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3. Kapitel WERKZEUG
ОглавлениеDas angerostete Tor stand offen und gab den Schotterweg frei. Links Gärten. Rechts Gärten. Geradeaus der Weg. Die Sonne drückte. Windstille. Irgendwo sang eine Amsel. Sie hoben ihre Füße beim Laufen, damit die Schottersteine keinen Staub aufwirbelten. »Dort hinten, der verwachsene Garten, das ist unserer.« Seine Worte waren von Stolz und Entschlossenheit getragen, die jeden Zweifel im Keim ersticken sollten. Garten Nummer 14. Eine wilde Hecke. Ödes Durcheinander. Ein mit Kieselsteinen übersätes Stückchen Erdkruste. Gerda wirkte enttäuscht. Das Samenkorn der Euphorie war in ihr noch nicht aufgekeimt. Sie sah skeptisch über die Halde, die vor ihnen lag wie ein geplatzter Sack, aus dem alle Zuversicht entwichen war. »Kein Wunder, dass er den Garten niemand anderem angeboten hat. Dafür muss man sich ja fast schämen.«
»Wir können ihn doch so aufbauen wie er uns gefällt« versuchte Axel zu beruhigen. »Dafür brauchst du doch eine Ewigkeit.«
»Wir haben doch Zeit und in diesem Jahr wird es ja sowieso nichts mehr werden.«
»Mama, ich habe einen Hühnergott gefunden. Schau mal wie groß das Loch ist.«
»Kein Wunder, dass bei den vielen Steinen auch einer mit einem Loch zu finden ist«, flüsterte sie müde und lächelte Heiko zu, der gerade über einen Haufen Wackersteine kletterte. »Den Kindern gefällt es.« Axel versuchte Heiko und Jana mit ins Spiel zu bringen, um sie von den Vorzügen und der Notwendigkeit ihres eigenen Stückchens Land zu überzeugen. »Gib mir einfach noch ein bisschen Zeit. Ich hatte mit einem Garten und nicht mit einem Schlachtfeld gerechnet. Wenn wir Hilfe von meiner Mutter bekommen, dann werden wir uns hier schon was Schönes hinzaubern.«
»Deine Mutter ist doch vom Fach und die kann uns bestimmt den einen oder anderen Tipp geben.«
»Es wird schon werden.«, sagte Gerda versöhnlich, obwohl es ihr sichtlich schwerfiel. »Kann ich diese Steine mit nach Hause nehmen.« Jana hatte ihre Hosentasche voller Kieselsteine gesammelt und holte sie jetzt heraus. Gerda streichelte ihr über das Haar. »Na klar, dann sind es schon mal ein paar weniger, die uns ärgern können.« Sie lachte Axel an und gab ihm das Zeichen, dass sie wieder auf Frieden eingestellt war.
*
»Wir benötigen einen Plan.« Er hatte seinen Optimismus nicht vergraben und die Zweifel seiner Frau bestärkten nur seinen Tatendrang. ›Man kann erst zur Höchstform auflaufen, wenn man auf Widerstände stößt‹, hatte er als Jugendlicher in einer Zeitung gelesen. Diese Worte waren für ihn zu einem Kompass durch sein Leben geworden. Hier fanden sie wiederum einen guten Platz, um zu wirken. Sein Ziel war es, ein Fleckchen Gartenland so zu zähmen, dass es bereitwillig vervielfältigt, was man ihm anvertraut. »Wie bekommen wir die Erde fruchtbar?« Gerda entgegnete nüchtern: »Zuerst müssen die Steine und der Wildwuchs weg, dann sollten wir umgraben und ein paar Beete anlegen.«
»Mit dem Steine Sammeln haben die Kinder ja schon begonnen.«
»Und woher bekommen wir das Werkzeug zum Umgraben? Wir brauchen doch mindestens einen oder zwei Spaten, eine Schippe, eine Hacke und eine Harke.«
»Ich frage Krugmann morgen früh. Der kennt sich ja aus.«
*
Genosse Krugmann war schon vor ihm im Betrieb. Seine ETZ stand auf dem Parkplatz neben den Fahrradständern. Aber vor der Arbeit wollte Axel ihn auch nicht schon wieder mit seinen persönlichen Problemen belagern. Er begann seine Arbeit und nahm sich vor, seinen Gartenkollegen in der Frühstückspause aufzusuchen.
