. Aber so werden wir nie nach Europa kommen. Schau dich doch um. Es kommen nur die durch, die hart genug sind. Die Weichen gehen hier drauf, gnadenlos. Bitte bleib du beim Lager. Das Geschäft ist noch nicht abgeschlossen.‹

Diesmal blieb sie länger weg. Es dauerte über zwei Stunden, bis sie wieder da war. Sie brachte genau 687 Dollar zurück. Sie sagte nur lapidar: ›Es ist Zeit zum Packen.‹

Eine Stunde später kam ein Libyer, der etwa 250 Menschen aus der Halle holte. Sie alle waren bereit, 1 000 Dollar oder mehr für ein Schiff zu bezahlen, dass sie nach Italien bringen würde. Wir gehörten offensichtlich dazu.

›Woher hast du das Geld?‹, wollte ich wissen und fürchtete gleichzeitig die Antwort. Sie hatte 687 Dollar, aber woher hatte sie die 2 000 Dollar? Von Essam? Wofür?

Sie schien zu ahnen, was ich fürchtete, doch ihre Antwort zerstreute meine Zweifel nicht. ›Frage mich niemals, was gestern und heute passiert ist. Wage es nicht!‹, stieß sie mir mit einem Zorn entgegen, den ich selbst bei ihr noch nie erlebt hatte. Doch das Misstrauen nagte nun an mir.

Unser alter, schweigsamer Freund Mo, den ich in den Wochen hier an der Küste nur selten gesehen hatte, hatte es offensichtlich auch irgendwie geschafft, an ein Ticket zu kommen. Wie, das sagte er nicht.

Ich versuchte die Zweifel niederzukämpfen und beschloss, mich trotz aller möglicher Gefahren, auf die Seereise zu freuen. Mir wurde plötzlich klar, wie sehr ich das Meer, das mich mein Leben lang begleitet hatte, vermisste. Die letzten Wochen war ich zwar auch nah an der Küste gewesen, vom Wasser hatte ich allerdings nichts gesehen. So beschwerlich diese Schifffahrt auch sein mochte, für mich bedeutete sie eine willkommene Abwechslung.

Wir kamen zum Hafen und ich sah eine blaue Barkasse, etwa 12 bis 15 Meter lang und kaum drei Meter breit. Für mich war es völlig klar, dass sie uns zu unserem Schiff bringen würde, mit dem wir nach Italien reisen sollten. Die Barkasse würde sicher dreimal fahren müssen, bis alle auf dem Schiff waren. Sicherlich lag es irgendwo da draußen auf Reede. Allerdings hätte man es doch sehen müssen.

Ich betrachtete die Barkasse mit Kennerblick und mir fiel sofort auf, dass sie dringend eine Überholung nötig hatte. Die Planken waren zum Teil morsch, die Farbe blätterte überall ab. Na, bis zu dem Schiff würde es uns wohl noch tragen.

›Na, willst du es dir nicht nochmal überlegen‹, hörte ich neben mir plötzlich Gabriel fragen, ›jetzt, wo du das Boot gesehen hast?‹

Ich lachte herzlich. ›Das wird schon nicht das Boot sein. Das ist doch eine Hafenbarkasse. Die sind doch nicht seetüchtig.‹

›Na, du wirst dich wundern‹, erwiderte Gabriel leichthin.

›Was tust du überhaupt hier, wolltest du mich verabschieden?‹

›Nein, ich fahr mit, ich riskiere es.‹

›Nach allem, was du erzählt hast?‹

Gabriel tat ganz verschwörerisch. ›Naja, seit dem Sturz Gaddafis hat sich einiges geändert. Die schicken jetzt keine Flugzeuge mehr zurück nach Tripolis. Das heißt, die Gefahr, in der Wüste ausgesetzt zu werden, ist jetzt auch nicht mehr so groß. Zudem weiß ich jetzt, was man tun muss, damit man drüben in Italien so schnell wie möglich aus dem großen Käfig wieder rauskommt und sich frei bewegen kann.‹

›Und würdest du dieses Wissen eventuell mit mir teilen?‹, fragte ich ein wenig hochmütig, aber durchaus auch neugierig.

›Du musst nur behaupten, dass du aus dem Sudan kommst.‹

Ich lachte hell auf. Dann deutete ich mit dem Finger auf ihn.

›Das nimmt dir doch kein Mensch ab, dass aus dem Sudan kommst. Dir sieht man den Südafrikaner doch schon meilenweit an.‹

Gabriel sah mich mitleidig an. ›Glaubst du, die Italiener können uns unterscheiden? Für die sehen selbst Nuba und Pygmäen gleich aus. Es wird funktionieren, glaub mir.‹

Zumindest in anderer Hinsicht begann ich ihm zu glauben. Denn inzwischen hatte der Beladevorgang begonnen. Tatsächlich sollten alle 250 Menschen auf das Schiff. Wie sollte das funktionieren? Die Barkasse hatte am Bug einen kleinen Raum, in dem normalerweise Taue untergebracht wurden. Er war kaum mehr als einen Meter zwanzig hoch und umfasste keine sechs Quadratmeter. Die Schlepper pferchten über 20 Menschen dort hinein. Außerdem gab es auch über der Bilge, direkt vor dem Motor noch Platz. Wir wurden in dieses Untergeschoss verfrachtet. Ich hörte Gabriel nur leise fluchen. Ich wusste auch, was ihm Sorge machte. Sollte das Schiff in Seenot geraten, wären wir die letzten, die hier herauskämen.

