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6. Kapitel

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Es gibt noch freundliche Menschen, trotz des großen Elends.

Wieder herrschte Stille am Tisch. Keiner wagte es, das Wort an Souliman zu richten, dessen Blick jetzt wieder in einer unbestimmten Ferne haften blieb. Draußen wirbelten einige Schneeflocken durch die kalte Berliner Luft. Ein Handy klingelte. Es gehörte Mansur. Er zog es heraus und drückte den Anrufer weg, ohne überhaupt auf das Display geblickt zu haben. Etwa eine Stunde hatte er sich für die Geschichte von Souliman nehmen wollen. Nun saßen sie schon fast dreimal so lange hier zusammen. Keiner wagte es, an Aufbruch zu denken.

Souliman schüttelte sich, als wolle er für einen Moment die Vergangenheit loswerden, um sich gleich darauf wieder voll in sie zu stürzen.

Unser Boot sank nicht, obwohl ich in dem Moment, als ich realisierte, dass Iris im Meer verschwunden war, mir es sehnlichst gewünschte hätte, dass unser Schiff nun auch untergehen würde. Irgendwie überstanden wir auch noch die Nacht. Am nächsten Morgen strahlte die Sonne von einem strahlend blauen Himmel. Mir kam es vor, als wolle mich der Himmel verhöhnen. Das Schiff aber würde nicht mehr lange durchhalten. Es war so voll Wasser gelaufen, dass zwischen Bordkante und Wasser vielleicht nur noch ein oder zwei Handbreit lagen. Da hörten wir plötzlich ein Knattern und wenige Sekunden später tauchte auch der dazugehörige Hubschrauber auf. Eine Stunde später näherte sich eine Fregatte der italienischen Küstenwache.

Die Matrosen, die uns von Bord holten, waren hilfsbereit und freundlich. Es dauerte nicht lange, da hatten sie alle an Bord geholt. Vielleicht konnten wir Iris ja doch noch retten, schoss es mir durch den Kopf. Ich fragte einen der Matrosen, ob ich mit dem Kapitän sprechen dürfe. Er lachte nur und sagte ›Impossibile‹.

Plötzlich trat Mo, der stets schweigende Mo, neben mich und begann wie ein Wasserfall zu reden. ›Was glauben Sie, wer das ist, Sir?‹, fragte er den Matrosen auf Englisch. ›Ihm haben wir unser Leben zu verdanken, er ist nicht irgendwer. Wenn er nicht gewesen wäre, hätten Sie heute nur 200 Leichen aus dem Wasser fischen können. Wäre Ihnen das lieber gewesen, Sir? Der Mann ist ein Held.‹ Auch andere der Geretteten kamen nun hinzu und begannen, ein Loblied auf meine Heldentat zu singen.

Schließlich gab der Matrose nach. ›Schon gut, schon gut, ich werde euren Helden zu unserem Kapitän bringen.‹

Der Kapitän hatte einen struppigen Vollbart und trug einen Ohrring. Das fiel mir als erstes auf. Der Matrose erklärte dem Kapitän etwas auf Italienisch. Der nickte nachdenklich und schickte den Matrosen wieder weg.

›Du bist so etwas wie ein Held, hab’ ich gehört?‹

›Ich weiß gar nicht, warum.‹

›Wo kommst du her, mein Sohn?‹

Ich zögerte. Mir fielen die Worte von Gabriel wieder ein. Keinesfalls sollte ich sagen, dass ich aus dem Senegal käme, sonst würden sie mich im großen Käfig behalten und möglicherweise wieder zurückschicken. Ich holte tief Luft. ›Aus Dafur.‹

Er nickte gemächlich. ›Soso, in Dafur lernt mal also, wie man eine 15-Meter-Barkasse mit einer Ruderpinne durch sechs Meter hohe Brecher steuert. Respekt. Nein, mein Junge, du warst bisher genauso wenig in Dafur wie ich in der Kalahari.‹

Mir wurde heiß und kalt. Er hatte mich also sofort erwischt. Was sollte nun mit mir passieren? Eigentlich wollte ich ihn bitten, nach Iris zu suchen, doch das konnte ich nun vergessen.