Sie begegneten sich schon auf dem Gang. »Hey Axel, Glückwunsch zu eurem Garten. Ich habe es vom Genossen Blume erfahren. Ihr seid recht mutig hat er gemeint.«
»Ja, der Garten ist nicht unbedingt in einem optimalen Zustand, aber wir können ja alles so herrichten, wie es uns gefällt.«
»Das denke ich auch. Und einen Eindruck hast du schon gemacht. Blume hat gesagt, wer sich an so ein Stückchen Erde herantraut, der beweist Charakter.«
»Ja, aber um sich an das Land heranzutrauen, brauchen wir doch wenigstens ein bisschen Werkzeug, einen Spaten und eine Hacke. Du weißt nicht zufällig, wo man so etwas herbekommt?« Er kratzte sich am Kopf. »Keine Ahnung. Du kannst es bei der BHG3 versuchen. Dort ist die Chance zwar klein, aber immer noch größer als woanders. Nur dummerweise kenne ich dort niemanden, den man mal persönlich ansprechen könnte.«
»Wo ist denn die BHG?«
»Gleich hinter der Brücke rechts. Dann siehst du es schon.« Er sprach es für sich selber noch einmal nach: »Hinter der Brücke rechts.«
»Aber wenn du willst, können wir auch mal schnell zusammen hinfahren. Ich habe nämlich vor einiger Zeit einen Sack Zement bestellt und soll in Abständen immer mal nachfragen, wie weit die Bearbeitung ist. Ich will mir nämlich einen massiven Grill neben die Laube mauern. Die Steine habe ich schon, aber irgendwie müssen die ja noch zusammenhalten.«
»Wann hast du denn mal Zeit?«
»Eigentlich nie, aber du weißt ja: die einzige Möglichkeit Zeit zu haben ist sich welche zu nehmen. Also fahren wir gleich.«
»Aber wir haben doch gar nicht so lange Pause.«
»Dann sage einfach deinen Kollegen, dass du noch ein bisschen an der frischen Luft bist, dann wissen alle bescheid.«
»An der frischen Luft?«
»Ja, dann fragt niemand nach Dir, weil jeder mal was benötigt und solange man es nicht übertreibt ist alles in bester Ordnung.«
»Und was ist, wenn Genosse Liedke davon Wind bekommt?«
»Du kannst dich beliebt machen, wenn du ihm berichtest, was es an Besonderheiten in der BHG gibt und sonst ist er doch freitags immer an der frischen Luft.« Zehn Minuten später saßen sie beide auf der ETZ vom Genossen Krugmann und waren auf dem Weg zur BHG.
*
Die Löcher im Putz des BHG – Gebäudes legten den Blick auf das Mauerwerk aus roten Ziegelsteinen frei. ›Läuferverband‹ dachte Axel, als er von der ETZ stieg, seinen Helm abnahm und sich die Haare vom morgenfrischen Wind umwehen ließ. Unter dem verwitterten Dachvorsprung klebten ein paar Schwalbennester. Zwischen den Treppenstufen machten sich Hirtenstängel und Spitzwegerich breit. Am Eingang hing eine verrostete Laterne. Er bezweifelte, dass sie überhaupt noch funktionierte. Doch ob sie nachts leuchtete, war ihm jetzt egal, denn es war bereits 10 Uhr und die Morgensonne erwärmte und erhellte die ganze Umgebung. Die Eingangstür war abgeschlossen. Hinter einem Türspalt aus Fensterglas baumelte ein selbst geschriebenes Schild aus Pappkarton, das in der Lage war, allen Lesern Respekt einzuflößen: Wegen Warenannahme bis 14:00 Uhr geschlossen! wehrte es alle kaufwilligen Kunden ab. Krugmann schüttelte niedergeschlagen den Kopf. Seine Enttäuschung dauerte allerdings nicht besonders lang, denn er hatte sich schnell wieder aufgerappelt. »Dann müssen wir gleich um zwei wieder hier sein, vielleicht haben die heute etwas bekommen, was wir gebrauchen können.« Sie waren zwar noch nicht weiter gekommen und hatten doch einen Informationsvorsprung vor allen denen, die nicht wussten, dass heute neue Ware gekommen war. Und wie oft entscheidet der richtige Ort zur richtigen Zeit über Erfolg oder Misserfolg. »Lass uns lieber zehn Minuten eher hier sein, damit wir in der Schlange ganz vorn stehen.« Krugmann nickte. »Frühzeitiges Erscheinen sichert die besten Plätze.« Und das traf nicht nur auf die Abendveranstaltungen im Kino oder im Kulturhaus zu.