›Es hat auch etwas Gutes. Das Schiff hat keine Sonnensegel und wir haben Juli. Das wird ganz schön heiß da oben‹, versuchte ich ihm Mut zu machen. Doch als wir dort unten eingepfercht wurden, bereute ich schon wieder, was ich gesagt hatte. Wir hatten kaum noch Platz uns zu bewegen. Es war eng und stickig und natürlich kroch die Hitze auch schnell durch alle Ritzen hier herunter. Unter der Bilge sammelte sich öliges, brackiges Wasser.

Der Motor sprang an und erfüllte den Raum mit einer infernalischen Geräuschkulisse, einem Krach, den wir jetzt die nächsten Tage ertragen mussten. Außerdem gab nirgendwo ein Klo. Selbst wenn es eines gegeben hätte, man hätte es nicht erreichen können. So dicht waren die Menschen gestapelt. Ich hatte in einem Museum in Dakar einmal die Zeichnung vom Inneren eines Sklavenschiffes gesehen. Das unterschied sich nicht sehr von unserer Situation. So etwa stellte ich mir den Vorhof der Hölle vor.

Immerhin: Jeder von uns hatte eine Zweiliterflasche Wasser erhalten. Das war offensichtlich nicht gerade üblich, aber wir hatten keine Ahnung, wie lange das Wasser vorhalten sollte. Also versuchten wir, sehr sparsam damit umzugehen.

Gabriel, der neben mir saß, atmete schwer. Ich tippte ihn an. Er reagierte nicht.

Besorgt fragte ich, indem ich ihn laut anschrie, um den Diesel zu übertönen: ›Was ist?‹

›Jich … jich, jich krieg keine Luft‹, japste er. Gabriel war im Begriff, einen Panikanfall zu bekommen. Ich wollte Iris um Rat fragen, doch da war es schon geschehen. Er versuchte, aufzuspringen und an die Luke zu kommen.

›Ich muss hier raus, ich muss hier raus, ich ersticke … ich ersticke.‹ Tatsächlich gelang es ihm, bis an die Luke zu kommen und sie auch aufzustemmen. Doch kaum war sie geöffnet, trat ihm jemand mit dem Fuß voll ins Gesicht, so dass er wieder rückwärts zurückfiel. Wir betteten ihn vorsichtig zwischen uns. Aus seiner Nase quoll ein heftiger Blutstrom. Irgendwie gelang es Iris, die Blutung zu stoppen. Immerhin hatte er so kurz das Bewusstsein verloren und vergaß seine Panik wenigstens für den Moment.

Er erwachte wieder und tatsächlich konzentrierte er sich zunächst auf seinen Schmerz. Doch bald bemerkte er wieder, wo er eigentlich war und begann erneut schwer zu atmen. Er hechelte immer mehr und plötzlich verlor er wieder das Bewusstsein. Sein Atem setzte aus. Doch Iris wusste genau, was zu tun war.

›Hyperventilation‹, erklärte sie mir. ›Wenn du das in der Panik zu heftig machst, kommt von hinten der kleine Mann mit dem Hammer.‹ Sie setzte zu einer Mund-zu-Mund-Beatmung an. Und Gabriel fing tatsächlich wieder an zu atmen.

Obwohl die Situation sehr aufregend war, überfiel mich auf einmal eine entsetzliche Müdigkeit, verbunden mit bohrenden Kopfschmerzen. Trotzdem verfiel ich plötzlich in Schlaf.

Jemand ohrfeigte mich. Ich konnte die Augen nicht öffnen, weil ein gleißendes Licht mich blendete. Im ersten Moment glaubte ich, ich sei tot. Aber ich glaube nicht, dass man unmittelbar nach dem Sterben mit Ohrfeigen im Jenseits empfangen wird. Ich hörte eine Stimme sagen: ›Der ist okay, seine Frau auch, aber ich glaube, den Kleinen hat’s erwischt. Komm, raus mit ihm und über Bord, dann haben die anderen hier mehr Platz.‹

Später habe ich dann erfahren, was passiert ist. Der Bilgenraum war nur unzureichend durchlüftet. So war es zu einer schleichenden Kohlenmonoxidvergiftung gekommen. Gabriel hatte mit seiner Hyperventilation die Situation für sich nur noch extrem verschlimmert. Er war schließlich kläglich erstickt. Das Schicksal teilte er mit fünf anderen, die dort unten zusammengepfercht saßen. Alle waren sie an der schlechten Luft erstickt. Es war nur einem großen Zufall zu verdanken, dass man uns entdeckt hatte, sonst wären wir alle da unten in dieser Barkasse elendiglich draufgegangen.