›Es ist ein Jammer. Bist ein couragierter Bursche. Jemanden wie dich könnte ich glatt auf meiner Fregatte gebrauchen. Bist leider kein Italiener. So werden sie dich wahrscheinlich dahin zurückschicken, wo du herkommst. Gambia, Ghana? Ach, sag’s mir lieber nicht. Es ist allemal eine Schande, wie man mit euch armen Teufeln umgeht. Pass auf, ich geb’ dir einen Rat: Bleib bei deiner Geschichte und schärfe deinen Freunden ein, dass sie niemandem von deiner Heldentat erzählen. Dafür ist Dafur einfach viel zu weit vom nächsten Meer entfernt, als dass dir das jemand abnehmen würde. Du hast nichts gesagt, und ich muss ja niemandem sagen, was ich mir denke.‹

Ich war völlig verdattert über die unerwartete Wendung, so dass ich glatt vergaß, mich zu bedanken. Aber Iris vergaß ich nicht. ›Trotzdem, Herr Kapitän, ich habe noch eine Bitte. Meine Gefährtin ist in der Nacht über Bord gegangen. Vielleicht hat sie überlebt, sie trug eine Rettungsweste. Vielleicht kann ja Ihr Helikopter …‹

Er runzelte die Stirn. Mir schien, als bilde sich über seinen Augenbrauen eine kleine Gewitterwolke. Dann brummte er: ›Na, mal sehen. Wenn er noch genügend Sprit hat. Wann war das?‹

Ich musste raten, denn ich hatte kaum eine Vorstellung. Ich wusste nur, dass es rabenschwarze Nacht war. Ich sagte aufs Geratewohl: ›Gegen 23 Uhr.‹

Er nickte. ›Mal sehen, da hatten wir euch schon auf dem Radar, versprechen kann ich aber nichts, mein Sohn.‹

Neue Hoffnung keimte in mir auf. Ich war sicher, dass ich Iris spätestens am Nachmittag wieder in meine Arme schließen konnte. Doch bis wir im Hafen von Lampedusa einliefen, bekam ich keine Nachricht. Wir wurden die Gangway hinuntergeführt. Ich drehte mich um und sah den Kapitän auf der Brückennock stehen. Er zuckte mit den Schultern und schüttelte leicht den Kopf. Dann winkte er mir zum Abschied zu.

Ich hatte mir vorgestellt, dass alle Italiener, ja alle Europäer so freundlich waren wie der Kapitän der Küstenwache. Das war dann leider doch nicht so. Nachdem wir von Bord gegangen waren, wurden wir registriert, und es kam uns vor, als behandelten sie uns wie Vieh. Die Beamten bei der Registrierung waren unfreundlich. Überall standen bewaffnete Polizisten, die darauf achteten, dass keiner von uns flüchtete. Ich hatte Mo und den anderen eingeschärft, niemandem von meiner Rolle auf dem Boot zu erzählen. Stattdessen gab ich bei der Registrierung an, ein Flüchtling aus Dafur zu sein. Der Beamte füllte das Formular aus, ohne mich überhaupt näher anzusehen. Wenn ich sagte, ich käme aus Dafur, dann war das wohl auch so.

Die Bezeichnung Großer Käfig war nicht übertrieben. Ich hatte mir vorgestellt, dass es in Europa selbst bei einer Art Internierung bedeutend besser zugehen würde, als in Libyen. Doch die Verhältnisse waren genauso schlimm – mit dem Unterschied, dass wir nun im Knast saßen und offenbar niemand so genau wusste, was mit uns passieren sollte. Wir wurden von den Aufsehern schikaniert, von den Einwanderungsbeamten und eigentlich von allen, die mit uns zu tun hatten. Die Botschaft war klar: Ihr seid hier nicht willkommen. Auch untereinander wuchs die Aggressivität wieder beträchtlich. Manche Flüchtlinge saßen schon seit Monaten in dem Käfig. Keiner wusste, wie lange er hierbleiben würde.