*
Um 13:50 Uhr warfen die Lindenbäume schon die ersten Schatten auf den ausgetretenen Vorplatz aus Sand und Steinen. Das Befahren und Betreten drängte das Gras zurück und übrig blieb ein vertrocknetes und staubiges Niemandsland zwischen ausgeblühten Fliederbüschen und rissigem Straßenasphalt. Sie waren nicht die ersten Interessenten. Vor der Treppe der kleinen BHG wartete schon eine Traube von zehn bis fünfzehn Menschen, die nicht miteinander sprachen, in unterschiedliche Richtungen starrten und sich abwechselnd immer wieder mithilfe ihrer Armbanduhren über die aktuelle Uhrzeit informierten. Jürgen Krugmann und Axel Weber vergrößerten die Schlange um zwei weitere Personen. Sie ließen sich von der verriegelten Eingangstür aufhalten wie der strömende Fluss von einer Schleuse. Krugmann zwinkerte: »Wir bekommen noch einen Korb.« Dann verstummte auch er, ließ sich von der drückenden Stimmung voller Hoffnungen und Vorahnungen anstecken und starrte wie Axel Weber geduldig auf das Pappschild hinter dem gläsernen Türspalt, dass sich pünktlich um 14:00 Uhr bewegte, ein Schlüsselklappern im Türschloss nach sich zog und die Menschenmenge vor der BHG in einen langsam fließenden und seufzenden Strom verwandelte.
Hinter dem Eingang, der nach Holz und Linoleum roch, standen etwa zwanzig Handkörbe aus Drahtgeflecht. Über dem Tisch war ein Schild an die Wand angebracht: Rundgang nur mit Korb. »Nimm dir auch einen Korb, Axel.« riet ihm Krugmann. »Dann kommen weniger andere Leute in den Laden. Und wenn du keinen Korb in den Händen hältst, macht die Leiterin wieder ein Riesentheater. Die kann ein ganz schöner Besen sein. Wenn du es bei ihr verspielt hast, dann bekommst du nicht mal einen rostigen Nagel zu kaufen. Dafür sorgt sie schon.« Axel nickte »Ordnung muss sein« und zog an dem Bügel eines Korbes, drückte mit der anderen Hand die restlichen Körbe zurück und begann seinen Einkauf, indem er durch die Gänge mit überwiegend leeren Regalen schlenderte. Mausefallen. Friedhofsvasen. Tüten mit Sämereien. Hier gab es einen Überfluss an Dingen, die man nicht benötigte.
»Sagen Sie bitte, was für Waren haben Sie denn den ganzen Vormittag angenommen, wenn das Geschäft immer noch genauso ausgefegt ist, wie gestern Abend?« Die erboste Stimme eines Kunden, der seine Enttäuschung immer noch versuchte freundlich zu verpacken schallte durch das kleine Geschäft und sprach genau das aus, was alle anderen Besucher der BHG dachten. Sie liefen durch die hohlen Gänge und suchten nach den besondern Waren wie die schnüffelnden Polizeihunde nach einer heißen Spur.
