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Zambrinis Mansardenwohnung war ein wüstes Durcheinander aus Zirkusinventar, zerschrammten Sperrmüll-Möbeln, Plakaten, die ihn als Clown zeigten, und leeren Weinflaschen.

Dazwischen hing ein von einer gebogenen Halogenlampe angestrahltes Schwarzweißfoto, auf dem er in der Rolle des König Lear in Shakespeares gleichnamigem Stück am Wiener Burgtheater posierte – der Höhepunkt seiner schauspielerischen Karriere.

Seitdem hatte er seinen Job als Zirkusclown und Artist an den Nagel gehängt und bemühte sich nur noch um Rollen, die seinem wahren "schauspielerischen Rang" gerecht wurden.

"Was weißt du über das Verschwinden meiner Schwester, Hans?"

Zambrini trug das Kostüm König Lears, rezitierte aber aus 'Warten auf Godot', weil das, wie er behauptete, besser seiner augenblicklichen Seelenlage entsprach. Gorden erinnerte sich, schon während ihrer gemeinsamen Schuljahre in Ost-Berlin wenig Sinn für seine Kunst aufgebracht zu haben, aber jetzt, hier im Westen, machte er auf ihn nur noch den Eindruck eines Narren ohne Publikum.

"Ich habe auch erst auf der Party davon erfahren", beteuerte Zambrini. "Die Orlowsky muss es von irgendwem aufgeschnappt haben. Du warst sehr besorgt, es nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen."

"Und wie reagierte Stachus darauf?"

"Ich glaube, er war gar nicht da. Er ist kein Freund von Partys. Die meisten Leute reden ihm zuviel."

"Aber ich hatte die Orlowsky so verstanden, dass er ...?" Gorden versuchte vergeblich zwischen den beiden runden Beistelltischen mit Jonglierstäben und einem ausgestopften Seelöwen, der zwei bunte Wasserbälle über der Schnauze balancierte, einen Blick auf Zambrini zu werfen.

"Solange ich dort war, habe ich ihn nicht ein einziges Mal gesehen, und ich bin als einer der letzten gegangen."

"Dann muss sie sich wohl geirrt haben", sagte er nachdenklich.

Zambrini hielt mit dem schlurfenden Gang des Landstreichers inne, und glücklicherweise blieb er dabei genau zwischen den Tischen stehen.

"Kein Wunder bei dem Gedränge, da verliert man leicht den Überblick."

"Stachus scheint spurlos verschwunden zu sein."

"Was denn – wie deine Schwester?" Zambrini hatte die Königskrone abgenommen und sich Estragons verbeulten Hut aufgesetzt. "Sollte mich wundern, wenn das nur ein Zufall wäre."

"Ich würde mir gern mal Stachus' Wohnung ansehen. Aber das wird gar nicht so einfach sein. Er hat das Haus von seinen Eltern geerbt, sein Vater war Juwelier. Die Villa ist besser gesichert als manche Banken."

Zambrini blieb stehen und hob abwehrend beide Hände. Er wirkte so übertrieben theatralisch dabei wie immer. "Nicht mit mir, Mark. Wenn du darauf hinauswillst, dass ich mal als Zirkusartist gearbeitet habe ...?"

"Du bist doch wendig wie eine Katze. Es macht dir keine Schwierigkeiten, vom Garten auf den Balkon zu klettern. Seine Wohnung liegt im ersten Stock. Du öffnest uns von innen die Tür. Im Erdgeschoss sieht's noch genauso aus wie damals, als seine Eltern dort gelebt haben."

"Das wäre glatter Einbruch."

"Schließlich geht es um das Leben meiner Schwester, Hans. Vielleicht auch um das von Stachus. Ich muss herausfinden, was passiert ist."

"Wenn dieser Drucker wirklich wegen des Sonderdrucks beseitigt wurde, dann Gnade uns Gott. Dann sollten wir lieber die Polizei verständigen."

"Dazu fehlen uns die Beweise."

"Ich weiß nicht", sagte Zambrini. "Ich habe ein schlechtes Gefühl dabei. Und wenn das Haus überwacht wird? Diese Leute sind zu allem entschlossen – falls sie wirklich deine Schwester entführt haben."

"Wie soll ich sonst in Stachus' Wohnung gelangen?"

"Such dir einen anderen dafür."

"Es muss jemand sein, der eine Regenrinne hinaufklettern kann."

"Nein, kommt nicht in Frage."

"Heute Abend, nach Einbruch der Dunkelheit, Zambrini. Ich erwarte dich am Gartentor. Diesen Freundschaftsdienst bist du mir einfach schuldig. Ich werde jemanden mitbringen, der uns beim Suchen hilft."