Mo und ich hatten Glück. Wir mussten nur fünf Tage auf Lampedusa verbringen. Dann plötzlich wurden wir abgeholt. Ein Carabiniere brachte uns auf ein Schiff, auf dem bereits drei andere Flüchtlinge warteten. Wohin wollten sie uns bringen? Keine Antwort. Wir wurden von zwei Carabinieri begleitet. Sie brachten uns nach Messina auf den Bahnhof. Einer der beiden Beamten erklärte: ›Ihr habt jetzt fünf Tage, um das Land zu verlassen. Werdet ihr danach in Italien aufgegriffen, schicken wir euch zurück in eure Heimatländer. Also, wo wollt ihr hin?‹

Die anderen drei tuschelten und sagten etwas von Schweden. Ich fragte Mo: ›Deutschland?‹ Mo zuckte mit den Schultern und nickte. Der Carabiniere ging an den Schalter und sagte: ›Dreimal Malmö, zweimal München.‹

Zwei Stunden später saßen wir zu fünft in einem Abteil und tauschten unsere Geschichten aus. Die drei anderen hatten sich ebenfalls als Flüchtlinge aus Dafur ausgegeben. Tatsächlich kamen sie aus Mali. Sie hatten schon eine gescheiterte Flucht hinter sich. Vor zwei Jahren hatten sie es über die sogenannte Westroute über Marokko nach Spanien versucht. Doch sie scheiterten beim Versuch in die spanische Exklave Melilla zu kommen. Ich erfuhr, dass dort über 30 000 Menschen in einem Camp lebten, die alle irgendwie versuchen wollten, die sechs Meter hohen Zäune zu überwinden. Auch Marokko, so wurde gemunkelt, hatte schon Flüchtlinge in der Wüste ausgesetzt. Deshalb hatten es die drei dieses Mal über die mittlere Route versucht.

Ich wollte wissen, warum sie ausgerechnet nach Schweden wollten. Soweit ich wusste, lag Schweden so weit im Norden, dass dort ewig Schnee lag. Die drei anderen mussten lachen, als ich ihnen mein Schwedenbild zeichnete. So zeigten sie mir Fotos von Schweden, auf denen kein Krümelchen Schnee lag. Im Gegenteil. Alles war grün, lag im Sonnenschein. Nur die roten Häuschen fand ich ein wenig merkwürdig.

In Schweden, erklärte einer der drei, würden die Menschen einfach am besten behandelt. Ich wurde stutzig. ›Aber ich dachte, in Deutschland sei alles so einfach?‹ Wieder lachten die drei.

Mo indes meinte, ich sollte mich jetzt nicht verrückt machen lassen. Er habe Freunde in Berlin und irgendwie würde man ja schon von München nach Berlin kommen. Die Freunde würden uns sicher weiterhelfen. Die drei anderen wünschten uns grinsend viel Glück.

Wir redeten noch ein wenig miteinander, dann fielen wir einer nach dem anderen in einen tiefen Schlaf.

Es war früher Morgen, als der Zug in München einlief. Wir verabschiedeten uns von unseren drei Mitreisenden und stiegen aus. Wir waren völlig eingeschüchtert von der Größe, den Menschen, den Autos, aber irgendetwas mussten wir jetzt ja tun. Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, hätte ich für mein allerletztes Geld eine Fahrkarte nach Berlin gekauft. Leider folgte ich dem Vorschlag von Mo. Er sagte, dass es das Schlaueste wäre, sich bei der Bahnpolizei zu melden und einfach mal das Wort Asyl zu sagen. Alles Weitere werde sich dann schon ergeben.

So standen wir nach einer halben Stunde in der Wache der Bahnhofspolizei und sagten wie aus einem Mund: ›Asyl‹. Ein Beamter saß am Schreibtisch, notierte noch etwas und schaute uns dann gelangweilt über den Rand seiner Brille an. Dann drehte er sich um und rief über die Schulter: ›Schorsch, da san wieder zwoa.‹

Wir wurden in einem provisorischen Containerdorf untergebracht.

Wir waren froh über die Unterkunft, darüber, dass es regelmäßig etwas zu essen gab und dass die sanitären Verhältnisse stimmten, zumindest nach unseren damaligen Vorstellungen, hatten wir auf unserer Flucht doch unsagbar schlimme Dinge erlebt.

Wir wollten so schnell wie möglich weiter nach Berlin reisen. Doch da erlebten wir eine böse Überraschung.

›Das wird nicht möglich sein‹, erklärte uns ein freundlicher, aber sichtbar gestresster Mitarbeiter der Ausländerbehörde auf Englisch, der nur dafür abgestellt war, sich mit unseren Wünschen auseinanderzusetzten, um sie dann praktisch immer freundlich aber bestimmt abzulehnen.

›Als Asylbewerber unterliegen Sie der sogenannten Residenzpflicht.‹

›Was heißt das?‹, wollte ich wissen.