Eine scharfe Frauenstimme heulte wie eine Kreissäge zurück: »Das geht Sie überhaupt nichts an, mein Herr. Wenn Sie bei uns nicht einkaufen wollen, dann brauchen Sie diesen Laden ja nicht zu betreten.«
»Ich würde ja gerne ein paar Holzbretter kaufen.« entgegnete die energische Männerstimme. Die Verkäuferin war beleidigt und ließ sich entnervt zu einer Antwort hinreißen: »Das tut mir leid, junger Mann. Diesen Artikel führen wir momentan nicht in unserem Sortiment. Sie können aber jederzeit immer wieder nachfragen.«
Krugmann tauchte mit leerem Korb auf: »Das kannst du heute vergessen.« Er winkte in die Richtung, aus der das Gespräch gekommen war: »Die Alte hat heute wieder schlechte Laune. Da ist es besser, gar nicht erst in ihre Schussbahn zu geraten.«
»Wir haben es doch noch gar nicht probiert.«
»Ein Hoch auf deinen Optimismus, Axel, aber spare dir den Ärger.«
»Vielleicht freut sie sich ja über eine nette Anfrage.« Jürgen winkte ab. »Du kannst ja machen, was du willst. Ich warte draußen auf Dich.« Axel sah Jürgen Krugmann verwundert hinterher. Was hatte das zu bedeuten? Er war es doch, der ihm Mut machte. Und jetzt gab er sich hier so kampflos geschlagen? Ein wenig komisch kam ihm das schnelle Einlenken schon vor. Trotzdem entschied er sich, nicht unverrichteter Dinge verschwinden. Es musste vorwärts gehen mit dem Garten, sonst wäre Gerda enttäuscht. Und Gerdas Enttäuschung rief sofort wieder ihr Heimweh auf die Tagesordnung. Er atmete tief durch, wie er das neulich auch vor dem Büro des Kombinatsleiters Liedke getan hatte, und ging durch die Gänge, bis er die Kasse sah. Dort lehnte eine ältere Verkäuferin auf dem Ladentisch und langweilte sich. ›Diese Frau ist es, die zwischen mir und meinem Gartenwerkzeug steht.‹ »Entschuldigen Sie bitte.« Er legte alle Freundlichkeit in diese Worte und gab sich Mühe, trotzdem natürlich und bescheiden zu wirken. »Ich bin hier neu hergezogen und habe für meine Familie einen Garten gepachtet und jetzt wollte ich einmal anfragen, ob man bei Ihnen einen Spaten und eine Schippe anmelden kann.« Die Frau in der rosafarbenen Kittelschürze verarbeitete die Worte langsam und ohne Regung. Sie schien zu überlegen. »Sagen Sie, sind sie nicht in die Schmiedeberger Str. 13 c eingezogen?« Das brachte ihn aus dem Konzept und alle seine zurechtgelegten Worte waren auf einmal verschwunden. »Ja, wir wohnen ganz oben in der fünften Etage.« Die Frau lächelte: »Ich weiß, neben Schäfer. Wir wohnen in der zweiten Etage rechts.« Er ging in Gedanken den Hausgang bis in dien zweite Etage rechts hinauf: »Frau Müller?«
»Ja, mein Mann ist der Hausvertrauensmann und hat Sie überall vorgestellt, außer bei seiner eigenen Frau.« Er nickte: »Das haben wir ja jetzt nachgeholt.«
»Ich habe Sie schon ein paar Mal mit dem Moped kommen sehen. Und ihre Kinder grüßen immer so nett im Treppenhaus, dass das immer eine rechte Freude ist, ihnen zu begegnen.«
»Das freut mich, dass sie zu Ihnen nett sind und wir sagen ihnen immer, lieber einmal zu viel grüßen als einmal zu wenig.«
»Ihr Sohn hat mich neulich dreimal an einem Tag gegrüßt. Und Sie und Ihre Frau haben mir auch schon Guten Tag gesagt, aber wenn man neu ist, dann stürzt alles auf einen ein.«