Pamela arbeitete in der Küche. Nebenan pfiff der Wasserkessel, als er ihre Post auf den Tisch legte. Er war mit Straßenschuhen hereingekommen, und da er wusste, dass sie das nicht mochte, schlüpfte er schnell in die großen karierten Hauspantoffeln, die einmal ihrem Vater gehört hatten.

Dann nahm er das Geschenk, ein geschnitztes Holzpferd mit Ledergeschirr und Beschlägen aus Messing, ließ es aber noch im Karton, um Pamela zu überraschen.

Es würde hübsch aussehen und gut zur Einrichtung ihres Arbeitszimmers passen. Er hatte mit einer der Kreditkarten bezahlt, und dabei hatte er sich bemüht, aus dem Stegreif möglichst genau den Namen John Bertrand auf der Karte nachzuahmen.

Aber die Ladeninhaberin hatte seiner Unterschrift gar keine Beachtung geschenkt und das blaue American-Express-Formular einfach in die Kassenschublade geworfen.

Er war gespannt, was John Bertrand – falls er überhaupt existierte – beim Eingang der Rechnungen von seiner überraschenden Kaufwut denken würde, denn nach diesem Erfolg hatte er im Kaufhaus nebenan ein Paar teure Schuhe aus dunkelrotem Rindsleder, zwei Garnituren seidene Unterwäsche der Londoner Nobelmarke Sloters' und einen silbernen Sektkübel erstanden.

Oder versuchte man ihn mit dieser großzügigen Geste nur ruhigzustellen? War es ein Trick, um ihn zu beschwichtigen und ihn an seine neue Rolle zu gewöhnen? Wollte man ihm vielleicht mit den Pässen, den Scheckformularen und Kreditkarten, die er in den Papieren gefunden hatte, signalisieren, dass er zwischen einem guten Leben in der Anonymität und dem Tod wählen konnte?

Wenn er die Sache richtig verstand, war man bereit, auf diese Weise für sein Schweigen zu zahlen. Ob seine Annahme stimmte, würde sich spätestens dann herausstellen, wenn man ohne Widerspruch seine Rechnungen beglich und keine Anstalten machte, die Karte sperren zu lassen.

Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer war er, dass man diese Vorkehrungen nur für den Notfall getroffen hatte: für den Fall, dass er die Vergiftung überlebte.

Es muss ein Gift sein, das nicht oder nur sehr schwer nachweisbar ist, dachte er.

Er hatte das dumpfe Gefühl, mit einem Wagen gefahren zu sein, irgendwo in einer anderen Stadt.

Manchmal blitzte vor seinem inneren Auge das Bild einer nächtlichen Straße mit entgegenkommenden Autos auf …

Er sah die Lichter, die grellen Scheinwerfer, die auf ihn zujagten. Und dann verspürte er die unbändige Angst, mit seinem Wagen in den Gegenverkehr zu geraten. Das Gefühl war so übermächtig, dass er kaum noch seine Hände stillhalten konnte. Es war, als müsse er nach dem Lenkrad greifen, um es in letzter Sekunde herumzureißen ...

"Mark, was ist los mit dir ...?"

Gorden hörte Pamelas Stimme wie aus weiter Ferne. Er stand im Wohnzimmer, abwehrend die Hände erhoben, als müsse er einer entgegenkommenden Gefahr ausweichen, sie aufhalten, falls das überhaupt möglich sein würde. Seine Stirn war von kaltem Schweiß bedeckt.

"Mark ..."

Ihre Stimme, diese angenehm vertrauenerweckende Stimme, riss ihn in die Wirklichkeit zurück.

"Ich – es war ...", sagte er verwirrt, brachte aber keinen zusammenhängenden Satz heraus.

"Schon gut, es wird alles wieder gut." Sie legte ihren Arm um seine Schultern und brachte ihn zum Sessel.

"Was ist bloß los mit mir, Pamela?“, fragte er, als er sich gesetzt hatte. Sein Körper zitterte wie bei einem Anfall von starkem Schüttelfrost.

"Du sahst aus, als wenn du träumen würdest."

"Großer Gott, ich schlafe schon im Stehen. Was soll bloß aus mir werden?"

"Lass uns lieber einen Arzt rufen."

"Nein, das wäre nicht klug. Nicht in diesem Stadium. Ich muss herausfinden, was passiert ist. Ich brauche deine Hilfe, heute Abend." Er reichte ihr das eingepackte Holzpferd. "Wir wollen Stachus' Haus durchsuchen. Ich habe Zambrini dazu überredet, auf seinen Balkon hinaufzuklettern, er war mal Artist."