›Das heißt, dass Sie die Stadt München nicht verlassen dürfen.‹

Wir waren beide völlig perplex.

›Warum denn das?‹, fragte ich.

›Die Regelung gilt natürlich nur, solange Ihr Antrag auf Asyl läuft. Wenn darüber entschieden ist, werden sie entweder abgeschoben oder anerkannt, dann können sie sich natürlich frei bewegen. Naja, sie können auch nach der Ablehnung ihres Asylantrages versuchen, eine Duldung zu bekommen. Aber dann unterliegen sie natürlich wieder der Residenzpflicht.‹

›Aber warum denn?‹

Der Beamte zuckte mit der Schulter. ›So ist die Rechtslage. Haben Sie vielleicht Verwandte in Berlin? Kinder? Eine Ehefrau? Eltern?‹

Ich schüttelte nur traurig den Kopf.

›Ich habe Freunde‹, rief Mo.

Der Beamte lächelte nachsichtig. ›Das wird leider nicht reichen.‹

›Aber ich könnte bei ihnen wohnen, essen und trinken, ich würde auch meinen Freund hier mitnehmen. Dann kostet es den deutschen Staat doch nichts. Daran müssen Sie doch auch Interesse haben.‹

›Es tut mir leid meine Herren, aber da sind mir leider die Hände gebunden. Wenn sie nichts mehr Wichtiges haben … bitte, da draußen warten noch andere Fälle, die meine Hilfe brauchen.‹

Völlig verdattert verließen wir das Container-Büro und liefen prompt einem jungen Deutschen in die Arme, der uns aufgeregt fragte, was da drinnen abgelaufen sei. Mo und ich schauten uns an und erzählten dann von unserem doch etwas merkwürdigen Erlebnis mit dem Beamten.

Der junge Mann winkte nur ab. ›Das ist ja noch längst nicht alles. Ihr dürft hier gar nichts. Arbeiten beispielsweise, um eigenes Geld zu verdienen – keine Chance. Eine Ausbildung, um sich hier zu qualifizieren – kannst du vergessen‹, rief er empört. ›Aber damit soll nun Schluss sein. Wir werden die jetzt unter Druck setzen. Nächste Woche starten wir zum Marsch nach Berlin, gegen die Residenzpflicht, gegen das Arbeitsverbot und für ein bedingungsloses Bleiberecht.‹

Das hörte sich imposant an, doch wir hatten nur die Hälfte von dem verstanden, was er uns sagen wollte. Was uns klar war, war, dass er ein engagierter junger Mann war, dem unser Schicksal naheging. Das war doch schon mal was.

›Seid ihr gut zu Fuß?‹, wollte er plötzlich wissen. Wieder schauten wir beide uns an und zuckten mit den Schultern. Natürlich waren wir gewohnt, größere Strecken zu Fuß zurück zu legen. Deutsche nahmen sicherlich für jede Strecke das Auto, auch wenn’s nur um vier oder fünf Kilometer ging. Da waren wir Afrikaner schon anders. Also nickten wir.

›Fein!‹, rief der junge Mann begeistert aus. ›Wir werden am 8. September in Würzburg starten und nach Berlin marschieren. Wollt ihr mitmachen?‹

Mo fragte als erstes: ›Wie weit ist das?‹

›Wir rechnen mit 600 Kilometern, wir können ja schlecht über die Autobahn marschieren. Sonst wären es 150 Kilometer weniger.‹ Er lachte über seinen Scherz, den wir nicht so recht verstanden. Ich hatte Bedenken.

›Aber was ist mit der Residenzpflicht? Wenn uns die Polizei erwischt, dann schicken sie uns zurück nach Dafur.‹

›Unsinn‹, wandte der junge Mann ein. ›Erstens dauert es ewig, bis der Antrag bearbeitet wird und dann kann man bei einem abschlägigen Bescheid noch immer an einer Duldung arbeiten. Aber he, ihr zwei kommt aus Dafur. Da geht der Asylantrag hundertprozentig durch. Das ist sicher. Und außerdem würde kein Polizeibeamter in Deutschland es wagen, einen Flüchtling aus dem Zug rauszuholen, um ihn dann abschieben zu lassen. In dem Protestzug seid ihr sicher.‹

Das leuchtete uns ein.