»Beim nächsten Mal weiß ich ganz bestimmt, wer Sie sind, versprochen.« Frau Müller lehnte sich zu ihm, damit sie nicht so laut sprechen musste: »Was brauchen Sie denn für Ihren Garten?«
»Er flüsterte zurück: »Wenn wir dürfen, dann hätten wir gern zwei Spaten, eine Schippe, eine Harke, eine Hacke und einen Sack Zement.« Sie nickte. »Kommen Sie heute Abend kurz nach sechs mit einem Anhänger.«
*
Um fünf Minuten vor sechs fuhr Axel mit seinem Trabant und dem geliehenen Anhänger von Jürgen Krugmann auf den wilden Parkplatz vor der BHG. Die Schatten waren länger geworden. Er wartete. Im Radio wurden schon die Nachrichten verlesen. Kurz darauf erschien Frau Müller vor der Eingangstür und gab ihm ein Zeichen, dass er an den Hintereingang kommen sollte. Sie kassierte 13,50 Mark und deutete auf einen 50-Kilo-Sack mit frisch abgefülltem Zement, der neben der Laderampe lag. An der Wand lehnten ein Spaten und eine Hacke. Ein kleines Häufchen glückliche Fügung. »Den Rest habe ich aufgeschrieben. Vielleicht bekommen wir ja nächste Woche wieder was. Aber versprechen kann ich nichts.«
»Vielen Dank, Frau Müller. Wie kann ich das nur wieder gut machen?«
»Wo haben Sie ihren Garten?«
»Die Anlage heißt Karl Liebknecht und liegt am Schleifbach.«
»Dann könnten Sie mich nach Hause fahren. Das liegt doch so gut wie auf dem Weg.« Er lud den Zement und das Werkzeug auf den Hänger. Sie holte ihre Jacke aus dem Aufenthaltsraum. »Schönen Feierabend rief sie in den Verkaufsraum.«
»Schönen Feierabend.« klang es wie ein Echo zurück.
*
Jürgen Krugmann saß vor seiner Gartenlaube in einem Campingstuhl und trank eine Flasche Bier. »Ach Axel, da bist du ja.«
»Hilfst du mit anfassen.«
»Na klar doch.« Sie trugen den Sack in seinen Schuppen. »Möchtest du auch einen Schluck Bier?«
»Nein danke, ich bin doch mit dem Auto.«
»Vielleicht das nächste Mal. Als Dankeschön für deine Mithilfe.«
»Ach, ich habe noch viel mehr offen bei Dir.«
»Wann fängst du mit dem Umgraben an?«
»Morgen nach der Arbeit. Irgendwie habe ich das Gefühl, das es jetzt richtig losgehen kann.«
*
Am nächsten Morgen begrüßte ihn der Kollege Krisch in der Umkleidekabine: »Genosse Liedke hatte gestern Nachmittag mal nach dir gefragt. Vielleicht ist es nicht verkehrt, wenn du dich mal blicken lässt.« Zuerst durchzuckten ihn Gewitterblitze, dann wurde ihm kalt und gleichzeitig heiß. Er litt augenblicklich unter einer besonderen Art von Polarfieber, das nur ein schlechtes Gewissen hervorrufen kann. Er war aufgeflogen. Er, der neue Kollege. Der Brigadeleiter. Ein Vorbild für seine Jugendbrigade. »Was hat er denn gewollt?« Kollege Krisch schüttelte den Kopf: »hat er nicht gesagt.«
»Und was hast du gesagt?« Axel spürte, wie unsicher seine Stimme klang. »Ich habe gesagt, du wärst unterwegs und dann ist er wieder gegangen.«
Wie ein Dampfkessel stieg er die Treppen zum Direktorat hinauf. Ein Dampfkessel, ohne Ventil. Er fühlte, wie er neben sich stand. Und dieser Mensch an seiner Seite klopfte an die Tür und von weit her aus dem Inneren des Büros schallte ihm ein »Herein« entgegen. Mechanisch öffnete er die Tür und das gewohnte Bild des am Schreibtisch sitzenden Kombinatsleiters wirkte wieder auf ihn ein.