"Was ist das?“, fragte sie, als sie das Geschenkpapier geöffnet hatte. "Eine Waage?"

Er starrte verdutzt die hölzerne Waage in ihrer Hand an. Es war eine gleicharmige Balkenwaage mit dunkelbraun gebeizten Schalen. Über dem Mittelstab befand sich ein Ring, an dem man sie festhalten konnte, wenn sie nicht als Tischwaage benutzt wurde. "Die Verkäuferin muss sich geirrt haben", sagte er. "Ich hatte ein Holzpferd für dich ausgesucht."

"Bist du sicher, Liebling?"

"Es passte gut zur Einrichtung und hatte ein braunes Ledergeschirr."

"Vielleicht hat es etwas mit deiner Vergiftung zu tun?"

"Die Waage ...", sagte er nachdenklich. Sie schien irgendeine Bedeutung in seiner Vergangenheit zu haben. Vielleicht hatte er sich deshalb beim Geschenkkauf vergriffen? Ein Wink seines Unbewussten?

"Sie ist sehr hübsch. Ich werde sie auf den Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer stellen."

"Ich sollte sie lieber umtauschen und das Holzpferd nehmen", sagte er entschlossen. Er erinnerte sich noch deutlich an die Verkaufstheke. Im Regal hatten Holzfiguren und Messinggeräte gestanden. Ob auch eine Waage darunter gewesen war?

"Nicht, wenn wir das Rätsel lösen wollen. Kann es sein, dass sie die Waage der Justitia darstellen soll?"

Er musterte nachdenklich – fast ein wenig erschrocken – die beiden Holzschalen, sie waren mit dünnen Messingkettchen am Stab befestigt. "Hm, schon möglich. Zambrini sagte mir, ich sei vor der Wiedervereinigung in Ost-Berlin Bürgerrechtler gewesen."

"Warum sagst du das so abfällig, Mark? Dann gehörtest du zu denen, die die Wende bewirkt haben. Natürlich nur, weil Gorbatschow es politisch möglich gemacht hat", ergänzte sie.

"Ich weiß verdammt, noch mal, nicht, was ich davon halten soll", sagte er ärgerlich.

"Wir werden es schon noch herausfinden. Könnte es der Name eurer Organisation gewesen sein?"

"Ja, möglich – gute Idee. Die Waage, hm ..."

"Vielleicht findet sich ja in Kleins Wohnung ein Hinweis darauf?" hörte er Pamelas Stimme aus der Küche. Sie war hinübergegangen, um ihm einen schwarzen Tee aufzubrühen. Das Wasser im Kessel kochte schon. Kaffee machte die Sache nur noch schlimmer.

Schwarzer Tee dagegen wirkte beruhigend auf ihn, wenn er lange genug gezogen hatte, und schien seine Gedanken und Gefühle wieder in geordnete Bahnen zu lenken.

"Du wirst mir also helfen?“, fragte er.

"Weil ich schon immer etwas leichtsinnig war, wenn es um meine Liebhaber ging."

Gorden sah ihre etwas zu zierliche Gestalt mit dem dunkelblonden Haarschopf und der durchscheinend wirkenden Haut hinter der Durchreiche – sie stand genau unter dem Lampenkegel –, und ein warmes Gefühl der Sympathie durchflutete ihn bei ihrem Anblick. Es war gut, in seiner schwierigen Lage jemandem vorbehaltlos vertrauen zu können.

Bei diesem Gedanken erinnerte er sich daran, dass er nur deshalb die Dachterrasse aufgesucht hatte, weil er Pamela während seiner Besuche bei Stachus Klein schon seit langem beobachtete und in sie verliebt war, ohne ihr etwas davon zu sagen.

Das ist also der Grund, warum ich dort oben auf dem Dach mit Pamelas geblümter Sonnenliege gelandet bin, dachte er verwundert.

Wie ein Schlafwandler, als habe sein Unterbewusstsein ihn einfach und ohne weitere Umwege zu dem einzigen Menschen geleitet, von dem er Hilfe erwartete.

"Ich muss Stück für Stück meine Vergangenheit rekonstruieren, ich muss ganz von vorn anfangen, mit den einfachsten Dingen, und irgendwie habe ich das Gefühl, dass damit auch alle Fragen über Katjas und Stachus' Verschwinden beantwortet werden."

"Wenn du mir damit zu verstehen geben willst, dass es Einbruch ist?“, sagte sie und kam mit dem Tablett herein.

"Ich befürchte, es wird erst der Anfang sein."

Er probierte den Tee, den Pamela ihm eingegossen hatte, und sah sie erwartungsvoll an.

Die andere Schwester

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