›Aber wie kommen wir bis nach Würzburg? Wenn wir mit dem Zug fahren und kontrolliert werden?‹

›Natürlich werdet ihr von der Bahnpolizei kontrolliert, deswegen fahrt ihr auch mit dem Auto. Ich hole euch in drei Tagen ab. Aber verratet dem Vogel da drin nichts.‹

Er deutete mit dem Daumen auf das Büro im Container.

So hatten wir also doch noch eine Chance, nach Berlin zu kommen. Allerdings – 600 Kilometer zu Fuß?

Mo klopfte mir auf die Schulter und sagte: ›Nach allem, was wir erlebt haben, sind 600 Kilometer zu Fuß quer durch Deutschland ein gemütlicher Spaziergang.‹

Und Mo sollte diesmal recht behalten. Drei Tage später holte uns der junge Mann ab, von dem wir jetzt erst erfuhren, dass er Simon hieß und sich in einer Gruppe für Flüchtlingshilfe engagierte. Zum ersten Mal fuhren wir über eine Autobahn und waren schwer beeindruckt. Allerdings noch beeindruckter waren wir von der Gruppe, die sich da in Würzburg auf den Weg machte. Zunächst fühlten wir uns als Fremdkörper, obwohl die meisten auf dem Marsch ein ähnliches oder gar schlimmeres Schicksal mit uns teilten. Trotzdem: Wir waren gerade erst angekommen und fühlten uns zunächst auch dankbar, auch wenn uns solche Dinge wie die Residenzpflicht unsinnig oder das Arbeitsverbot absurd vorkamen. Doch wir sollten schnell lernen, wie bedrückend das für jene war, die nicht nur wenige Wochen, sondern Monate und oft Jahre auf eine Entscheidung über ihren Antrag warteten. Zwar gab es Essen, Unterkunft und auch ein wenig Geld, aber viel zu wenig, als dass man hätte wagen können, es nach Hause zu schicken.

Das Schlimmste, so erklärten uns unsere Schicksalsgenossen auf dem Marsch, sei die Langeweile. Man könne in den Asylbewerberheimen nichts tun, außer vielleicht Domino zu spielen. Arbeit war verboten, Fortbildung war verboten, für Kino oder Theater fehlte das Geld, und das Fernsehgerät im Heim war ein stetiger Quell des Streits.

Das alles drohte uns nun auch. Und so nach und nach fanden wir es sehr wichtig und sinnvoll, dass wir uns an diesem Marsch beteiligten. Wir waren übrigens die einzigen, die sich anfangs als Fremdkörper gefühlt hatten. Für die anderen waren wir ganz normale Refugees, wie alle anderen auch.

Der Marsch begann am 8. September. Und ich muss sagen, dass er vielleicht das schönste Erlebnis meines Lebens bislang war. Wo wir auch hinkamen, wurden wir von den Menschen freundlich empfangen. Wir hatten gute Unterkünfte und gutes Essen und manchmal konnten wir sogar ein Stück mit dem Bus fahren.

Die Landschaft, der deutsche Wald … es war alles so beeindruckend. Ich hatte immer gedacht, dass Deutschland komplett zugebaut sei. Doch nun sah ich, wie viel Platz es hier gab. Wenn man auf den Bergen angekommen war und von dort die weiten Ebenen sehen konnte … Es war ein wunderbares Erlebnis!

Vier Wochen dauerte unsere Wanderung durch Deutschland und dann hatten wir Berlin erreicht. Na ja, der Rest ist ja wohl bekannt. Wir zogen auf den Oranienplatz, campierten dort, protestierten vor dem Brandenburger Tor und dann überwinterten einige in der Gerhart-Hauptmann-Schule. Nach allem, was ich erlebt hatte, schien es mir nicht mehr besonders schlimm, ein wenig Gras zu verkaufen. Als ich das Angebot bekam, nahm ich es an. Ich hatte schnell gemerkt, dass es in Berlin nichts Besonderes war zu kiffen, und dass mir auch nicht viel passierte, wenn ich erwischt wurde. Ich änderte ein paarmal meinen Namen, kam mal aus Dafur, dann aus Ghana oder aus Mali. Es machte ja alles nichts. Immerhin kann ich jetzt regelmäßig Geld nach Hause überweisen. Meiner Familie habe ich geschrieben, dass ich hier fleißig studiere und dafür auch noch viel Geld bekomme – eben das, was Rashid damals behauptet hatte. Tja und nun bin ich hier.

Der gute Mensch von Assuan

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