»Ah Genosse Weber, treten Sie doch näher.« Wie sollte er seine Freundlichkeit deuten? Spielte er seinen Triumph aus? Dann begann er, sachlich zu werden: »Ich habe mich umgehört und in Erfahrung gebracht, dass der Thälmannkindergarten in der Straße des Friedens eine stundenweise Aushilfe benötigen kann. Vielleicht wäre das was für Ihre Frau.« Es ging also gar nicht um gestern. Es ging um Gerda. Doppelt gut. Er fühlte, wie der Druck nachließ. Und dieser Druckabfall brachte ihm jene Erleichterung wie ein Dammbruch dem aufgestauten Flusswasser. Außerdem kann Gerda arbeiten gehen und kommt so unter Leute. Ein großer Schritt in die richtige Richtung. »Danke für Ihre Bemühungen, Herr Liedke.«
»Keine Ursache, das Wohlergehen meiner Mitarbeiter liegt mir persönlich am Herzen.« Er sparte wie gewöhnlich mit Mimik und Gestik jeder Art. »Sie soll einfach mal vorsprechen und alles Weitere vor Ort klären.« Als er die Treppe hinunterlief, war ihm nach Singen zumute und das Gefühl der Schwerelosigkeit zog sich bis zum Feierabend hin.
*
»Du kannst im Kindergarten aushilfsweise arbeiten, wenn du willst.« Seine Begeisterung war ansteckend. Gerda hob beide Hände vor ihren Mund und ihre Augen signalisierten Freude. »Der Kombinatsleiter hat es für dich in Erfahrung gebracht. Wenn du willst, kannst du mal hingehen und mit denen sprechen.«
»Das klingt gut, Axel. Dankeschön. Manchmal fällt mir schon die Decke auf den Kopf.« Sie drückte ihn. »Du musst dich nicht beim Postboten bedanken, wenn du hundert Mark im Brief hast, sondern beim Absender.«
»Mir steht aber gerade nur der Überbringer der Nachricht zur Verfügung.«
»Na dann geht ausnahmsweise auch der Bote.«
Es klingelte. Er öffnete die Tür. »Guten Abend Frau Müller, kommen Sie doch bitte herein.« Sie winkte bescheiden ab: »Nein, nein, ich will Sie nicht stören. Ich wollte nur sagen, dass ich heute noch eine Schippe, eine Harke und noch einen Spaten zurückgelegt habe. Unser Hauptlager hatte noch einen kleinen Vorrat und den habe ich ihnen abgeschwatzt. Also können Sie am besten Montagabend kurz nach um sechs einfach wieder vorbeikommen.« Sie lächelte stolz und zufrieden. Gerda lachte zurück: »Danke Frau Müller. Aber wie können wir das wieder gut machen?« Sie winkte erneut ab: »Das ist schon gut. Sie haben so nette Kinder, da gibt man lieber denen etwas, die gut erzogen sind.« Dankeschön Frau Müller und noch einen schönen Abend und viele Grüße an ihren Mann.«
»Der ist heute Abend beim Fußball und ich genieße deshalb gerade die Ruhe.«
»Eine nette Frau.« sagte Gerda, als die Schritte von Frau Müller immer noch im Treppenhaus schallten.
*
»Wie sollen wir das schaffen?« Gerda wirkte überfordert, als sie am Samstag Mittag wieder an der Gartenhecke standen. Ihr Land war überwuchert von Unkräutern und nutzlosen Gewächsen jeder Art. Ein grüner Schrottplatz. »Ganz einfach. Wir fangen am Anfang an und hören am Ende auf. Denn eine Sache erledigt sich nicht dadurch schneller, wenn man lange drüber redet.« Dann begannen sie damit, die wuchernden Sträucher zu entfernen und auf einen großen Haufen zu legen. Er zog an den halbhoch gewachsenen Büschen und half mit dem Spaten nach, wenn sich die Wurzeln zu fest im Boden verankert hatten. Gerda zupfte am Unkraut, das sich nach Kräften wehrte, indem es sich in der Erde festklammerte. Heiko und Jana sammelten Kieselsteine in einen Drahtkorb.