Nun blieb die Luke stets halb geöffnet, damit der Raum hier unten auch durchlüftet wurde. Das war einerseits gut, weil wir so ständig frische Luft bekamen, andererseits auch wieder nicht so gut, weil ich am fünften Tag unserer Reise das Unglück auf uns zukommen sah. Die ersten Tage war das Mittelmeer so ungewöhnlich glatt wie selten. Es schien, als schippere da ein Boot über einen Ententeich. Doch am vierten Tag spürten wir schon einige Wellen. Noch war das Stückchen Himmel, das wir durch die Luke sehen konnten, strahlend blau, doch tags darauf hatte er sich in ein schweres, eisgraues Laken verwandelt, das von Minute zu Minute dunkler wurde. In gleichem Maße wuchsen die Wellen. Manchmal ging es wie in einem Fahrstuhl rasant nach oben, nur um im nächsten Moment wieder ins Bodenlose zu fallen. Die Ersten begannen sich zu übergeben, mit der Folge, dass es nun immer mehr wurden.

Ich dachte mit Schrecken an die morschen Holzplanken. Wie sollte so ein marodes Schiff solch einen Sturm überstehen? Immer häufiger schwappten nun auch große Wellen durch die Luke in den Bilgenraum. Doch nicht nur von dort, von überall schien nun Wasser einzudringen. Wir mussten hier unten raus. Lange konnte es nicht mehr gutgehen. Das Schiff nahm immer mehr Wasser auf. Es war bereits knöcheltief und stieg weiter. Allerdings war mir noch wohlbewusst, was dem armen Gabriel passiert war, als er versucht hatte, den Kopf aus der Luke zu strecken. Egal, ich musste es riskieren. Ich deutete Mo und Iris an, mir zu folgen. Dann kletterte ich die Stufen hoch, immer darauf gefasst, dass jemand nach meinem Kopf treten würde. Doch nichts passierte. Oben an Deck war der Teufel los. Die Menschen schrien und heulten. Sie hielten sich gegenseitig umklammert. Von der Mannschaft war weit und breit nichts zu sehen. Das Schiff war führerlos und das mitten im Sturm. Es bestand nicht nur die Gefahr, dass das marode Stück auseinanderbrechen konnte, es konnte auch jeden Moment kentern.

Diese Barkasse war den Fischerbooten meiner Heimat einigermaßen ähnlich. Ich hatte schon früh von meinem Vater gelernt, auch ein relativ kleines Boot durch hohe Wellen zu steuern. Ich kämpfte mich zu dem verwaisten Ruder durch und kam genau zur richtigen Sekunde an, denn gerade drohte die Barkasse sich seitwärts zu einer Welle zu drehen, was sie unweigerlich zum Kentern gebracht hätte.

Die Besatzung hatte schon vor Stunden, als der Sturm aufzog, das Schiff mit einem Schlauchboot mit starkem Außenborder verlassen. Die Komplizen, die sie auffischen würden, waren wohl längst informiert.

Ob wir das alles heil überstehen würden, konnte zu diesem Zeitpunkt keiner sagen. Ich suchte unter dem Steuer nach Rettungswesten. Zwei waren noch da – zwei für über 200 Menschen. Ich reichte eine an Iris, die andere an Mo.

›Und du?‹, fragte Iris entsetzt.

›Ich kann wenigstens schwimmen, und du?‹

Sie schüttelte den Kopf und auch Mo hatte nie schwimmen gelernt.

Es dämmerte langsam und noch immer kämpfte unsere tapfere kleine Barkasse gegen die Wellen an. Doch es war nur noch eine Frage der Zeit, wann die See sich das kleine Schiff holen würde. Vielleicht waren wir ja schon ganz in der Nähe der italienischen Küste, vielleicht suchte auch schon ein Schiff der Küstenwache nach uns. Es gab viele Hoffnungen, an die ich mich klammern konnte, aber die Realität sah düster aus.

Es schien, als seien die Wellenberge kleiner geworden, doch so richtig war das in dem fahlen Licht nicht mehr zu erkennen. Es wurde immer schwerer nun gegen die Wellen zu fahren. Ich musste mich auf mein Gefühl verlassen. Noch immer war die Gefahr groß, dass das Schiff kentern würde, wenn wir quer zu Welle kommen sollten.

Inzwischen war ich völlig erschöpft. Es war Schwerstarbeit, das Boot mit der großen Ruderpinne auf Kurs zu halten. Mit einem Steuer wäre es wohl einfacher und weniger kräftezehrend gewesen. Trotz der Gischt, die immer wieder in mein Gesicht spritzte, trotz des ewigen Auf und Ab war ich so erschöpft, dass ich für einen Moment einnickte. In diesem Moment traf ein schwerer Brecher das Boot ein wenig schräg von der Seite. Ich wurde klatschnass. Gleichzeitig hörte ich den gellenden Schrei von Iris. Gerade hatte sie noch neben mir gesessen, doch der Platz war leer. Die Welle hatte sie über Bord gespült. Ich wollte umdrehen, wollte die Wasseroberfläche absuchen, doch inzwischen war es finstere Nacht. Ich hörte sie nicht schreien, sondern nur das Toben des Meeres. Sie war einfach verschwunden.

Der gute Mensch von Assuan

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