Aus dem Garten auf der anderen Seite des Schotterweges sah ihnen ein Mann zu. Er blickte durch eine Hornbrille in die Welt. Der Zigarrenrauch verhüllte zeitweilig sein Gesicht. »Ihr seid wohl die mutigen Optimisten, die es mit dem Garten aufnehmen wollen?« Gerda unterbrach ihre Arbeit nicht ungern und entgegnete: »Wir lassen uns nicht so leicht unterkriegen.« Der Mann nahm dies als Einladung zu einem Gespräch entgegen und kam an die Gartenhecke. Der lockere Rauch seiner Zigarre folgte ihm wie der Dampf einer davon eilenden Lokomotive. »Da habt ihr euch aber was vorgenommen. Eure Vorgänger haben ziemlich schnell das Handtuch geschmissen.« Jetzt mischte sich auch Axel mit ein. Er drückte Knie und Rücken durch und kam an die Grenzbepflanzung gelaufen: »Wir sind ja nicht wie unsere Vorgänger. Und erst wenn es kompliziert wird, zeigt sich der Charakter.« Diese Worte zauberten ein Lächeln in das Gesicht des fremden Mannes in roter Sporthose aus Baumwolle. »Axel Weber.« sagte er freundlich und reichte die Hand über die vertrockneten Heckenbüsche, die auf seiner Kniehöhe das Wachsen eingestellt hatten. »Das ist meine Frau Gerda und die fleißigen Steinesammler da hinten sind unsere Kinder Heiko und Jana.«
»Schmidt. Dietmar Schmidt.« erwiderte er ebenso freundlich und drückte mit seiner Hand die Finger von Axel Webers rechter Hand zusammen. »Meine Frau Waltraud ist gerade in der Laube und kocht Mittag. Wir wohnen im Sommer das ganze Wochenende immer hier draußen. Das ist schöner als die staubige Neubaublockluft.« Axel stieg auf seine Worte ein: »Ja das ist eine echte Erleichterung.«
»Auf gute Nachbarschaft, Kollege Weber.«
»Auf gute Nachbarschaft, Kollege Schmidt.« Er runzelte die Stirn: »Und was wollt ihr denn jetzt eigentlich mit dem Garten anstellen?«
»Ein paar Beete und ein bisschen Rasen für die Kinder zum Spielen.«
»Und wo wollt ihr euer Werkzeug unterstellen?« Das war eine gute Frage. Denn jeden Tag immer alles mit dem Trabant nach Hause zu transportieren, das wäre ja aufwändig. »Darüber haben wir noch gar nicht nachgedacht. Aber einen Geräteschuppen brauchen wir dann wohl auch noch.«
»Zuerst könnt ihr eure Sachen mal bei mir unterstellen, wenn ihr wollt.«
»Das ist aber nett.« sagte er zu seinem neuen Gartennachbarn und nickte dann aufmunternd seiner Frau Gerda zu. »Wenn ihr eine Schubkarre braucht, kann ich euch gern meine ausborgen. Ich denke, sie wird momentan bei euch mehr Nutzen stiften als bei mir.«
»Nochmals danke.«
»Keine Ursache. Unter Gartenkollegen gibt es ein ständiges Geben und Nehmen zum Nutzen für alle Beteiligten.« ›Wie hieß diese Lebensform noch in der Biologie?‹ Axel grübelte und stieg tief in seine Gedanken an die Schulzeit hinab, bis es ihm endlich in den Kopf schoss: ›Eine Symbiose. Eine Lebensgemeinschaft zum gegenseitigen Vorteil.‹ Ihn umgab das wohlige Empfinden, auf einmal ein Element einer gut funktionierenden Symbiose geworden zu sein.